Gesellschaft ohne Kitt

Frankreich: Separatismus in allen Klassen

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An der Fassade habe sich nicht viel verändert. Auf den ersten Blick sei die französische Gesellschaft eine Klassengesellschaft mit deutlich erkennbaren Ober-und Unterschichten, die sich seit den 50er Jahren von Generation zu Generation reproduzieren würden, stellt der Soziologe Eric Maurin fest. Ein zweiter Blick offenbare jedoch, dass sich alles geändert habe: Es gebe keinen Kitt mehr, der die verschiedenen Klassen zusammen halte. "Sie haben nichts mehr, über das verhandelt, nichts mehr, was geteilt werden könnte."

Mittlerweile ist es in den Nachrichten ruhiger geworden, was die Problemzonen der französischen Nation angeht, doch die wichtigen, beunruhigenden Fragen sind nicht beantwortet, die Diskussion um den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft geht weiter. Die Tageszeitung "Le Monde" hat nun Beiträge des Soziologen Eric Maurin veröffentlicht, in denen er kaum beachtete, aber von jedermann zu beobachtende gesellschaftliche Entwicklungsstränge herausarbeitet. Sein Befund, wonach sich in der französischen Gesellschaft bei genauerem Hinsehen frappierende Trennungslinien offenbaren, erhellt nicht nur die Verhältnisse im Nachbarland.

Mit seinen Thesen, die Eric Maurin aus der Auswertung reichhaltigen statistischen Materials gewinnt, erzielt der französische Soziologe auch internationale Aufmerksamkeit; sein Forschungsinteresse richtet sich besonders auf Ungleichheiten und separatistische Prozesse in der Gesellschaft (vgl. Allgemeine Abschottung). Zwar, so schreibt Maurin in einem aktuellen Artikel in "Le Monde", sei nach außen hin viel gleich geblieben in der französischen Gesellschaft: Die Arbeiter und Angestellten machen seit mehreren Jahrzehnten mit etwa 60% den größten Block aus und bestimmte Zahlen, die ihr Verhältnis zu den "cadres", der Elite, markieren, hätten sich auch nicht wesentlich verändert.

Die Arbeiter und Angestellten würden wie vor zwanzig Jahren etwa drei bis vier Mal weniger verdienen als die "cadres". Auch die schulischen Aussichten für die Kinder aus den unteren Klassen hätten sich seit Jahren trotz der Appelle für Chancengleichheit auf einem stabilen Niveau nicht verändert: Kinder von Arbeitern und Angestellten scheitern vier bis fünf Mal häufiger in der Schule als die Zöglinge aus besserem Haus. Den zentralen Kategorien zufolge, die man in der Nachkriegszeit gebildet habe - Arbeiter, Angestellte, "Cadres" -, biete Frankreich ein sehr stabiles Bild.

Neues Proletariat der Dienstleister

Dennoch habe sich alles verändert, so Maurin. 1981 hätten noch 74% der Arbeiter für ihre traditionellen politischen Repräsentanten gestimmt, PS (Parti socialiste). 2002 waren es nur mehr 13 Prozent. Die extreme Rechte habe von diesem Stimmungswandel der "classes populaires" profitiert, aber noch deutlicher sei eine andere politische Entscheidung ausgefallen, die zur Stimmenthaltung. Deutliches Indiz dafür, dass sich die soziale Wirklichkeit nicht mehr in den alten Kategorien fassen lasse. Die Bezeichnungen mögen die alten sein, die Akteure und deren Arbeitsverhältnisse aber sind völlig anders:

Die mächtige, organisierte Arbeiterklasse hat Platz gemacht für ein neues Proletariat der Dienstleister, die weitgehend unsichtbar und verstreut sind.

Statt der Facharbeiter, die in der Industrie arbeiten und den traditionellen Kern der Arbeiterklasse bildeten, besteht dieser jetzt aus 5 Millionen Beschäftigten ( drei Mal so viel wie Industrie-Facharbeiter) im Dienstleistungssektor - oft mit schlechter Ausbildung. In der nächst höheren sozialen Etage, im Mittelbau, würden die oft überqualifizierten ("surdiplômé") Angestellten des öffentlichen Dienstes mit Einengungen des staatlichen Wirkungskreises konfrontiert. Demgegenüber fühle sich die private Mittelklasse von deutlich größeren Unsicherheiten in ihren Berufen bedroht. Weiter oben hätten sich zwar die Beschäftigungsmöglichkeiten der Eliten vermehrt, aber zugleich habe sich ihre Stellung "unerbittlich banalisiert". Eine wachsende Zahl von Unternehmen würde ihre höheren Angestellten jetzt behandeln wie früher die normalen, gewöhnlichen Angestellten.

