Gesichtslose und distanzierte Menschen

Seite 2: II. Ein übersehenes Medikament

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Einsamkeit kann und darf man angesichts der Faktenlage keinesfalls einfach als einen eher unangenehmen Zustand abtun, der mit einem kleinen Spaziergang unter Menschen wieder vollständig beseitigt ist. Einsamkeit ist eine Todesursache, die - darin sind sich alle Forscher einig - mindestens in der gleichen Liga spielt wie starker Alkohol- oder Nikotinkonsum oder starkes Übergewicht.

Angesichts der aktuellen Krise sollte es auf der Hand liegen, das Phänomen Einsamkeit sehr ernst zu nehmen und möglichst schnell eine wissenschaftliche Einschätzung zu erhalten, die das Ausmaß der gegenwärtigen Einsamkeit und sozialen Isolation erfasst. Dass eine derartige Studie von Seiten der Bundesregierung immer noch nicht in Auftrag gegeben wurde, spricht leider nicht für eine verantwortungsbewusste Politik.

Bevor wir uns der Beschreibung der konkreten gegenwärtigen Probleme zuwenden, ist es notwendig, noch ein anderes Phänomen besser einschätzen zu können, das gerne ebenso achselzuckend negiert wird wie Einsamkeit: Denn der Mensch verfügt von Natur aus über zwei wunderbare Gegenmittel, die tatsächlich Einsamkeit lindern und heilen können. Werfen wir also einen Blick in die "körpereigene Apotheke" (Martin Grunwald).

Menschliche Nähe

Familie, Lebenspartner, Freund, die Erfahrung von Gemeinschaft, ein sicheres soziales Umfeld, kurz: Verbundenheit, das Gefühl des Gegenteils von Einsamkeit, hat nachweisbar sehr starke Heilkräfte, ohne Nebenwirkungen und Patentrechten bei der Pharma-Industrie. Verbundenheit ist das natürliche Ziel des Menschen, wie sich auch bei Betrachtung des sogenannten sozialen Gehirns zeigt. Joachim Bauer, Professor für Psychoneuroimmunologie an der Universität Freiburg, formuliert in diesem Sinne: "Das natürliche Ziel der Motivationssysteme (des sozialen Gehirns A.W.) sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen."

Begreift man die Natur des sozialen Wesens Mensch, seine Bedürfnisse und die Tatsache, dass Einsamkeit eine dauerhafte Verweigerung dieser Bedürfnisse ist, dann können die nun folgenden Studienergebnisse, die die Effizienz der meisten Medikamente deutlich in den Schatten stellt, nicht überraschen.

Verbundenheit und Gemeinschaft stärkt das Immunsystem:

Menschen mit einem sicheren sozialen Umfeld leiden deutlich seltener an Erkältungen, obwohl die Ansteckungsgefahr durch mehr Kontakt mit mehr Menschen naturgemäß höher ist.

◾ Allein die Zuwendung des Arztes fördert den Heilungsprozess. Die Hälfte der Probanden empfindet nicht nur eine subjektive Besserung, sondern zeigt auch eine signifikante Zunahme der Aktivität der körpereigenen Opioide, die Schmerzen lindern.

◾ Allein die Gegenwart eines vertrauten Menschen senkt die Pulsfrequenz, stärkt das Immunsystem und reduziert Depressionen.

Wunden von Patienten, die sozial eingebunden sind, heilen schneller.

◾ Studien konnten die heilsamen Auswirkungen sozialer Verbundenheit in jedem Lebensalter belegen.

◾ Menschen, die Gemeinschaft erfahren, haben ein gesünderes Herz und ein geringeres Risiko eines Herzinfarkts. Sie erkranken seltener, sogar eine HIV-Infektion verläuft langsamer.

◾ Menschen, die sozial eingebunden leben, haben eine 50 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit eines frühen Todes.

◾ Familie und Freunde halbieren sogar das Sterberisiko in jedem Alter.

