Gesellschaftskritik und psychische Gesundheit

Seite 2: Was sind psychische Störungen?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der heutige Konsens für die Definition einer psychischen Störung, sozusagen die "amtliche" Fassung, besteht in einer "klinisch signifikanten Störung des Denkens, der Emotionsregulation oder des Verhaltens …, [die] üblicherweise mit signifikantem Leiden oder signifikanter Einschränkung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Aktivitäten" einhergeht (Die "amtliche" Fassung). Das stammt aus dem Grundlagenteil des Diagnosehandbuchs der nordamerikanischen Psychiater, das 2013 in seiner bisher fünften Auflage erschien und weltweiten Einfluss hat.

Das eigentümliche an dieser Definition ist, dass das am häufigsten vorkommende Wort "signifikant" nirgendwo eindeutig bestimmt ist. Man kennt es aus der Statistik. Aber auch dort muss man das Signifikanzniveau erst festlegen. Man muss also eine Norm einführen, um unter der Fragestellung zufällig aussehende von nicht-zufällig aussehenden Mustern zu unterscheiden. Kurzum, wenn der Duden "signifikant" als "in deutlicher Weise als wesentlich, wichtig, erheblich erkennbar" beschreibt, dann ist das gar nicht verkehrt.

Klinischer Blick auf den Menschen

Es liegt dann aber auch auf der Hand, dass die Feststellung, ob die psychischen Probleme einer Person in dieser Weise "signifikant" sind, an der Einschätzung durch den klinischen Experten liegt. Dafür ist er idealerweise geschult und verfügt er auch über einen Erfahrungsschatz. Dazu kommen kulturelle Prägung und soziale Erwartungen.

Jemand, der trotz Schicksalsschlägen von hiobschem Ausmaß über kein Leid klagt, aktiv Freundschaften pflegt, geregelt einer Arbeit nachgeht und Hobbys hat, wird üblicherweise vom Psychotherapeuten oder Psychiater keine Diagnose erhalten. Fachleute würden dann eher von einer hohen Resilienz, also Widerstandskraft dieser Person reden.

Wer aber durch Arbeitslosigkeit in ein Loch fällt, sich immer weiter zurückzieht, vor Angst nicht mehr aus dem Haus geht, den Kontakt mit immer mehr Menschen abbricht und exzessiv trinkt, um permanente Gefühle von Wertlosigkeit zu unterdrücken, der dürfte wohl doch eine Diagnose erhalten. Zwischen solchen relativ klaren Fällen liegt ein ganzes Spektrum von Variationen, das eben so reich und vielfältig ist, wie unsere Menschenwelt.

Der Blick des Epidemiologen

So viel zum Grundlagenwissen, worum es in einem klinisch-diagnostischen Gespräch mit einem Psychiater oder Psychotherapeuten geht. Nun muss man wissen, dass die Methoden der Epidemiologen versuchen, so ein individuelles Gespräch in eine standardisierte Form zu bringen, die sich einem Stab von Hilfskräften beibringen lässt.

Diese ziehen dann durch die Lande und befragen, wie in der zitierten Studie mit den 40%, tausende Menschen. Wohlgemerkt, der Arzt oder Psychologe will feststellen, wie es dem einzelnen Patienten geht; der Epidemiologe will Daten erheben, wie verbreitet Störungsbilder in der ganzen Gesellschaft sind.

Der geneigte Leser kann hier dem Harvard-Professor Ronald Kessler dabei zuhören, wie er die Geschichte der psychiatrischen Epidemiologie kurz zusammenfasst: Von Zeiten, in denen Forscher in Dörfern die Dorfältesten, Bürgermeister oder Polizisten nach auffälligen Menschen fragten, die dann näher untersucht wurden. Das lieferte natürlich stark verzerrte Ergebnisse.

Danach kamen die Einstellungs- und Auswahltests, die während der beiden Weltkriege militärischen Zwecken dienten. Schließlich entstanden die koordinierten Verfahren der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die in den 1980er, 1990er und frühen 2000er Jahren entwickelt wurden und bis heute den Stand der Forschung bestimmen.

Die Mär vom Schnupfen

Epidemiologen selbst relativieren ihre eigenen Zahlen übrigens bisweilen mit dem Hinweis, psychische Störungen seien ebenso häufig wie ein Schnupfen. Daher wären die 40% auch nicht viel. Das ist aber insofern ein schiefer Vergleich, da bei den Störungen ein deutliches Leiden oder eine erhebliche Einschränkung des Lebens vorliegen sollte, wie wir oben gesehen haben.

Eine Nebenbemerkung zum Schnupfen: Die Geschichte, Depressionen seien ein "Schnupfen der Seele", haben sich gewiefte Werbeleute der Pharmaindustrie ausgedacht, als sie ihre Produkte in Japan verkaufen wollten. Dort waren vor den 2000ern Psychopharmaka verpönt. Ethan Watters beschrieb in seinem Buch "Crazy Like Us: The Globalization of the American Psyche" (2011), wie Pharma-Giganten wie GlaxoSmithKline Befunde der Anthropologie und transkulturellen Psychiatrie verwendeten, um den japanischen Markt zu erobern.

Und die Mär von den Rückenschmerzen

Ein Beispiel, um das es hier zum Jahreswechsel schon einmal ging, ist Ulrich Hegerl, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Leipzig und seit 2008 Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Die Stiftung verbreitet Informationen zum Thema Depressionen und betont dabei die Bedeutung genetischer Faktoren und pharmakologischer Behandlungen (Was sind Ursachen von Depressionen?).

Hegerl vertritt den Standpunkt, der Anstieg der Häufigkeit bei der Diagnose psychischer Störungen wie den Depressionen rühre daher, dass früher psychische Probleme eher als körperliche Erkrankungen diagnostiziert worden seien, vor allem als Rückenschmerzen. Damit stellt er sich auf die Seite der eingangs erwähnten Optimisten, die den Status quo verteidigen: Die heutigen Lebensumstände machten die Menschen nicht kranker als früher, sondern die Probleme würden nun anders und sogar besser beschrieben.

Das von Hegerl und vielen anderen führenden Psychiatern angeführte Argument überzeugt aber schon deshalb nicht, weil laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts auch die Häufigkeit von Rückenschmerzen - die über mindestens drei Monate fast täglich auftreten - gestiegen ist. Auch der neueste DAK Gesundheitsreport von 2018 widmete sich dem Schwerpunktthema Rückenerkrankungen, weil diese nach wie vor so viele Arbeitsunfähigkeitstage verursachen.

Gaben 2003 noch rund 55% der Befragten an, innerhalb der letzten zwölf Monate Rückenschmerzen gehabt zu haben, waren es 2017 schon 75%. Die Anzahl der Krankenhausbehandlungen ist laut dem Bericht gar um 80% gestiegen. Man kann also den teilweise dramatischen Anstieg bei den psychologisch-psychiatrischen Diagnosen der letzten Jahre nicht mit dem Verweis auf falsch diagnostizierte Rückenschmerzen wegerklären.

Das zeigt auch ein Blick auf die Frühberentungen: Die nahmen im Zeitraum von 2006 bis 2015 für die Muskel- und Skeletterkrankungen zwar von rund 26.500 auf 21.500 pro Jahr ab. Das erklärt aber bei weitem nicht den Anstieg bei den psychischen Störungen von 51.500 auf 74.000 pro Jahr im selben Zeitraum. Einer Abnahme von 4.000 steht also eine Zunahme von mehr als 22.000 Fällen pro Jahr gegenüber (Mehr über Ursachen von Depressionen).