Diesselbe Bewegung der Schwächung ("Fragilisation") durchzieht die höheren Schichten der Gesellschaft ebenso wie die unteren, teilt und verändert die traditionellen Klassen.

Die neuen Verhältnisse sind für manche unsicherer als für andere

Die Ausstellung von befristeten Arbeitsverträgen, eine Praxis, die in den 80er Jahren noch rudimentär war, mittlerweile aber beinahe obligatorisch, trifft die unteren Schichten mehr als die oberen. Die Ungleichheiten in der Lohnzahlung sind nach Maurins Kenntnis in Frankreich stabil geblieben, nicht aber die Ungleichheiten in der Art und Weise, wie man unsicheren Arbeitsverhältnissen ausgesetzt sei. Der proportionale Anteil der Arbeiter, die unsichere Arbeitsverträge in der Tasche haben, ist sieben Mal größer als der entsprechende Anteil unter den "cadres". Vor zwanzig Jahren stand das Verhältnis bei vier zu eins. Die Zahl der Arbeitslosen, bzw. derjenigen mit Zeitverträgen, unter Beschäftigten im Handel oder im Dienstleistungsgewerbe, die keine gute Ausbildung haben, ist doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Die Zukunft ist für diese Schichten sehr viel unsicherer als für die anderen.

Da sich die Arbeitsmöglichkeiten der Arbeitnehmer in kleine Strukturen aufgesplittert hätten, in viele unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse, sei es schwierig geworden, eine Identifizierung zwischen Vertragsangestellten und Festangestellten, die obendrein in verschiedener Unternehmen arbeiten, herzustellen, was auch die Tätigkeit von Gewerkschaften erschwere. Zumal diese bislang nur sehr selten in den neuen Dienstleistungssektoren Fuß fassen konnten.

Für die Arbeitnehmer ist die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Arrangements vor Ort die Quelle eines diffusen Gefühls der Ungerechtigkeit, der Willkür, der Unlesbarkeit der Arbeitswelt. Das neue kapitalistische Unternehmen hat peu à peu aufgehört, die Beschäftigten mit einer Identität und einem Status zu versorgen.

Dies habe zu einem bislang wenig bemerkten Graben zwischen den Arbeitnehmern von großen Unternehmen und solchen von kleinen und mittelständischen Unternehmen geführt. Ebenso wie zwischen Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft und solchen, die im öffentlichen Dienst tätig sind. Hier sind nach Auffassung Maurins die Kluft und die Missverständnisse besonders groß – wegen der Privilegien, welche die staatlich Angestellten in den Augen der "Privaten" haben. Die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst sehen das anders. Viele von ihnen sind in die Staatsdienst gegangen, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, und haben Stellen angenommen, die unter ihrer Qualifikation liegen. Diese neue Generation der Beamten habe das Gefühl, dass sie ihre Stellung mit einer Deklassierung bezahlt hätten und empfänden daher jeglichen Versuch, die Vertragsbedingungen, die sie mit dem Staat eingegangen sind, zu ändern, als umso ungerechter.

Die Distanzen, so das Fazit von Maurin, zwischen denjenigen, deren Status und Diplome sie vor einer ungewissen Zukunft beschützen würden, und den anderen würden sich vertiefen. Besonders sichtbar sei dies in der Wahl der Wohnorte. Eine Vermischung unterschiedlicher sozialer Schichten würde tunlichst vermieden.

Unter denen, die den Wohnort wechseln, gruppieren sich die Wohlhabenden und die mit der besten Ausbildung mehr und mehr exklusiv in den reichsten Vierteln. In der Folge stehen den Ärmsten nur mehr die vernachlässigten Viertel zum Einzug offen. Die reiche Bevölkerung konzentriert sich ausschließlich auf einige wenige Orte, heute mehr als vor zwanzig Jahren. Die so genannten Problemviertel sind nur eine Folge des Separationsprozesses, der die ganze Gesellschaft erfasst hat.