Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung
Seite 3: Extremismus als Erlebniswelt
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Extremistische Positionen finden gerade darum heute breiten Zuspruch, weil der Extremismus der Mitte nicht mit altmuffigen Hierarchien daherkommt. Es wächst eben nicht das lineare Verlangen nach einer Umkehr zu "alten Ordnungen", wie das Werner A. Perger in Die Zeit in Anlehnung an Ralf Dahrendorf formuliert, wenn man sich auch nach Gewissheiten sehnt. Der Extremismus und auch der Extremismus der Mitte, und beides bedingt sich gegenseitig, bieten vielmehr Platz für selbstoptimierenden Individualismus.
Der Extremismus profitiert geradezu von jenen Fragmentierungen und Überlappungen, die erst aus den Strukturbrüchen der "partizipatorischen Revolution" (Max Kaase) der 60er Jahre hervorgegangen sind. Dagegen baut die extreme Rechte zwar offiziell ein theoretisches Gerüst auf, es öffnet dem Extremismus aber trotzdem Tür und Tor. Durch jene Überlappungen und Überschneidungen ist der Extremismus schließlich immer weniger als solcher erkennbar, extreme Positionen konnten sich so auch in die Mitte verlagern.
Die große Unüberschaubarkeit brachte nicht nur breite Verunsicherung ins Land und auf die Dörfer, von der der Extremismus der Mitte heute profitiert. Der Extremismus und gerade der Extremismus der Mitte sind im Gegensatz zum Extremismus der Mitte Hitlerscher Zeit auch an der Demokratie geschult und am Individualismus erprobt.
Denn im Argumentationswinkel der Demokratie weiß man mittlerweile sehr wohl, dass biologisch induzierte und allzu offensichtliche Rassismen nicht wie ein Ball aus dem Seitenaus in die demokratische Spielhälfte geworfen werden. Soviel konnte man in einem halben Jahrhundert Demokratieerziehung lernen. Das ist am rechten Rand genauso angekommen wie im politisch korrekten Mittelfeld. Darum ist es auch kaum verwunderlich, dass sich heute ein Großteil der Bevölkerung politisch dieser "Mitte" zuordnet, sich teils gar gegen Rechts stemmt, dennoch rassistisch-chauvinistisch argumentiert.
Gerechtfertigt wird das dann in der Regel mit Verweis auf die Probleme am Arbeitsmarkt und einer Unvereinbarkeit von Kulturen. Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollen Migranten eben gehen und zwischen den Kulturen knallt es ohnehin. Wenn das dann auch ein Großteil der Bevölkerung so sieht, kann es schon nicht so schlimm sein. Zudem ist der Extremismus heute von Thor Steinar bis Masterrace eine Erlebniswelt, in der Jugendliche auf jeder Kirmis gut können.
Darum ist auch der Übergang vom Rechtsextremisten zum "normalen" Dorfjugendlichen oftmals fließend. Und wenn sich auch der Extremismus in der Mitte als subjektgerechter Erlebnispark erwiesen hat, fängt er dennoch gerade das ein, was die Individualisierung gewissermaßen lostrat, aber nicht mehr einzufangen wusste: Auf die breite Verunsicherungen in der Gesellschaft klare Antworten zu haben.
Erlebniswelt als Problem für die Politik
Die Crux ist nun, dass die Skepsis gegenüber der Regierung nicht nur Zeugnis von breiter Desillusion aufgrund der wirtschaftlichen Situation der letzten Jahre ist, die dem Extremismus und auch dem Extremismus der Mitte Tür und Tor öffnete. Das, was den Extremismus erst anschlussfähig machte, ist wiederum ein Dilemma parteienzentrierter Politik: Auch sie muss heute Teil dieser Erlebniswelt sein, alles andere wäre stumpf, antiquiert und nicht zeitgemäß. Zum Problem für die Großparteien wird das nur, wenn es den Anschein erweckt, Politik verliere dadurch das Wesentliche aus dem Auge.
Politik ist in der "medialen Erlebnisgesellschaft" (Andreas Dörner) bemüht, die Karten im Spiel um mögliche Eventualitäten passend auf den Tisch zu legen. Sie will im medialen Abendangebot von Vielkanalbedingungen gute Miene zum politischen Programm machen. Die SPD gab sich da schon vor Jahren mit ihrem Popbeauftragten Sigmar Gabriel die größte Mühe. Die Grünen wiederum hatten mit Joschka Fischer irgendwann nicht mehr einen mit Turnschuhen im Bundestag. Fischer machte sein Erscheinungsbild zum Hobby und rannte figurbedacht mit Turnschuhen durch die Bundesrepublik, versuchte es lieber mit Anzug im Außenministerdasein. Auch Gerhard Schröder wollte mit Brioni-Anzug gute Figur zur politischen Miene machen und probte sich als SPD-Charles Bronson im Unternehmertum.
