Gesundheit, Krankenkassen und die Ethik: Daten oder Leben!

Alena Buyx auf der re:publica 2022. Bild: republica GmbH / CC BY-SA 2.0

Ethikrat-Vorsitzende will mehr "Datensolidarität": Datenschutz in Gesundheitspolitik soll Rechte der Gemeinschaft gegenüber Privatsphäre stärken. Was das mit der Corona-Krise zu tun hat.

Eine der ganz großen Fragen der westlichen Demokratie lautet zugespitzt, wie weit müssen persönliche Freiheitsrechte eingeschränkt werden, wenn das Leben anderer bedroht ist, wenn das Wohl der Gemeinschaft auf dem Spiel steht.

Wo liegen die Grenzen? Man will ja schließlich keine chinesischen Verhältnisse.

Wie sehr die Frage an die Substanz des demokratischen Selbstverständnisses geht, zeigte sich daran, zu welch heftigen Auseinandersetzungen die Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus – nicht nur in Deutschland – geführt haben.

Wie es aussieht, kommen unter der Großüberschrift "Digitalisierung" die nächsten Wellen dieser Auseinandersetzung auf die Öffentlichkeit zu, nicht so stürmisch, flacher zwar, noch nicht so unmittelbar zu erfahren und noch(?) ohne Strafandrohung, aber die grundsätzlichen Fronten sind ähnlich.

"Informationelle Autonomie und das Recht auf Privatsphäre stark priorisiert"

Es geht um die Ausrichtung der Gesundheitspolitik, genauer um den Konflikt zwischen "Datensolidarität" und Persönlichkeitsrechten, wie die informationelle Selbstbestimmung sowie die Privatsphäre, die grundrechtlich geschützt sind.

Dazu hat die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, auf einem Panel für die Konferenz Data for Health eine bemerkenswerte Positionierung abgegeben (ab Min. 35:49).

Buyx sprach von einem ethischen Ungleichgewicht in Deutschland, wenn es um Gesundheitsdaten geht. Hierzulande, so kritisierte die Ethik-Fachfrau, würden informationelle Autonomie und das Recht auf Privatsphäre sehr stark priorisiert. Indessen sei aber zu wenig die Rede von den Vorteilen für Patienten und die Gemeinschaft und die wichtigen sozialen guten Erzeugnisse ("social goods"), die geschaffen werden können.

Hier wird der Konflikt zwischen Grundrechten des Individuums und Gemeinschaftswohl schon angesprochen, aber vergleichsweise sachte. Buyx hat schon ganz anders darüber gesprochen – deutlicher und drohender, Anfang Dezember 2022 in einem Interview mit der SZ.

Die Kombination unseres strikten Datenschutzes mit der wenig pragmatischen Kultur der Datennutzung kostet Leben.

"Das kostet Leben"

Bemerkenswert ist, dass der Artikel in der SZ-Printausgabe mit "Das kostet Leben" überschrieben ist. Darunter steht die Behauptung, der Datenschutz werde in Deutschland übertrieben. "Dies gefährde Patienten." In der online-Fassung lautet die Überschrift dagegen: "Besserer Datenschutz ist eine moralische Pflicht". Das gibt ihr anderen Dreh, vor allem für Schnellleser.

Allerdings lohnt es sich, das "besser" genauer anzuschauen. Buyx führte das so aus:

Datenschutz darf nicht zum Gegenteil werden, er darf Patienten nicht schaden. Und er muss mit anderen wichtigen Gütern und Grundrechten – auf Gesundheit, auf Lebensschutz – abgewogen werden. Da kann es sein, dass die grundrechtliche Pflicht zum Schutz von Leben und Gesundheit im Einzelfall stärker wiegt als das Restrisiko, das bei bestimmter Datennutzung für die informationelle Selbstbestimmung verbleibt.

Alena Buyx, SZ

Als Beispiel dafür, dass die unzureichend pragmatische Kultur der Datennutzung Leben kostet, verwies Buyx übrigens auf die Corona-Krise. Man habe "keine einfach verfügbaren Daten" gehabt, um sehr alte Menschen im Winter 2020/2021 hochaltrige Menschen im Winter 2020/21 schnell genug zu finden und zu erreichen, um sie zu impfen.

Davon, dass im Winter 2020/21 auch die Datenerfassung als katastrophal (Gerd Antes) eingestuft und das RKI dafür immer wieder kritisiert wurde, sprach sie nicht.

Risiken

Vorsicht war zuvor damals das oberste politische Prinzip. Das ist prinzipiell auch nachvollziehbar, in der "pragmatischen Kultur" des Umgangs mit Daten jedoch nicht frei von größeren Härten auch für die politische demokratische Kultur (siehe SZ: "Daten während der Pandemie stümperhaft gesammelt und kommuniziert"). Das Vertrauen in den Staat, wenn es um Daten und Gesundheitspolitik geht, stärkte das nicht unbedingt.

Vor allem, weil die Gesundheitspolitik im Interesse der Gemeinschaft mit Strafen einherging.

Garantien?

Wer gibt die Garantie, dass dies künftig nicht der Fall ist? Man muss dazu schwarzseherisch nicht den "Gesundheitsnotstand" und seine drakonischen Maßnahmen heranziehen.

Äußerungen von Politikern darüber, dass man Krankenkassenbeiträge für Personen kürzen könnte, die einen gesundheitsgefährdenden Lebensstil führen, die rauchen oder zu viel Alkohol trinken, senden Signale dafür, was sich da an Möglichkeiten auftut, wenn man denn Datenschutz-Hemmschwellen bei der Übertragung von Gesundheitsdaten herabsetzt.

Es bleiben Fragen offen, wo die Grenzen der Übermittlung von Gesundheitsdaten gezogen werden. Es werden viele Daten gesammelt, manche sind schon beunruhigt, wenn sie an einem Fitnessangebot der Krankenkasse teilnehmen.

Ihr Statement auf dem One-Health-Panel leitete die Ethikratsvorsitzende mit einem Seitenhieb auf den früheren Datenschutzbeauftragten, Stefan Brink, ein. Brink hatte ihr nach dem SZ-Interview vorgeworfen, ihre Positionen zum Datenschutz seien "uninformiert und schwer erträglich, gerade weil sie mit dem Anspruch moralischer Überlegenheit geäußert werden".

Dem Handelsblatt gegenüber äußerte er:

Ethiker sollten gelernt haben, dass man gesellschaftlich bestimmende Entwicklungen wie die Digitalisierung nicht durch einseitige und zuspitzende Äußerungen vorantreibt, sondern alle relevanten Interessen mit ruhigem Blick einbezieht und abwägt.

Stefan Brink

An Zuspitzungen, die auch Brink vorführte, fehlt es nicht. Es wird noch weitere geben. Nötig sind genaue Informationen darüber, wie die Grenzen der Datenverteilung festlegt werden.