Geschwächter Westen: Die große geoökonomische Zeitenwende

Bild: Kurz vor Mitternacht in London, Reuters Plaza. Bild: alexandru vicol / Unsplash Licence

Erst seit dem Ukraine-Krieg realisiert man in Europa die Abhängigkeit vom eurasischen Raum. Russland und China kontrollieren zunehmend Handelsrouten nach Europa. Drohen permanente Konflikte?

Der Krieg in der Ukraine wurde zum Katalysator für eine radikale Zeitenwende in der Geopolitik und der Geoökonomie. Selten hat die Weltpolitik, ausgelöst durch ein monumentales Ereignis, innerhalb solch kurzer Zeit so tiefgreifende Veränderungen erfahren.

Nach einem Viertel des 21. Jahrhunderts ist klar, dass sich der Übergang von einer unipolaren, westlich dominierten Weltordnung zu einer multipolaren nicht friedlich gestalten kann. Die nicht-westlichen Mächte kämpfen für eine multipolare Weltordnung, für den Westen ist das eine ernsthafte Bedrohung.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Monatszeitschrift Welttrends.

In dieser globalen Auseinandersetzung gibt es keinen Gewinner. Der Westen bleibt ein geeinter, aber geschwächter Machtblock. Daneben entsteht ein zweiter Machtblock mit "Eurasischen Allianzen", getragen von autoritär regierten Mächten wie China, Russland, Indien, Türkei, Iran und Nordkorea.

Die Weltpolitik steht vor einer längeren globalen Auseinandersetzung zwischen Werte-Ideologien und Systemen, vor dem Zerfall der Welt in unterschiedliche Wirtschafts-, Rechts- und Werte-Räume. Dies wird Jahrzehnte dauern.

Der Westen hat erst spät begonnen, die geoökonomischen Folgen des neuen Weltkonflikts zu berechnen. Russlands Angriffskrieg hat Europa in eine dramatische Energiekrise gestürzt. Es explodieren nicht nur die Strom-, Gas- und Ölpreise, es steht die gesamte Versorgungssicherheit des Industriestandorts Europa auf dem Spiel. Die Inflation ist außer Kontrolle und die Rezession bedroht Millionen Arbeitsplätze.

Regionalisierung statt Globalisierung

Die Welt geht dem Ende der Globalisierung entgegen, begleitet von Machtverschiebungen im Regelwerk von WTO, OECD, Weltbank und IWF. Die Zukunft der UNO als Hüterin des Völkerrechts steht auf dem Spiel. Die Weltwirtschaft steht vor einer dramatischen Regionalisierung.

Die BRICS-Staaten – ein Verbund, in dem Russland und China dominieren – kontrollieren inzwischen ein Viertel der Weltwirtschaft und haben zu den USA und der EU deutlich aufgeholt. Die westliche Bevölkerung macht nur ein Siebtel der Weltbevölkerung aus, verglichen mit 41 Prozent in den BRICS.

Die demographische Entwicklung schwächt den Westen. Der Wunsch der USA, unterstützt von der EU, Hegemonialmacht zu bleiben, ist nicht mehr aufrechtzuhalten. Regionalisierung lautet das Schlagwort der Weltwirtschaft.

Die Entflechtung Europas und Asiens wurde zwar schon in der Pandemiephase sichtbar, doch niemand dachte, dass sie sich so konfrontativ gestalten würde. Der bisherige friedliche Ordnungsrahmen, in dem Rohstoffproduzenten und Rohstoffkonsumenten zivilisiert miteinander umgegangen sind, gehört der Vergangenheit an.

Der Besitz an Rohstoffen, die Rohstoffabhängigkeiten, die Kontrolle über die technologische Förderung von Rohstoffen und über die Rohstofftransportrouten – all dies wird zu wichtigen Waffen in der Auseinandersetzung.

Wer kontrolliert die Rohstoffe?

Die Kontrolle über die Rohstofftransitrouten dürfte zu der militärischen Herausforderung im 21. Jahrhundert werden. China und Russland haben sich strategisch gut positioniert. Russland hat in Europa und Asien eine Infrastruktur für den Gashandel geschaffen und wird in Zukunft die Haupttransportroute zwischen Europa und Asien – auch die zunehmend eisfreie Nordost-Passage – kontrollieren.

Wenn der Westen nicht aufpasst, sind alle Handelswege zwischen Europa und Asien bald in chinesischer bzw. russischer Hand. Tatsache ist, dass Europa strukturell abhängig von Rohstofflieferungen aus anderen Erdteilen bleibt. Insbesondere bei der Veredelung der Metalle kommt Europa nicht an China vorbei. Doch die Frage, wer in der Welt mächtiger wird – Staaten, die über Energie- und Rohstoffhandel herrschen, oder Staaten mit höher entwickeltem Modernisierungspotential – ist nicht beantwortet.

In den vergangenen 500 Jahren fiel die Antwort eindeutig aus: Niemand bezweifelte die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens. Doch die globalen Spielregeln ändern sich. Möglicherweise hat Putin diesen Umstand früh erkannt und eiskalt ausgenutzt. In der Not werden, wie in der Pandemiebekämpfung, alte Prinzipien über Bord geworfen. Die Europäer kehren zum Fracking-Verfahren Europa bei der Erdgas- und Erdölversorgung zurück.

Europa will alle notwendigen Seltenen Erden – koste es was es wolle – aus dem eigenen Boden fördern. Man fordert eine Renaissance der Bergbauindustrie in Europa. Die Veränderung der europäischen Landschaft durch den rasanten Ausbau von Windkrafträdern löst seit Jahren Proteste aus. Und wenn es in Folge des Frackings zu Erdbeben kommt, wie in den Niederlanden?

Zur nüchternen Feststellung gehört: Russland wird zwar aufgrund der Sanktionen den ausbleibenden Technologieimport aus dem Westen mit dem Wohlstandsverlust teuer bezahlen. Doch den Westen wird der Wegfall von Rohstoffen sowie der Verlust von Exportmärkten und der Verzicht auf Billigproduktion ins Mark treffen.

Die geoökonomischen Verwerfungen werden für alle Seiten schmerzhaft sein. Wegen Rohstoffen kommt es zu Kriegen. In Bezug auf das Erdöl war dies in der jüngsten Geschichte schon oft der Fall. Bezeichnend ist der Krieg in der Ukraine. Sollte es Russland gelingen, die Ostukraine ganz zu erobern, würde Kiew zwei Drittel seiner Bodenschätze verlieren.

Russland hat die Ukraine vom Schwarzen Meer abgeschnitten und kontrolliert mittlerweile rund 63 Prozent der ukrainischen Kohle, elf Prozent des Öls, 20 Prozent des Erdgases, 42 Prozent der Metalle und 33 Prozent der Seltenen Erden. Die Ostukraine ist eines der mineralienreichsten Gebiete in Europa. Neben den riesigen Kohlevorkommen gibt es dort Titan- und Eisenerzvorkommen, die zu den größten Reserven der Welt zählen.