Wo aber ist das Problem? Inszenierung gehörte schon immer zur Kunst politischer Rhetorik, ob zu Zeiten des alten Athens auf der Agora oder im römischen Senat. Darum ist auch der Einwand von Thomas Meyer zunächst berechtigt, dass die "Motive der Selbstthematisierung" für die Politik heute unter demokratischen Bedingungen nicht nur "legitim", sondern vor allem "unvermeidlich" seien. Gleichwohl wird Politikvermittlung immer mehr von Formen bestimmt, die am Wesentlichen vorbeigehen. Andreas Dörner hat in "Politainment" treffend aufgezeigt, wie sich hierzulande - teilweise nach amerikanischem Vorbild - eine politische Unterhaltungskultur seit den 90er Jahren herausgebildet hat, in der sich politische Information und Unterhaltung immer mehr vermischen.
Politik wird noch immer im Windschatten medialer Aufmerksamkeit gemacht
Unpolitisch wird Politik dadurch aber trotzdem nicht. Das hätte vielleicht die kläffende Journaille gerne, darum kommuniziert sie das auch so. Und darum herrscht auch vielfach die Meinung vor, Politik sei lediglich vom Impetus eitler Selbstbespiegelung und politischer Inhaltslosigkeit getragen. Sicher ist der inszenatorische Selbstdarstellungsdrang der Politik im Laufe der Jahre größer geworden. Übersehen wird dabei jedoch, dass Politik noch immer im Windschatten medialer Aufmerksamkeit gemacht wird. In den Ausschüssen, in den Parteigremien werden Gesetzesvorhaben diskutiert, das geschieht nicht auf der medialen Schaubühne.
So viel Spontaneität haben bislang weder CDU noch GRÜNE bewiesen. Auf der medialen Schaubühne werden nur die Ergebnisse präsentiert. Und der Selbstdarstellung eines Politikers sind auch Grenzen gesetzt. Politische Inszenierung unterliegt nicht dem Diktat der Fernbedienung politischer Akteure. Die Medien entscheiden, was sie hierzulande senden und die Konsumenten bestimmen, was sie sehen wollen. Nur ist Politik dabei einem Paradoxon ausgesetzt: Zum einen muss sie immer komplexere Sachverhalte verstehen und darauf reagieren. Zum anderen ist die Bewertung politischer Akteure durch die Medien eine Verknappung des Wesentlichen.
Politik will Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit will Politik. Daran besteht kein Zweifel und da braucht einem auch keiner Leid tun. Bei den öffentlich-rechtlichen Sendern fällt heute deutlich über die Hälfte der Sendezeit in den Bereich Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte (bei den Privaten ist das gut ein Drittel). Nur stehen sich Medien und Politik seit den 90er Jahren in den Wahlkämpfen als konkurrierende Akteure gegenüber. Bis Mitte der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts war das Verhältnis gegenüber den Parteien, in so genannten "vormodernen" Wahlkämpfen, noch "dienend", das stellt die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele in ihrem Buch "Direkte Kommunikation zwischen Parteien und Wählern" fest.
Bis in die 90er Jahre war das Verhältnis "beeinflussend", seitdem ist es "konkurrierend". Publizität wird darum zu Recht als Kontrollinstanz von politischer Herrschaft begriffen. Für die Politik bedeutet das dann so viel wie: Tief durchatmen und sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Aber auch: Die zunehmende Konkurrenz im Nacken der Aufmerksamkeit aushalten müssen und sich selbst beobachten. Thomas Meyer spricht in diesem Sinne in seinem Buch "Mediokratie" sogar mittlerweile von "vertauschten Rollen" für das Verhältnis von Medien und Politik: Während in der Parteiendemokratie die Medien die Politik beobachten sollten, damit sich die Staatsbürger eine vernünftige Meinung von ihr bilden können, beobachten in der Mediendemokratie die politischen Akteure das Mediensystem, damit sie lernen, wie sie sich und was sie präsentieren müssen, um in den Medien überhaupt präsent und attraktiv zu sein. Das wird Politik wiederum häufig zum Vorwurf gemacht. Politik sei selbstreferentiell, ein narzisstisches Schauspiel und würde unentwegt in der medial theatralischen Endlosschleife hängen.
Sind die Massenmedien Schuld an einer Politik-, Parteien- und Systemverdrossenheit?
