Gerettete auf der Sea Watch 3: Kein Anspruch auf Anlandung in Italien
Kommentar: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangt lediglich, dass die 47 Migranten an Bord von der italienischen Regierung mit dem Nötigsten versorgt werden. Update: Die Migranten können in Italien von Bord gehen
Der Zugang zum Hafen von Syrakus bleibt dem NGO-Rettungsschiff Sea Watch 3 auch nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte versperrt. Der EGMR hat gestern, wie aus seiner Pressemitteilung hervorgeht, lediglich eine "Zwischenmaßnahme" verfügt.
Diese fordert von der italienischen Regierung, dass sie so schnell wie möglich alle notwendigen Maßnahmen trifft, damit die Personen auf dem Schiff medizinisch gut versorgt werden, Trinkwasser und Lebensmittel bekommen und andere Grundversorgung. Für die 15 Minderjährigen an Bord soll die italienische Regierung adäquate Rechtshilfe zur Seite stellen.
Die Nichtregierungsorganisation Sea-Watch hatte "im Namen der Crew und eines Geretten" ein Eilverfahren am EGMR gestartet, um das Anlanden an der italienischen Küste, das Innenminister Salvini kategorisch verwehrt, mit einer Entscheidung des Gerichtshofs für Menschenrechte zu erzwingen.
Ob es möglich gewesen wäre, derart in die Innenpolitik eines Landes einzugreifen, ist eine interessante Frage, der das Gericht aber ausgewichen ist: "In seiner Entscheidung gewährte das Gericht nicht die Forderung der Antragssteller, dass sie anlanden können."
NGO: "Blockadepolitik, die Grundrechte verletzt"
Aus Sicht der deutschen NGO handelt es sich seitens der italienischen Regierung um eine Blockadepolitik, die einer "anhaltenden Verletzung der Grundrechte" gleichkommt. Bislang hat ihr Schiff Sea Watch 3, das 47 aus Seenot gerettete Migranten an Bord hat, von der italienischen Regierung nur das Entgegenkommen erhalten, angesichts der harten Wetterbedingungen eine Seemeile vor der sizilianischen Küste zu ankern.
Die 47, darunter 13 Minderjährige ohne Eltern, waren am Samstag, den 19. Januar, nach Angaben von Sea-Watch "in internationalen Gewässern nördlich von Zuwara, Libyen, von einem Schlauchboot in Not gerettet" worden.
Bekanntlich gibt es darüber, in wessen Zuständigkeit die Zone des Mittelmeers fällt, in der Menschen aus Seenot gerettet werden, notorisch Streit. Schon unter Salvinis Vorgänger wurde die Search-and-Rescue-Zone, für welche die libysche Küstenwache zuständig sein soll, weit ausgedehnt, ohne dass dies rechtlich fundiert abgesichert ist.
Dazu kommt, dass die libysche Küstenwache auch diese Grenzen nicht wirklich genau nimmt. Was NGOs als internationales Gewässer bezeichnen, wird von der libyschen Küstenwache als Zuständigkeitsgebiet reklamiert. Unverkennbar ist dies eine politische Angelegenheit. Die Küstenwache wird mit sehr viel Geld von Italien und der EU unterstützt.
Dubiose Figuren
Unter den Geschäftspartnern Italiens und der EU finden sich nicht selten dubiose Figuren, die mit Milizen und mit Schleusern in Verbindung stehen. Es gibt aber auch ab und an Meldungen und Beobachtungen, wonach sich Mitglieder der libyschen Küstenwache korrekt verhalten haben. Die libysche Küste ist lang, die Zuständigkeiten sind auf unterschiedliche Gruppen verteilt, die lokalen Machtverhältnisse spielen eine große Rolle, zumal wenn es um EU-Geldtöpfe geht.
