"Gewerkschaften sind bemüht, Löcher zu stopfen"
Seite 2: "Rosa hat einen klaren Kopf behalten"
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- "Ob wir uns wiedersehen?"
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5. September
Ich habe Rosa Luxemburg getroffen. Obwohl es ein kurzes Wiedersehen war, hat es mir neue Kraft gegeben. Rosa hat einen klaren Kopf behalten. Ihr erbarmungsloser Sarkasmus rückt vieles ins rechte Licht. Illegale Arbeit hält sie für verfrüht. Beratungen im kleinen Kreis gebe es schon. Die Verbindungen zu den Massen halte sie weiter aufrecht. In Einzelgesprächen zeigten sich die Arbeiter auch jetzt keineswegs vom Krieg begeistert.
Ich verweise auf die Rolle, die die Frauen angesichts der zunehmenden Teuerung spielen können. Rosa stimmt mir zu. Sie erzählt von Clara. Guesde verurteilt sie. Von Vandervelde habe sie nichts anderes erwartet.
12. September
Es ist beschlossene Sache: Morgen in aller Frühe werden wir Berlin verlassen. Das kam ganz unerwartet. Plötzlich stürmte Henriette Derman mit der Nachricht herein, in der Kommandantur hätten sich die Russen versammelt, die ausreisen würden. Es sei die Anordnung gekommen, Frauen, Kinder und Kranke mit der Staatsangehörigkeit der Entente-Mächte in Sonderzügen aus Deutschland hinauszubringen. Doch offenbar würden nicht nur Kranke und Frauen herausgelassen. Henriette war in der Kommandantur Tschchenkeli und Sasonow begegnet, die ihr ihre Passierscheine und Fahrkarten gezeigt hatten. Der erste Zug gehe morgen. Henriette war empört über die Desorganisation der Kolonie, über das "unkameradschaftliche" Verhalten.
Wir gingen sofort ans Werk. Sind zu Larin in die Wohnung gefahren und haben alle, die wir erreichen konnten, benachrichtigt. Wir haben noch andere mobilisiert, damit die Abreise "planmäßig" erfolgt. Auch die Ausreisebedingungen haben wir geklärt: Man braucht ein ärztliches Attest darüber, dass man krank und für den Militärdienst völlig untauglich ist. Gleich am Morgen gingen wir in die Kommandantur. Am Tor drängten sich eine Menge Russen – nicht Hunderte, sondern Tausende. Die Polizei versuchte vergebens, Ordnung zu schaffen. Es gab fürchterliches Gedränge, Tränen, Ohnmächten.
Ein Schreiben von Fuchs, diesem Hansdampf in allen Gassen, öffnete das ersehnte Tor.
Ein Spalier von Wartenden. Fuchs war da. Er erteilte Anordnungen. Auch Heine und Witt waren zugegen.
Ich habe zwei ärztliche Atteste. Nun bekomme ich zwar zwei Passierscheine, doch nur eine Fahrkarte. Die Züge sind überfüllt. Ich treffe Genossen, sie murren: "Warum bekommen die einen Fahrkarten, andere dagegen nicht?" Sie sind mit dem "Ausschuss" unzufrieden, erheben Vorwürfe.
Henriette legt Fürsprache ein, schlichtet. Der erste Zug fährt morgen. Mein Sohn und ich haben eine Fahrkarte für Montag.
Wahrscheinlich werden wir auf den nächsten Schub warten müssen. Man munkelt, dass die Züge nur an den nächsten drei Tagen fahren werden, dann sei erst einmal Schluss damit. Keine besonders schöne Aussicht. Vor allem jetzt nicht, da die Genossen wegfahren.
In diesem Bewusstsein habe ich eine lange, schlimme Nacht verbringen müssen. Früh kam Henriette mit zwei Fahrkarten für den morgigen Zug. Sie war empört: Wieso sollte ich dableiben? Das komme gar nicht in Frage!
Und sie hat es geschafft! Wie stets ist Henriette eine echte Kameradin! Gestern Abend haben wir bei Larin beschlossen, vor der Abreise noch einmal mit den Mitgliedern des Vorstands zusammenzukommen, um etliches mit ihnen zu besprechen: Wie wird die weitere Politik der Partei aussehen? Welche Einstellung hat man zu Annexionen? Welche Perspektiven gibt es im Hinblick auf die Internationale? Beabsichtigt man, Verbindungen zu den Parteien der Entente-Mächte anzuknüpfen? Ist man gewillt, Kontakte zur russischen Partei zu unterhalten?
Es wurde beschlossen, mit aller Entschiedenheit zu fragen, wie die beiden entgegengesetzten Taktiken in Bezug auf den Krieg, die deutsch-französische (die Kriegskreditbewilligung) und die russische, miteinander in Einklang zu bringen seien.4
Wir trugen die Resolutionen von internationalen Kongressen und nationalen Parteitagen zu der Haltung, die die Sozialisten angesichts drohender Kriegsgefahr einnehmen sollten, zusammen und entschieden, dass wir uns auf die Basler Resolution5 stützen wollten.
Die Zusammenkunft hat heute Vormittag stattgefunden. Eigentlich wollten wir den Ton sachlicher Information anschlagen. Doch dann konnten wir nicht an uns halten, so dass die Leidenschaften entbrannten. Eröffnet wurde die "Attacke" von Larin. Tschchenkeli fragte unverblümt: "Also gut! Sie kämpfen gegenwärtig Ihrer Überzeugung nach ,im Interesse der Demokratie und der russischen Arbeiter' gegen die russische Selbstherrschaft. Na schön! Doch stellen Sie sich einmal vor, in Russland bricht eine Revolution aus. Unter dem Einfluss des Krieges ist das nicht ausgeschlossen. Finanzkrise, Teuerung, Unzufriedenheit der Bauern …
Mit einem Wort, in Russland kommt es zum Umsturz. Russland wird Republik. Die Selbstherrschaft ist abgeschafft. Alle Freiheiten sind eingeführt. Was würden Sie dann tun? Wie würde Ihre Antwort ausfallen, wenn wir Sie aufforderten, unser Territorium zu verlassen?"
Die Antwort des Vorstands ist ausweichend. Haase versichert, dass die Partei ihre "internationalistische Position" nicht aufgeben werde. Er begrüßt im Namen des Vorstands den Vorschlag der russischen Genossen, "Kontakte" zwischen den Parteien herzustellen. Die übrigen Mitglieder des Vorstands schweigen sich aus.
Wir erfahren, dass ein Manifest der Partei vorliege, in dem gegen die Annexion Belgiens protestiert und ganz generell eine Trennungslinie zwischen dem Standpunkt der Sozialisten und dem der bürgerlichen Parteien gezogen werde: Die Sozialisten seien für den Krieg, wenn es um die Verteidigung des Landes gehe, die Sozialisten seien gegen den Krieg, wenn dieser zum Eroberungskrieg werde.
Doch wo verläuft sie, diese Grenze?
Wir debattieren heftig, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Der Abschied fällt recht förmlich aus. Allerdings sind wir entschlossen, uns über neutrale Länder gegenseitig zu informieren und nach Möglichkeit die Kontakte aufrechtzuerhalten …
Heute sind alle guter Dinge. Kein Wunder. Schließlich geht die Gefangenschaft ihrem Ende entgegen. Schluss mit der quälenden Untätigkeit.
"Sobald ich wieder in Russland bin, gehe ich zu den Krankenschwestern", erklärt die Frau von Gordon. Wie? Ich höre wohl nicht richtig!
"Sie, eine Bolschewikin, wollen zu den Krankenschwestern?"
Sasonow unterstützt sie. Im Augenblick sei reale Arbeit vonnöten.
"Für den Krieg?"
"Was heißt hier – für den Krieg? Wir müssen die Stimmung nutzen und die gesellschaftlichen Kräfte um ein lebendiges Werk scharen, als Gegengewicht zur Beamtenherrschaft."
"Das heißt, die Fehler der deutschen Sozialisten wiederholen!"
Und wieder streiten wir uns. In der Kolonie stimmen mir nur die Dermans zu. Die übrigen sind fast alle insgeheim russische "Patrioten", mit welchen Phrasen sie dies auch immer zu verbergen suchen. U. hat sich eine Karte besorgt, auf der er mit Fähnchen den jeweiligen Verlauf der Kriegshandlungen absteckt.
Die Kommandantur hat strikten Befehl erlassen, weder Manuskripte noch Bücher oder Briefe aus Deutschland mitzunehmen.
Was soll ich nur ohne "Produktionsinstrumente" anfangen? Auf jeden Fall werde ich meine mir ans Herz gewachsenen Tagebücher mitnehmen. Wenn es mir hier gelungen ist, sie so zu verstecken, dass sie der Polizei nicht in die Hände gefallen sind, werde ich sie wohl auch noch über die Grenze schmuggeln können!