Geschwächter Westen: Die große geoökonomische Zeitenwende
Seite 2: Atomenergie und russisches Uran
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Fairerweise für den Westen sei gesagt, dass Staaten wie Deutschland sich der Rohstoffabhängigkeit seit Langem bewusst sind und deshalb die Energiewende einleiteten. Das Embargo gegen russische Energieträger kann jetzt ohne die Reanimierung von Kohle und Atomenergie jedoch nicht ausgeglichen werden.
Der Atom- und Kohleausstieg wird in Europa vertagt – mit verheerenden Folgen für die weltweite Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Ein noch radikalerer Umstieg auf grüne Technologien, wie Solarenergie und Windkrafträder, wird nicht funktionieren, weil für ihre Herstellung tonnenweise Rohstoffe benötigt werden.
Ein Land wie Kanada, auf dem die europäischen Hoffnungen jetzt ruhen, ist nicht in der Lage, die Rohstofflieferungen aus Russland und China auszugleichen. Um aus der russischen Abhängigkeit herauszukommen, fordern Politiker eine Rückkehr zur Atomenergie.
Die USA und die EU sind von größeren Uranlieferungen aus Russland abhängig. Russlands Staatsunternehmen Rosatom dominiert den Weltmarkt. Rosatom ist der zweitgrößte Uranproduzent der Welt. Es verfügt über 15 Prozent an der globalen Förderung. Gemeinsam mit Kasachstan beherrscht Russland fast 40 Prozent des Weltmarktes.
Bei der Herstellung von angereichertem Uran, das für den Betrieb von Atomkraftwerken benötigt wird, ist die Abhängigkeit noch größer: Über ein Drittel des weltweiten Bedarfs kommt aus Russland. Auch die noch laufenden deutschen AKW werden zum großen Teil damit betrieben. Die EU bezieht 20 Prozent des Urans aus Russland, weitere 19 Prozent kamen von Russlands Verbündetem Kasachstan.
Die Betreiber von Kernkraftwerken fordern daher die US-Regierung auf, keinen Importstopp für russisches Uran zu verhängen. In den USA werden rund 20 Prozent des Stroms mit Uran aus Russland und seiner Verbündeten Kasachstan und Usbekistan erzeugt. Nur durch die günstige Einfuhr von Uran als Brennstoff können die Strompreise in den USA auf niedrigem Niveau gehalten werden.
Auch der Krieg in Mali ist eng mit der Rohstoffzufuhr für den Atomstaat Frankreich verbunden. In Mali lagern große Uranvorkommen. Dass Frankreich aus Mali nun ausgerechnet von Russland verdrängt wird, ist ein weiteres Moment der gegenwärtigen Rohstoffkriege.
Der Konflikt um Gas
Das ökologisch sauberere Erdgas wird nicht mehr als goldener Brückenenergieträger beim Übergang zu erneuerbaren Energien dienen. Das russische Erdgas gewann seine dominante Stellung in der grünen Energiewende. Da Wind- und Solarenergie flatterhaft sind, braucht man regelbare Kraftwerke. Die Kohle- und Atomkraftwerke wollte die Politik abschalten, also blieb nur das Gas.
Die unheilvolle Abhängigkeit vom russischen Erdgas ist auch ein Kollateralschaden einer unbedacht organisierten Energiewende. Produzenten und Konsumenten setzen Erdgas als Waffe ein. Die USA, die Russland dafür kritisieren, tun es selbst, die EU auch. Die USA versuchen seit Jahren, den Europäern den Gashandel mit Russland zu untersagen.
Dabei wollen sie selbst zum Hauptversorger Europas mit Flüssiggas (LNG) werden. Nach der russischen Invasion in der Ukraine hat der Westen ein Embargo gegen russisches Öl und Kohle beschlossen und durch die Sperrung von Nord Stream 2 den russischen Gashandel sanktioniert.
Die Ukraine und Polen haben wichtige Gazprom-Routen für Lieferungen nach Europa geschlossen – als Waffe gegen Russland. Und Moskau antwortete mit der Drosselung des Gasexports durch Nord Stream 1.
Die Gefahr eines Engpasses bei Gas wurde in Deutschland zu spät erkannt. Deutschland wollte sich zunächst vom russischen Gasimport vollständig lösen. Berlin dachte, so die russische Wirtschaft beschädigen zu können. Doch nun stellt Deutschland seine Abhängigkeit vom russischen Gas fest. Die deutsche Industrie würde ohne russische Gaslieferungen zusammenbrechen.