◾ Eine großangelegte Metaanalyse ergab für Menschen, die soziale Unterstützung erfahren, ein um 25 Prozent vermindertes Risiko, an Krebs zu sterben. Ein größeres soziales Netzwerk minderte das Risiko immerhin um 20 Prozent. Der Familienstatus "verheiratet" um 12 Prozent.

◾ Zufriedene und glückliche Menschen mit einem funktionierenden sozialen Umfeld leben im Durchschnitt etwa 15 Prozent länger.

Sehnsucht nach dem Wir-Gefühl

So sehr in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft oftmals auf das Individuum, die Ich-AG, den Einzelkämpfer gesetzt wird und der Homo oeconomicus als Modell dient, so sehr verspüren die meisten Menschen wohl dennoch trotz täglichen Konkurrenzkampfes und Optimierungsdrucks, dass ein glückliches Leben ein Leben in einem lebenswerten sozialen Umfeld ist.

Bei der aktuellen "Vermächtnisstudie" maßen knapp 80 Prozent dem Wir höchste Bedeutung zu. Jutta Allmendiger, Leiterin der Studie, kommentiert: "Fragt man die Menschen, ob sie es auch den kommenden Generationen ans Herz legen, so ist der Anteil noch höher. Ein Wir zu haben, ist der Kern ihres Vermächtnisses."

Das Wesen der Liebe "The Nature of Love" (deutsch: Das Wesen der Liebe) lautete ein Artikel des Ethnologen Harry Harlow aus dem Jahre 1958 zu einem vielbeachteten Experiment. Rhesusaffen-Babys, die nach der Geburt von ihren Müttern getrennt wurden, ließ man in einem Experiment die Wahl zwischen zwei Ersatzmüttern. Eine Eisendrahtkonstruktion, die eine Babyflasche anbot, und ein weiches Stofftier, bei dem es allerdings keine Milch zu holen gab. Die Babys kuschelten sich grundsätzlich an die weiche "Mutter" und suchten die mechanische Eisendrahtkonstruktion nur dann auf, wenn sie der Hunger trieb. Harlow schlussfolgert: "Der Mensch lebt nicht von Milch allein. Liebe ist ein Gefühl, das nicht auf eine Flasche - oder Brei - angewiesen ist."

In der kostenfreien, körpereigenen Hausapotheke findet sich noch ein weiteres erstaunlich effizientes und angenehmes Medikament: Berührungen.

Erste Sprache des Menschen

"Berührung ist die erste Sprache, die wir sprechen. Aber darüber ist noch viel zu wenig bekannt", so das Motto der Leiterin des vor wenigen Jahren in Miami eröffneten Touch-Institut, in dem die Auswirkungen von Berührungen erforscht werden.

Ähnlich sieht es auch Martin Grunwald, Gründer und Leiter des Haptik-Forschungslabors an der Universität Leizpig: Das sogenannte Tastsinnessystem ist "das biologisch größte und einflussreichste Sinnessystem, eine Meisterleistung der Natur - und zugleich eine Selbstverständlichkeit, die wir kaum würdigen." Tatsächlich ist der Tastsinn nicht nur der erste Sinn des Menschen, der sich bereits im Mutterleib ausbildet, sondern auch der letzte, der selbst unmittelbar vor dem Tod noch schwach vorhanden ist.

Die lebenserhaltende und biologische Kraft des nach innen und außen gerichteten Tastsinnessystems beginnt beim Embryo und begleitet unser gesamtes Leben. Jede Berührung unseres Körpers wird biologisch und psychologisch verwertet, ohne dass wir uns zwingend dessen bewusst werden.

Martin Grunwald

Berührungen sind daher die erste Sprache, in der das Kind angesprochen und durch die sein Selbstempfinden geweckt wird, wie der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs betont.

Medizin für Babys

Die Bedeutung von Berührungen für Babys kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden:

◾ Frühchen, die eine regelmäßige Massage erhielten, zeigen mit zwölf Monaten bessere kognitive Leistungen als die Vergleichsgruppe.

Bei Neugeborenen sinkt das Schmerzempfinden, wenn sie gestreichelt werden.