In den letzten Wochen hat die libysche Küstenwache allerdings für sehr schlechte Schlagzeilen gesorgt. Sie bestätigte Befürchtungen, wonach sie ihren Pflichten in der S&R-Zone sehr fahrlässig vernachlässigt, dass sie Notfälle übersieht oder vielleicht gar ignoriert. Für letzteres spricht, dass bei einem Notfall Anfang Januar nicht einmal die Telefone besetzt waren. Es gab zwei Notfälle, die mit wahrscheinlich 170 Toten endeten.
Salvinis Härte
Das hängt mit der Politik der Härte des starken Mannes in der italienischen Regierung zusammen. Salvini hat die Seenotrettungsleitstelle in Rom, die zuvor Anlaufstelle und Koordinationszentrum für Rettungsaktionen im Mittelmeer war, aus der Verantwortung genommen. Sie ist dafür nicht mehr kompetent und weist den NGO-Schiffen anders als zuvor, keinen sicheren Hafen mehr zu. Diese Maßnahme gehört zu Salvinis Politik, die ganz eindeutig gegen den Einsatz der Nichtregierungsorganisationen gerichtet ist. Das hat aber Gründe, die mit der politischen Einordnung, wonach Salvini "rechts und rassistisch" ist, nicht erledigt sind.
Das Verhalten der EU führte dazu, dass einzig Italiens Häfen über Jahre hinweg von Rettungsschiffen angelaufen wurden, um dort die geretteten Migranten anzulanden. Die Folge waren innenpolitische Schwierigkeiten. Die trugen maßgeblich mit dazu bei, dass die Lega Nord und die 5-Sterne-Bewegung - die zuletzt auch auf einen Härtekurs gegenüber Migranten umgeschwenkt ist - die Mehrheit bei den Parlamentswahlen erhielten. Die anderen EU-Länder haben sich darum nicht um die politische Situation in Italien gekümmert, sie sträubten sich, die Migranten aufzunehmen.
Auch die "humane Politik" Merkels kümmerte sich nicht. Die Kanzlerin räumte zwar ein, dass man Anfang der 2000er Jahre angesichts der Migration nach Spanien nach der Maßgabe vorging, dass das kein deutsches Problem sei, aber für was dann Jahre später Italien anging, so gab es anscheinend keine Erfahrung, aus der man hätte lernen können.
Resultat aus dieser Vorgeschichte ist, dass Salvini nun jedes Mal, wenn ein NGO-Schiff mit Geretteten an Bord Zugang zu einem sicheren Hafen fordert, insistiert, dass jetzt nicht mehr Italien, sondern andere Länder dafür zuständig sind. Da die Sea-Watch 3 unter niederländischer Flagge fährt und die NGO aus Deutschland stammt, weist er das Problem diesen beiden Ländern zu. Das ist völlig nachvollziehbar.
Unsouveräne Regierungen
Aus derselben politischen Taktik heraus sträuben sich aber diese beiden Länder wie auch andere EU-Länder. Die Taktik heißt: Bloß keine Stellungnahmen zur Migrationspolitik abgeben, die als Einladungen verstanden werden können. Sehr ist darauf zu achten, dass kein weiterer Unmut in der Bevölkerung verursacht wird, der Wählerstimmen kosten kann. Dabei hält man den Blick fixiert auf die Seite derjenigen, die Populisten wählen könnten, ohne sich aber genauer mit deren Lebensumständen zu befassen (eine Ignoranz, die sich übrigens auch beim Warn-Aufruf "gegen Populisten, für die EU" der 30 tatsächlich meist guten, hier und da sogar auch exzellenten, aber politisch völlig verschlafenen, inkompetenten Schriftsteller und Philosophen zeigt).
So können sich die großen EU-Taktgeber Deutschland oder Frankreich nicht dazu entscheiden, 47 Migranten einen sicheren Hafen zu gewähren. Sie fürchten damit das falsche Signal zu geben. Das ist Kleinmut und nichts anderes; ein untrügliches Zeichen dafür, wie unsouverän beide Regierungen sind, wie dünn "das Eis ist, auf dem sie gehen" (das sagte Macron dieser Tage zu seiner Situation).