Der Gaskonflikt nimmt immer größere Ausmaße an. Europa ringt um eine Alternative zu russischem Gas, ansonsten droht den Europäern die Kälte. Gleichzeitig kommt es in Bangladesch und Pakistan zu Stromausfällen. Der Grund für den Strommangel in den Entwicklungsländern liegt in Europa.
Die europäische Nachfrage nach Flüssiggas steigt sprunghaft. Europa ist bereit, dafür jeden Weltmarktpreis zu überbieten. Europa saugt das gesamte LNG aus der Welt auf und in Asien gehen die Lichter aus.
Wie weiter mit Sanktionen?
Die Frage lautet, ob der Westen sich genötigt sieht, die Russlandsanktionen wieder aufzuheben. Die Politik wird zwar dagegen sein, aber Tatsache bleibt, dass die Sanktionen gegen Russland nicht zum Zusammenbruch der russischen Wirtschaft geführt haben, wohl aber zum Ende der Globalisierung.
Keine Frage, die Sanktionen schaden Russland. Nach russischen Angaben ist das BIP des Landes nach Ausbruch des Krieges um 4 Prozent eingebrochen; erwartet wird ein Rückgang von 7 Prozent. Die russischen Steuereinnahmen aus Importen sind um 44 Prozent zurückgegangen, was zeigt, dass die Parallelimporte nicht funktionieren.
Die russischen Lagerbestände sind nahezu aufgebraucht. Der Einfuhrstillstand würgt die Wirtschaft ab, auch weil Russland 30 Jahre lang die eigene Industrie vernachlässigt hatte, im Glauben, sich auf billigere Westimporte verlassen zu können. Experten sagen voraus, dass Russlands Wirtschaft in die Mangelwirtschaft der 1990er Jahre zurückgeworfen werden dürfte.
Der Westen ist, entgegen vieler seiner Aussagen, nicht an einem Komplettbruch mit Russland interessiert. Den Gaseinkauf gestalten europäische Konzerne in Rubel, wie es die russische Regierung fordert. Der Westen wird auch den russischen Nahrungsmittelexport, so wie den Uranexport, von der Sanktionsliste nehmen. Vielleicht wird in Zeiten akuten Gasmangels Nord Stream 2 doch noch in Betrieb genommen?
Jedenfalls reift im Westen die Erkenntnis, dass Sanktionen dem eigenen Wohlstand nicht mehr schaden dürfen als dem Gegner. Das westliche Energieembargo hat den Geldfluss an Petrodollars nach Russland nicht gemindert. Im Gegenteil! Der Preisanstieg durch die künstlich herbeigeführte Verknappung hat Russlands Staatskasse wieder gefüllt.
Allerdings wird Russlands Rechnung, dass der Westen die Sanktionen schnell fallen lässt, nicht aufgehen. Russland geoökonomische Vorteile gegenüber dem Westen sind kurzfristiger Natur. Europa ist, trotz seiner Schwächen, sehr widerstandsfähig.
Die EU kann es mit einer enormen Kraftanstrengung bis 2050 schaffen, sich von fossilen Energiestoffen zu lösen und die eigenen Volkswirtschaften auf grüne Technologien umzustellen. Das auf reinen Rohstoffexport fixierte russische Wirtschaftsmodell ist der westlichen Marktwirtschaft letztlich unterlegen.
Ein vorläufiges Fazit
Die Welt wird Zeuge von bahnbrechenden geopolitischen Machtverschiebungen, wie man sie 1815, 1919, 1945 und 1991 sah. Es drohen permanente Konflikte, die entweder mit einem Sieg des demokratischen Westens gegen den Block der autoritären Staaten enden werden, oder in einer neuen Machtverteilung in einer wirklich multipolaren Weltordnung münden.
Die alte Ordnung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den europäischen und den Weltfrieden mehr oder weniger garantiert hatte, ist definitiv zu Ende. Die geoökonomischen Folgen des Weltumbruchs sind für alle Seiten schmerzhaft. Das Leben wird teurer, der Wohlstand ist kaum aufrechtzuerhalten.
Statt Handelsverflechtungen kommt es zu einer Militarisierung in Europa und Asien. Die 100 Jahre alt werdende Politikerlegende Henry Kissinger prognostiziert einen möglichen Krieg der USA und des Westens mit China und Russland. Solange jede konkurrierende Seite vom eigenen Sieg und der Niederlage des Gegners überzeugt ist – und diesen Sieg als moralisch zwingend für sich erachtet –, werden Abrüstung und Entspannung nicht funktionieren.
Prof. hon. Alexander Rahr, geb. 1959, ist Historiker, Buchautor, u. a. "Der 8. Mai. Geschichte eines Tages" (2020), Senior Research Fellow des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik