Gesetze ohne Biss: Warum der Arbeitsschutz in Deutschland versagt
Deutschlands Arbeitsschutz krankt an staatlicher Durchsetzung. Trotz neuer Gesetze bleibt der Wandel aus – mit schlimmen Folgen. Das ist die Situation in Betrieben.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – das scheint hierzulande nicht das Motto der Arbeitsschutzbehörden zu sein. Denn Betriebsbesuche, um die Einhaltung der Gesetze zu prüfen, erfolgen selten. In der Öffentlichkeit spielt die Arbeit der Arbeitsschutzbehörden meist keine große Rolle. Eine Ausnahme war während der Pandemie der Fall Tönnies. In dem Großschlachthof herrschten für die Beschäftigten unhaltbare Zustände, gegen die die Behörden offenbar nie konsequent vorgegangen waren.
Das neue Arbeitsschutzkontrollgesetz: Ein Wendepunkt?
Der Gesetzgeber geriet unter Druck und verabschiedete 2020 ein neues "Arbeitsschutzkontrollgesetz". Danach soll es einen Mindestumfang an Betriebsbesichtigungen geben: Die Länder werden verpflichtet, ab 2026 eine jährliche Mindestbesichtigungsquote von 5 Prozent aller Betriebe sicherzustellen.
Dieser Wert wurde im Bundesdurchschnitt zuletzt vor gut zehn Jahren erreicht, seitdem ist die Quote weiter drastisch gesunken und lag 2022 nur noch bei 2,4 Prozent. 2022 ist das Jahr mit den aktuellsten verfügbaren Zahlen
Wie Behörden beim Arbeitsschutz versagen
Die gegenwärtige Situation kann als Behördenversagen bezeichnet werden. Erschreckende aktuelle Zahlen liefert der Gesundheitswissenschaftler Uwe Lenhardt.
Die Zahl der jährlich von den Überwachungsbehörden aufgesuchten Betriebe sinkt von 2012 bis 2022 von rund 110.000 auf etwa 52.000 (-53 Prozent), die Zahl der dort durchgeführten Besichtigungen von über 160.000 auf 68.000 (-58 Prozent).
Im ersten Pandemiejahr 2020 kam es zu einem besonders starken Einbruch der Kontrollen, da die Situation geradezu absurd erschien: Die Landesarbeitsminister und Arbeitsschutzbehörden lobten die Pandemiekonzepte der Betriebe, in denen weiter produziert wurde. Sie überprüften diese aber aus Sicherheitsgründen kaum vor Ort.
Die Bedeutung der Gefährdungsbeurteilung im Arbeitsschutz
Dabei wäre gerade bei einem wichtigen Bestandteil des Arbeitsschutzgesetzes eine regelmäßige Kontrolle wichtig: bei der Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung im Betrieb. Diese soll Gefahren aus Sicht der Beschäftigten ermitteln. Das kann die Unfallverhütung sein, aber auch Stress am Arbeitsplatz.
Dabei muss der Betrieb ermitteln, welche Gefahren für die Gesundheit der Beschäftigten bestehen. Und dann festlegen, welche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz erforderlich sind, also was gegen die Gefährdungen unternommen wird.
Ziel des Arbeitsschutzes sollte es auch sein, z. B. den Arbeitsablauf, den Werkzeuggebrauch oder die Arbeitsaufgabe zu verändern. Dies kann als bürokratische Aufgabe wahrgenommen werden, bei der eine Analyse dokumentiert wird. Es kann aber auch als Instrument zum Schutz der Beschäftigten eingesetzt werden, um etwa neue Büromöbel, Maßnahmen gegen Zugluft im Großraumbüro oder Schulungen zu neuer Software durchzusetzen.
"Im Zentrum des Arbeits- und Gesundheitsschutzes muss die Gefährdungsbeurteilung stehen, um auch in der digitalen, flexiblen Arbeitswelt das gesamte Belastungsgeschehen zu ermitteln, zu bewerten und mit Maßnahmen zu verbessern", fordert Elke Ahlers von der Hans-Böckler-Stiftung in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift GUTE ARBEIT.
Die Rolle der Betriebsräte im Gesundheitsschutz
Gefordert sind dabei die Interessenvertretungen der Beschäftigten. Denn oft finden Gefährdungsbeurteilungen, die etwas verändern, nur auf Druck der Betriebsräte statt, wie eine aktuelle Umfrage der gewerkschaftlichen Stiftung ergab. Die Aufsichtsbehörden halten sich zurück.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) fordert seit Jahren ein vorausschauendes Handeln:
"Besondere Bedeutung hat die vorausschauende Gefährdungsbeurteilung, damit der Arbeitsschutz integraler Bestandteil der Planung von Arbeitsstätten, Arbeitsplätzen und Arbeitsprozessen einschließlich der Arbeitsmittel und Arbeitsstoffe wird", so die BAuA.
"Wenn neue Arbeitsplätze geplant oder wesentliche Änderungen an Arbeitsplätzen vorgenommen werden, sollte bereits in der Planungsphase eine vorausschauende Beurteilung erfolgen."
Psychische Belastungen am Arbeitsplatz sind ein wachsendes Problem
Seit 2013 ist die Berücksichtigung psychischer Belastungen in der Gefährdungsbeurteilung gesetzlich vorgeschrieben. Arbeitsverdichtung, Zeitdruck und Stress prägen vielerorts den Arbeitsalltag. Psychische Belastungen am Arbeitsplatz führen häufig zu Depressionen, Burn-out und anderen psychischen Erkrankungen, aber auch körperliche Beschwerden wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Schlafstörungen können die Folge sein.
Um die Ursachen für die Überlastung zu finden, ist es wichtig, die Beschäftigten in die Gefährdungsbeurteilung einzubeziehen. Mitarbeiterbefragungen oder Workshops mit den betroffenen Beschäftigten finden in den Betrieben jedoch, wenn überhaupt, meist nur auf Druck von Betriebsräten oder Gewerkschaften statt.
Kampf gegen berufsbedingten Krebs: Was getan werden muss
Aber auch die klassischen Themen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sind weiterhin präsent. "Jedes Jahr verlieren etwa 100.000 Beschäftigte in Europa ihr Leben aufgrund berufsbedingter Krebserkrankung. Hauptursache für diese traurige Statistik ist, dass Beschäftigte bei ihrer Arbeit krebserregenden Stoffen ausgesetzt sind, etwa wenn sie Abgase oder Staub einatmen", erklärte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil anlässlich des Weltkrebstages.
"Berufsbedingten Krebs stoppen" fordert der Minister zwar, belässt es in seiner Pressemitteilung aber bei Tipps. Unter dem Stichwort "Substitution" fordert er die Unternehmen auf, gefährliche Stoffe durch sichere Alternativen zu ersetzen.
"Das ist schon dreist. Da meldet der Minister, dass an vielen Arbeitsplätzen die Leute systematisch krank gemacht werden, und dann bittet er diejenigen, die die Arbeitsplätze einrichten, doch zu bedenken, ob es nicht gesundheitsschonendere Alternativen gibt", kommentiert der Gesundheitsexperte Suitbert Cechura, Autor von "Unsere Gesellschaft macht krank".
Eine Gesetzesinitiative, die Unternehmen in die Pflicht nimmt und Krebskranken die Durchsetzung von Ansprüchen gegenüber der Berufsgenossenschaft erleichtert, steht noch aus.
Von den Ratschlägen des Ministers an die Unternehmen sei keine Wirkung zu erwarten. "Deshalb ist davon auszugehen, dass der Minister sich zum Weltkrebstag im kommenden Jahr wieder mit ‚traurigen‘ Todeszahlen melden kann", bemängelt Cechura. Vor diesem Hintergrund sei das Verhalten der Arbeitsschutzbehörden nicht verwunderlich.
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