◾ Berührungen vermindern Stress und stimulieren von der Geburt an die Entwicklung des Gehirns.

◾ Eine liebevolle Zuwendung der Mutter im Kindesalter schützt später vor einer Überreaktion der Stressgene.

Medizin für Erwachsene

Der gesundheitsfördernde Effekt von Berührungen lässt sich natürlich auch bei Erwachsenen nachweisen:

◾ Eine kurze Umarmung unter Partnern führt zu einer deutlichen Senkung des Blutdrucks und einer Verminderung der Herzfrequenz.

◾ Berührungen stabilisieren das Immunsystem und wirken entzündungshemmend.

◾ Berührungen reduzieren Angst und Stress.

◾ Berührungen reduzieren die Schmerzempfindung.

◾ Wertschätzende Berührungen von Ärzten und Pflegekräften vor einer Operation führen zu einer schnelleren Genesung.

Vermisstes Medikament

Regelmäßig findet etwa die Hälfte der Deutschen bei Umfragen, dass sich die Menschen viel zu wenig umarmen. Und mindestens jeder Dritte äußert zudem den Wunsch, selbst häufiger berührt zu werden.

Wohlgemerkt stammen die Umfragen aus der Zeit vor Covid-19. Werner Bartens fragt zu Recht: "Woher aber sollen alle diese Berührungen kommen, wenn keiner da ist, der einen umarmt oder streichelt, oder wenn der andere dies nur dann tut, wenn es als Vorspiel zum Sex dient?"

Existentieller Widerspruch

Die Natur des sozialen Wesens Mensch wird oftmals von Grund auf missverstanden. Dies dürfte mit ein Grund sein, warum in der hochindividualisierten Leistungsgesellschaft nicht nur das Ausmaß der Einsamkeit deutlich unterschätzt wird, sondern auch die dadurch hervorgerufenen massiven Gesundheitsschäden. Dass zugleich die Medikamente, die der Mensch von seiner Natur aus zur Linderung mitbringt ignoriert werden und wir in einer zunehmend berührungslosen Gesellschaft (Elisabeth von Thadden) leben, rundet den existentiellen Widerspruch der menschengemachten Gesellschaft ab.

In einer Zeit der pharmakologisch hochgerüsteten Medizinindustrie sollte dieses basale Behandlungsinstrument, das keine schädigende Nebenwirkungen kennt, in stärkerem Maß als bisher genutzt und sollten seine umfangreichen Wirkungen weiter analysiert werden.

Martin Grunwald

Inwiefern die aktuellen Schutzmaßnahmen sinnvoll sind, das ist zu betonen, ist nicht Gegenstand dieses Artikels. Aber es sollte keiner näheren Erläuterung bedürfen, warum eine ausführliche Untersuchung von Einsamkeit, Gemeinschaft und Berührungen zwingend notwendig ist, um die Nebenwirkungen der Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Covid-19-Virus besser einordnen zu können. Gerade wer sich an einer Idee der Verhältnismäßigkeit orientieren will, kann nicht einzig auf die Infektionszahlen schauen.

Im zweiten Teil werden wir uns der Auswirkung der Schutzmaßnahmen auf Einsamkeit, Gemeinschaft und Berührungen näher zuwenden.

Benutzte Bücher:
Allmendinger, Jutta und Wetzel, Jan: Die Vertrauensfrage. Bartens, Werner: Berührung. Bartens, Werner: Empathie. Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit. Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Böhme, Rebecca: Human Touch. Grunwald, Martin: Homo Hapticus. Hari, Johan: Lost connections. Keltner, Dacher: Born to be good. Pinker, Steven: Das unbeschriebene Blatt. Ricard, Matthieu: Allumfassende Nächstenliebe. Rosa, Hartmut: Resonanz. Sapolsky, Robert: Gewalt und Mitgefühl. Spitzer, Manfred: Einsamkeit. Thadden, Elisabeth von: Die berührungslose Gesellschaft. Pickett, Kate und Wilkinson, Richard: Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen".

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