"Gewerkschaften sind bemüht, Löcher zu stopfen"

Émile Vandervelde (zweiter von rechts) und Gustav Stresemann (links neben ihm) in Genf beim Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, 1926. Bild: Georg Pahl / Bundesarchiv, Bild 102-08491 / CC-BY-SA-3.0

Beobachtungen einer Russin in Berlin. Auszüge aus dem Tagebuch von Alexandra Kollontai aus dem Sommer 1914 (Teil 4 und Schluss)

3. September

Ich muss immerzu an das Schicksal der Sozialdemokratie denken. Da ist es nun zum großen "Sündenfall" der bedeutendsten Arbeiterpartei gekommen. Und das Ergebnis? In der Politik spielt sie keine Rolle mehr. Man hört nichts von ihr. Die Ereignisse gehen über ihren Kopf hinweg.

Der Vorstand hatte geglaubt – zumindest hat er uns das versichert –, dass sich die Partei durch einen "Burgfrieden" mit der kaiserlichen Regierung enormen Einfluss auf das weitere Geschehen verschaffen würde. Doch da hatte er sich verkalkuliert.

Die Phrase vom "einigen Deutschland" ist eben doch kein leeres Geschwätz. Niemand bemüht sich so sehr wie die Sozialdemokratie, die Illusion eines völligen Aufgehens aller Parteien in der chauvinistischen Ekstase zu schaffen.

Auf Versammlungen in den Ortsvereinen finden sich auch jetzt noch einige Wagemutige, die die Haltung der Partei tadeln und an die in Vergessenheit geratenen Losungen der Klassenpolitik erinnern. Sie drohen, nach dem Krieg "Abrechnung zu halten". Doch sie werden zum Schweigen gebracht.

Und nicht einmal von der Parteiführung, nein, von den Arbeitern selbst, die mit dem gerissenen Spiel von der "Einigkeit" übertölpelt worden sind. Liebknecht war dieser Tage in Döberitz, um dort die Grausamkeiten zu untersuchen, die Wachmannschaft und Soldaten an den Gefangenen verübt haben. Er wurde mit freudigen Rufen begrüßt: "Es lebe Genosse Liebknecht!" Wie sich herausstellte, war er von den Arbeitern des Wahlkreises Potsdam gewählt worden.

Was tun die Gewerkschaften? Sie sind damit beschäftigt, ihre Kampffonds für die Unterstützung von "Kriegsopfern" zu verwenden.

Streiks? Ja, es gibt auch Streiks – ökonomische. Aber ganz streng örtlich begrenzt, kraftlos, gleichsam "verlegen" darüber, dass es sie trotz allem überhaupt gibt.

Die Gewerkschaften sind gemeinsam mit der Partei bemüht, die Löcher, die der Krieg in sozialer und materieller Hinsicht mit jedem Tag mehr in den gesellschaftlichen Organismus reißt, zu stopfen.

In der russischen Kolonie wird bewundert, wie es die Sozialdemokraten immer wieder fertigbringen, in jeder Situation den "springenden Punkt" für die Arbeit zu finden. Man begeistert sich für den Kampf um die Erhöhung der Unterstützungen für die Familien, deren Männer eingezogen sind, für die Einrichtung von Garküchen, für die Sorge um die Kinder. Der reinste Opportunismus! Die Unsrigen1 nennen dies indessen "vernünftiges Anpassungsvermögen".

Alexandra Kollontai war eine russische Diplomatin und Schriftstellerin. Als Mitglied der Bolschewiki stand sie in ihrer Zeit als Volkskommissarin für eine sozialreformerische Politik und galt als Kämpferin für mehr Frauenrechte in der russischen Gesellschaft. Die unmittelbare Vorkriegszeit erlebte sie in Berlin, später ging sie nach Schweden. Ihre Tagebuchaufzeichnungen, die von der Vorkriegsstimmung in Deutschland zeugen, veröffentlicht 1924 erstmals die Zeitschrift Swesda (Der Stern). Der hier dokumentierte Text ist der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0 entnommen, auf der sich weitere historische Text finden.

Von der Partei als einem politischen Ganzen, das eine bestimmte Politik betreibt, hört man kein Wort. Der "Vorwärts" druckt die bürgerlichen Zeitungen nach. Der einzige Unterschied ist, dass die Meldungen mit einem Tag Verspätung kommen.