Sind die Massenmedien dann Schuld an der immer wieder zitierten Politik-, Parteien- und Systemverdrossenheit? Soziologen und Medienforscher streiten sich in diesem Punkt bis heute. Klare Antworten haben sie nicht. Während der Kommunikationsforscher Hans Mathias Kepplinger in der Darstellung von Politik in den Massenmedien eine "Ursache der Politik- und Parteienverdrossenheit" sieht, zeigte die Kommunikationswissenschaftlerin Christina Holtz-Bacha auf, dass nicht die Mediennutzung als solche, sondern die Art der Nutzung entscheidend sei. Gerade unterhaltende Medien würden zur politischen Entfremdung beitragen.
Der Medienforscher Jens Wolling kommt wiederum zu dem Ergebnis, dass "Vielnutzer" unterhaltender Medien und Medieninhalte ein "positiveres Bild von der Politik" bei Strukturdimensionen wie der Identifikation mit der politischen Gemeinschaft oder dem Institutionenvertrauen haben. Die Einstellungen zur Politik würden im Wesentlichen auf "Erfahrungen" beruhen - Medien, Medieninhalte aber auch nichtmediale Erfahrungen spielten eine Rolle. Vor allem aber wirtschaftlicher Erfolg und Wohlstand seien wesentliche Voraussetzung für die Unterstützung des politischen Systems. Allgemein lässt sich sagen, dass viele Studien nicht zwischen politischer Kompetenz und dem politischen Responsivitätsgefühl differenzieren.
Es ist also oft nicht klar, was sich wie auf welcher Ebene auswirkt. Und es wird in der Regel übersehen, dass es nicht "die" Nutzer entsprechender Medien sein müssen, bei denen ein entsprechendes Nutzungsverhalten eine mögliche Entpolitisierung vorantreibt. Medienbeeinflussung erfolgt auch indirekt, durch ein Klima, das die Medien wiederum erzeugen, und das für den Politiker heute weniger vorteilhaft sein kann. Die Medien sind nicht Schuld, sie haben dennoch Mitschuld an einer weit verbreiteten Parteienverdrossenheit und Regierungsskepsis.
Politik hat es im Zeitalter eigener Wichtigkeit schließlich genauso schwer wie die Bürger selbst. Alle wollen mitmachen, ins Web 2.0, die Hosen mal hier runter lassen, mal da ins Webfenster winken. Politik muss die Bürger darum mehr denn je repräsentieren, damit sie sich auch "mitgenommen" (Angela Merkel) fühlen. Darum ist Politik auch um Bürgernähe bemüht, nur ist die direkte Kommunikation zunehmend der massenmedialen gewichen, insbesondere durch das Medium Fernsehen. Politik sucht darum auch den Kontakt zum Publikum im Unterhaltungsformat und eilt vom Ortsverband in die Talk-Show, wenn schon in der Ortschaft wenig geht. TV-Duelle erfreuten sich zuletzt auch in Deutschland an Beliebtheit. Was in den USA schon seit dem Kennedy-Nixon-Showdown 1960 gängige politische Praxis ist, wurde hierzulande erstmals auf Bundesebene zwischen den Kanzleraspiranten Edmund Stoiber und Gerhard Schröder im Jahre 2002 unter 15 Millionen Beobachtern ausgetragen.
Für die Politik bedeutet das nichts anderes als die Macht "in den Verhältnissen" (Christian Meier) und nicht "über die Verhältnisse" zu suchen, wenn sie sich medial einwechselt. Omnipräsenz statt Omnipotenz, Omnipotenz durch Omnipräsenz. Was so viel heißt wie, dass Politik die Bürger mehr als zuvor in Entscheidungsprozesse mit einbeziehen muss, um überhaupt "mächtig" sein zu können. Und wenn sie das nicht kann, muss sie zumindest so tun, als täte und könnte sie das. Das schafft sie nur nicht. In die Hände wird schon länger nicht mehr vor Zufriedenheit gespuckt, und da hilft es dann auch nicht, wenn alles miteinander soll und kann, man auch Du zueinander sagen darf.
Wenn aber aus Per Du Persil wird, Politik als Waschmittelformat, als käuflich angepasste Daseinsform erscheint, weil sie den Anschein erweckt, sie hätte die Angelegenheit Deutschland nicht im Griff, schwindet das Vertrauen in die Regierung. Und vor allem sät es einen Nährboden für extreme Positionen, die nur als solche nicht wahrgenommen werden (müssen), weil der Extremismus der Mitte längst den Weg in die Verhältnisse gefunden hat.