Geschlossene Leserforen bei Spiegel Online

Seite 2: "Hate Speech" als Vorwand?

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Doch Streitz widerspricht: Das Thema Nutzerkommentare liege ihm "und der ganzen SPON-Chefredaktion tatsächlich sehr am Herzen". Aber warum dann die Einschränkung, insbesondere bei heiklen Themen? Sind Beleidigungen und Respektlosigkeit tatsächlich so vorherrschend in den Kommentaren? Oder ist das bloß ein Vorwand? Streitz dementiert: Nein, "Hate Speech" sei keine Ausrede, sondern "ein wirkliches, bedrohliches, außer Kontrolle geratenes Phänomen". Die Nachfrage, ob es zu der unterstellten massiven Zunahme sogenanner "Hate Speech" im SPON-Forum überprüfbare Zahlen gäbe, oder ob es sich eher um einen persönlichen Eindruck handle, ließ er unbeantwortet.

Keine Antwort gab es auch auf die Frage, wie man bei SPON den Begriff "Hate Speech" überhaupt definiere. Der Terminus ist in Mode gekommen und ebenso wie bei "Fake News" - oder beim Klassiker "Verschwörungstheorie" - fehlen die klaren Kriterien für eine Abgrenzung zur legitimen Polemik bzw. zur Meinung oder Kritik.

Die Unschärfe, der Graubereich, scheint gewollt zu sein. Denn de facto werden diese Begriffe benutzt, um unerwünschte Äußerungen pauschal abzuwerten. Wer "Fake News", "Verschwörungstheorie" oder "Hate Speech" sagt, der möchte Texte löschen oder zumindest mit dem Makel des Anstößigen versehen - ob zurecht oder nicht, sei dabei dahingestellt.

Dass Begriffe wie "Fake News" und "Hate Speech" in den Leitmedien so populär geworden sind, hat sicher einiges mit deren fortschreitendem Glaubwürdigkeitsverlust zu tun. Die Auflagen der großen Zeitungen sinken, der Einfluss und die Verbreitung der kritischen bis ablehnenden Stimmen hingegen wachsen. Die naheliegende Lösung, die "Störer abzuschalten", wirkt dabei kurzsichtig. Denn die legitime Kritik (aber auch die Hetze) verschwinden ja nicht dadurch, dass sich die Leitmedien "Augen und Ohren zuhalten" und ihre eigenen Portale für Leserkommentare zunehmend schließen.

Zudem bietet der Ton in den Leserforen ein oft unverstellteres Abbild der Wirklichkeit, ähnlich wie Gespräche am Stammtisch oder in der Kantine. Gerade deswegen lesen viele ja in Foren: um zu erfahren, was andere Leute (die keine Journalisten sind) denken, welche Emotionen sie bewegen, welche Argumente auf den Tisch kommen. Wozu sonst braucht es ein Leserforum? Zur Selbstbestätigung der Redaktion wohl kaum. Wer die Kommentierbarkeit einschränken möchte, weil der Ton so rau ist, der negiert, dass es eine Sphäre außerhalb der Medienwelt gibt, in der man sich, angesichts heftiger politischer und sozialer Umbrüche, nicht immer brav und höflich wie in einem Uni-Seminar äußert.

Natürlich ist keine Zeitung verpflichtet, jeden Kommentar zu veröffentlichen. Aufrufe zur Gewalt und Volksverhetzung sind sowieso strafbar (§ 111 und § 130 StGB), ebenso wie Beleidigung (§ 185 bis § 200 StGB). Doch es wird eben nicht mit geltendem Recht argumentiert, sondern mit unscharfen und juristisch irrelevanten Begriffen, wie dem erwähnten "Hate Speech".

Medien als politische Akteure

Wie schon erwähnt, betont die SPON-Chefredaktion, das Abschalten habe vor allem damit zu tun, "dass die Frequenz kontroverser Themen, die extrem problematische bis unsendbare Kommentare anziehen, in den vergangenen Jahren zugenommen hat". Doch was heißt das nun? Im Grunde sagt SPON damit, dass man frei geäußerte Leserkommentare, also ungelenkte Debatten, eigentlich nur "bei schönem Wetter" möchte. Die Diskussionen dürften sozusagen "nicht aus dem Ruder laufen", die Leser sollten sich doch bitte nicht so aufregen.

Und an dieser Stelle wird es seltsam. Denn so würden unabhängige und unparteiische Medien, die ja nach allgemeinem Verständnis gerade gesellschaftliche Konflikte beleuchten, eigentlich nicht argumentieren. Eher würde man solche Überlegungen von Unternehmens- oder Regierungssprechern erwarten, die öffentliche Konflikte nach Möglichkeit zu vermeiden suchen und die um ein gutes Image einer höheren Instanz besorgt sind.

Und da liegt dann vielleicht auch der Kern des Problems. Medien werden von einem großen Teil des Publikums inzwischen als politische Akteure wahrgenommen. Journalisten, so der Eindruck, orientieren sich immer mehr an bestimmten Narrativen, also an moralisch wertenden Sichtweisen auf das politische Geschehen. Herr X ist gut, Herr Y böse, der eine ein Freiheitskämpfer, der andere ein Terrorist. Russland bedroht den Westen, Trump die Demokratie, Griechenland muss sparen.

Solche Narrative werden zu Leitbildern, andere Sichtweisen fallen unter den Tisch, ganz so, wie es in der PR-Branche üblich ist, wo es um Verkaufen geht und nicht um allseitige Information. Der Politikwissenschaftler und Medienkritiker Ulrich Teusch meinte dazu jüngst in einem Fernsehinterview mit ARD Alpha:

Es gibt ein Trump-Narrativ, es gibt das Russland-Narrativ, (…) es gab im Vorfeld des Irakkriegs 2003 das Irak-Narrativ, es gab das Libyen-Narrativ usw. usf. Um das mal ganz deutlich zu sagen: Ich kann verstehen, dass sich Politiker Narrative ausdenken, wenn sie irgendetwas erreichen wollen. (…) Dass Journalisten Narrative akzeptieren und bedienen, halte ich für einen unglaublichen Verstoß gegen die journalistische Ethik. Ein Journalist, der sich einem Narrativ fügt, oder ein Journalismus, der sich einem Narrativ fügt, ist ein Widerspruch in sich selbst.

Ulrich Teusch

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