Kein einziger Protest. Es herrscht Ruhe und Eintracht! Weder spontane Ausbrüche bei der Einberufung noch Verweigerung derselben. Über dieses Thema habe ich gestern lange mit Liebknecht gesprochen. Auch er leidet unter diesem allgemeinen abgestumpften Denkvermögen, unter diesem frevelhaften Übermaß an Disziplin.

Der Krieg wird populär. Dabei ist es in den ersten Tagen nicht so gewesen. Wer trägt die Schuld?

Die deutsche Partei hat schwer gesündigt, als sie zuließ, dass der Krieg populär wurde. Hätte sie vom ersten Tage an eine kritische Haltung eingenommen, wäre sie nicht vom internationalistischen Kurs abgewichen, wäre es niemals dazu gekommen.

Der "Vorwärts" ist unglaublich tief gesunken. Bringt er doch von einem gewissen Schagrin (offenbar ein Pseudonym) eine Reihe unerhörter, verlogener Artikel über Russland! Die russischen Arbeiter werden bezichtigt, Gräueltaten zu verüben. Wir haben die Redaktion unverzüglich auf die Unzulässigkeit solcher Artikel hingewiesen. Die Redaktion gab uns zur Antwort: "Der Abdruck war ein Versehen."

Ein "Versehen" – trotz Militärzensur? Und die chauvinistischen Artikel Bernsteins – sind die auch ein "Versehen"?

Sie prahlten: "Dafür darf der Vorwärts' jetzt auch auf Bahnhöfen verkauft werden."

"Hätte man schon vor dem Krieg in diesem Ton geschrieben, wäre der 'Vorwärts' längst an Bahnhofskiosken verkauft worden", erwiderte ein Genosse treffend.

Sie brüsten sich damit, dass Mitglieder der Partei ebenso wie die Ultrarechten in alle möglichen Ausschüsse und Kommissionen gewählt werden. Sie sehen das als einen "Sieg" an.

"Das ist ein Sieg, der die Partei bereits jetzt die faktische Zerschlagung der Organisationen und den Verlust ihres Ansehens in der Internationale kostet", stellen die wenigen internationalistisch gesinnten Oppositionellen voller Bitterkeit fest.

Wenn doch nur jemand auf den Gedanken käme, eine illegale Zeitung herauszugeben oder auch nur ein Flugblatt! Liebknecht meint, dass das keinen Sinn habe, dass für Deutschland offenes Auftreten wichtiger sei.

Es ist bezeichnend, dass die Deutschen die Franzosen wegen deren Stimmabgabe nicht verurteilen. Sie verwundert und empört auch nicht der Eintritt von Guesde und Sembat2 ins Ministerium oder die Beteiligung Vanderveldes an der Regierung.3 Uns hat die Sache mit Guesde schmerzlich berührt. Wir wollten es lange nicht glauben. Die deutschen Sozialdemokraten dagegen halten das für "natürlich". Vielleicht liebäugelt auch Haase mit einem Ministerposten? Suchen sie womöglich im Verhalten der romanischen Sozialisten eine indirekte Rechtfertigung für sich selbst? Bereiten sie für sich eine "Amnestie" in der Internationale nach dem Krieg vor?

Nur einzelne Stimmen, aber beileibe keine Internationalisten, sondern ausgerechnet die eingefleischtesten "Patrioten" bezichtigen Guesde des Verrats. Des Verrats woran? "An der Solidarität mit Deutschland", mit dem "armen Deutschland", das so heimtückisch überfallen wurde. Ein merkwürdiges Durcheinander herrscht in den Köpfen. Von der Französischen Republik heißt es verächtlich, sie sei "durch und durch verrottet". Russland will man vom Joch des Zarismus "befreien" – mit Kanonenschüssen, mit Massenmord an russischen Arbeitern und Bauern.

Und das passiert in einer Partei, die in all diesen Jahren unwahrscheinlich viel Energie darauf verwendet hat, in ihren Reihen die "Reinheit der Prinzipien" zu erreichen. In einer Partei, die Mitglieder, deren Ansichten "nicht rein" genug waren, hinaus feuerte (was war doch der arme Hildebrand für ein zahmer "Patriot" – verglichen mit Scheidemann, mit Wendel oder mit Ebert). In einer Partei, die sowohl nach rechts, aber vor allem nach links schlug, um ein "prinzipielles Gleichgewicht" zu finden und die "Reinheit" der Weltanschauung zu bewahren.

Mit dem der Regierung entgegengebrachten "Vertrauen" hat sich die Partei Hände und Füße gebunden. Jetzt bleibt ihr nur noch die Talfahrt.