Unterstützung der Städte
Die Härte wird im aktuellen Fall noch deutlicher dadurch, dass es sehr wohl Unterstützung für die Aufnahme der Migranten in italienischen Städten gibt. In Genua kam es kürzlich zu einer größeren Solidaritätsdemonstration. Die Bürgermeister von Catania und Syrakus erklärten sich bereit, die Migranten anlanden zu lassen. Doch bleibt Salvini bei seinem kategorischen Nein.
Politisch ist das aus den genannten Gründen nachvollziehbar - "human", was sich Salvini gerne als Etikett anlegen würde, ist das keinesfalls. Mit seiner Politik werden die Migranten zurück in Lager geschickt, wo sie ohne jede Achtung vor Menschenrechten behandelt werden und dem Risiko übelster Gewalt ausgesetzt sind. Salvini weiß das.
Intrigante Rhetorik
Salvini bedient die intrigante Rhetorik von den Seenotrettungshelfern als Taxis und unterstellt ihnen damit eine Kooperation mit Schleusern. Genau diesen Vorwurf kann man auch der italienischen Abschottungspolitik machen, von der die Milizen doppelt profitieren, durch EU-Gelder und "Einnahmen" aus den Lagern. Es ist eine indirekte Hilfe.
Zwar gab es zuzeiten des Innenministers Minniti angeblich Nachweise, dass es auch zu direkten Abmachungen mit hohen Geldzahlungen zwischen italienischen Unterhändlern und libyschen Milizen kam, die ohne jede Rücksicht auf Menschenleben vorgehen, aber die Nachweise waren nicht so solide, überzeugend oder verlässlich, dass sie weite Verbreitung in maßgeblichen, reichweitenstarken Publikationen gefunden hätten.
Ganz ähnlich bei den Vorwürfen der angeblichen Kooperation zwischen den NGOs und den Schleusern. Wären die Beweise dafür stichhaltig, hätten sie längst zu entsprechenden Gerichtsurteilen führen müssen. Denn Klagen dazu gab es, in Sizilien zum Beispiel, von Verurteilungen hat man aber nichts gehört. Laut ist die Gerüchtemaschine und leicht die Anfeindungen und Rezepte wie "Einfach nur Zurückschicken".
Unübersehbar ist allerdings auch, dass sich zu Zeiten einer hohen Präsenz von NGO-Rettungsschiffen vor der Küste Libyens deutlich mehr Boote mit Flüchtlingen, die nach Europa wollen, auf den riskanten Weg gemacht haben. Die NGOs haben sich dieser Diskussion nur sehr beschränkt gestellt. Politische Konsequenzen, die damit zu tun haben, wurden ausgeblendet. Man achtet darauf, sich nicht die Finger mit schmutziger Politik zu beflecken. Bei ihren Bildern wird auch deutlich, wie viel PR-Arbeit dahinter steht.
Es geht ihnen ums Leben retten, sagen sie. Das ist Teil einer größeren Diskussion, bei der es genauer gesehen ebenfalls darum geht.
Update
Gegen Mittag wurde heute, am 30. Januar, bekannt gegeben, dass die 47 Migranten nun doch in Italien an Land gehen können, wie die Tagesschau berichtet: "Man habe mit sechs weiteren EU-Staaten eine Einigung über ihre Aufnahme erzielt, sagte Regierungschef Giuseppe Conte. 'In den kommenden Stunden' könnten die Menschen von Bord gehen." Mit Berufung auf italienische Medienberichte wurden neben Italien, Luxemburg, Deutschland, Frankreich, Portugal, Malta und Rumänien als Aufnahmeländer genannt.
Angemerkt werden soll, dass sich Italien in jedem dieser Fälle in den letzten Wochen, bei denen NGO-Schiffe darauf warteten, dass sie mit Migranten an Bord an einem sicheren Hafen anladen können, als Aufnahmeland für einen Teil der Migranten zur Verfügung gestellt hat.