"Der Krieg hat die Partei restlos in eine Sackgasse getrieben"
- "Der Krieg hat die Partei restlos in eine Sackgasse getrieben"
- Sozialdemokratie in Sackgasse und "nicht mehr schöpferisch"
- Eine Demonstration gegen den Krieg? Unmöglich!
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Beobachtungen einer Russin in Berlin. Auszüge aus dem Tagebuch von Alexandra Kollontai aus dem Sommer 1914 (Teil 3)
15. August.
Wie ich mir gedacht habe, kommt und kommt keine Hilfe von der deutschen Partei. Der Vorwärts brachte am 6. und 7. eine Notiz, dass die schändliche Hetze gegen Ausländer aufhören müsse, dass unter ihnen Genossen, besonders russische, seien. Das ist alles, was im Vorwärts zu finden war.
Wir – Buchholz, Tschchenkeli und ich – entschließen uns, zu dritt zu Haase zu fahren, um uns in drei Punkten mit ihm einig zu werden. Erstens: Besteht Hoffnung, dass die Russen aus Deutschland herausgelassen werden? Wenn nicht, was kann die Partei tun, um den Genossen zu ermöglichen, nach Russland zu gelangen? Zweitens: Was unternimmt die Partei, um die russischen Sozialisten vor Pogromen zu bewahren? Drittens – abermals das Geldproblem.
Haase war diesmal richtig im Zuge, als er uns empfing. Er war guter Dinge und sagte wiederum mit verschmitzt-selbstzufriedenem Lächeln: "Oh, jetzt rechnet man mit uns! Jetzt kommen Sie ohne uns nicht aus!"
Teil 1: "Gestern noch schien der Krieg ein Alptraum, heute fühle ich seine Wirklichkeit"
Teil 2: "Was nun kommt, haben die Mauern des Reichstages noch nicht erlebt!"
"Doch im Vorwärts hat bis jetzt noch keine Notiz über die Repressalien gegen die russischen Sozialdemokraten gestanden", gemahne ich Haase.
"Was soll man da machen! Die Militärzensur! Die Redaktion wartet auf eine günstige Gelegenheit."
Auf Tschchenkelis Frage nach der Möglichkeit, nach Russland auszureisen, gab Haase eine unerfreuliche Antwort. Man werde wohl kaum Männer im wehrfähigen Alter vor Kriegsende hinauslassen. Doch was hätten die Russen eigentlich zu befürchten? Schließlich seien die Deutschen doch keine Barbaren.
Tschchenkeli versuchte, Haase klarzumachen, warum es ihn eigentlich so sehr nach Russland zieht. Haase war auf einmal ganz Ohr.
"Glauben Sie, dass die Sozialisten den Augenblick nutzen und in Russland einen Protest gegen den Krieg auslösen könnten? Halten Sie Aufstände für möglich?"
Mir behagte dieses plötzliche Interesse nicht, mit dem er uns derartige Fragen stellte. Vielleicht nimmt er an, dass die russischen Sozialisten vorhaben, den Kaiser zu unterstützen?
Tschchenkeli erklärte, wie er sich die Arbeit in Russland vorstelle – Sammlung der gesellschaftlichen Kräfte um die Aufgaben des Krieges und Ausnutzung des Patriotismus für den Kampf gegen die Selbstherrschaft.
Haase hörte Tschchenkeli zu und wurde merklich kühler. Am Ende entbrannte ein Streit über Belgien und Frankreich. Haase suchte zu beweisen, dass die Ursachen des Krieges in der widernatürlichen Allianz des republikanischen Frankreichs mit dem monarchistisch-autokratischen Russland liege und Frankreich nun die Früchte seiner grundfalschen Politik ernte.
Als ich versuchte, Haase an die französischen Arbeiter zu erinnern, machte er ein betrübtes Gesicht, wehklagte über die Schwäche der Internationale und erwähnte, dass die französischen Sozialisten für die Kriegskredite gestimmt haben. Die Wand zwischen uns wächst immer mehr in die Höhe …
Wir berichteten Haase, dass die russischen Genossen in unerträglicher Nervenanspannung leben und jederzeit Pogrome erwarten. Da kam wieder Leben in Haase.
"Ja, ja, das wissen wir. Glauben Sie nur nicht, der Vorstand hätte die russischen Genossen vergessen. Obwohl wir mit Arbeit überhäuft sind, haben wir gestern diese Frage erörtert. Und der Vorstand hat beschlossen, im Parteigebäude in der Lindenstraße in zwei leeren Büroräumen Betten aufstellen zu lassen und diese Räume bereitzuhalten. Im Falle eines Pogroms können die russischen Genossen dort sichere Zuflucht finden. Das Haus der Sozialdemokratischen Partei zu demolieren werden die besessenen Patrioten niemals wagen. Die Behörden wollen uns auch keine Unannehmlichkeiten bereiten, folglich werden Sie dort in Sicherheit sein. Der Vorstand hat schon die Mittel für den Kauf von vierzig Betten sowie von Waschbecken bewilligt. Wie Sie sehen, vergessen wir unsere internationalistische Pflicht nicht."
Tschchenkeli und Buchholz waren mit diesem Beschluss vollauf zufrieden, doch mir schien er utopisch zu sein. Wenn tatsächlich Pogrome begännen, wie sollten die Genossen dann die vorgesehene Zufluchtsstätte erreichen? Und war es zudem so wichtig, einen Unterschlupf zu finden? Meiner Meinung nach ging es um etwas ganz anderes: Wir hatten einen offenen Protest der deutschen Partei gegen Pogrome erwartet. Tschchenkeli fand, dass man das jetzt nicht verlangen könne und dass ich "in höheren Regionen schwebe".
17. August.
Liebknecht ist furchtbar niedergeschlagen. Die Zeitung hat ein Bild von Karl gebracht, wobei man allerdings zu dem echten Foto eine Uniform dazu montiert hat. In einer Notiz dazu heißt es, Liebknecht habe sich als Freiwilliger an die Front gemeldet. Welche Niederträchtigkeit! Und vor allem, man kann es nicht dementieren.
Liebknecht rechnet damit, dass er eingezogen wird. "Sollte das geschehen, werde ich mich zu den Sanitätern melden", sagt er.
Er hat einen geradezu körperlichen Widerwillen dagegen, die Rolle eines Kämpfers gegen seine Genossen, französische oder russische Proletarier, spielen zu sollen.
Die deutsche Partei aber gleitet immer tiefer in den Chauvinismus ab. Gibt es die Partei eigentlich noch? Es gibt ein "einiges Deutschland" …
Dunkle Gerüchte darüber, was in Belgien geschieht, dringen zu uns durch. Die Zeitungen sind eine einzige Prahlerei, ein Sieg nach dem anderen.
"Erinnern Sie unsere Zeitungen nicht auch an Zirkusplakate? Kein Tag ohne neuen Sieg, und nicht einfach ein Sieg, sondern ein ,überwältigender, grandioser', beispielloser Sieg. Haargenau wie auf einem Zirkusplakat für eine Galavorstellung", bemerkt Liebknecht bitter.
Nur mit ihm ist mir noch leicht zumute. Steht doch auch bei den Unsrigen (in der Kolonie) der "Patriotismus" auf der Tagesordnung, und zwar mit jedem Tag deutlicher und heftiger.