"Der Krieg hat die Partei restlos in eine Sackgasse getrieben"
Seite 2: Sozialdemokratie in Sackgasse und "nicht mehr schöpferisch"
- "Der Krieg hat die Partei restlos in eine Sackgasse getrieben"
- Sozialdemokratie in Sackgasse und "nicht mehr schöpferisch"
- Eine Demonstration gegen den Krieg? Unmöglich!
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23. August.
In den ersten Tagen quälte mich das Bewusstsein, dass die deutsche Partei zerschlagen ist, dass ihr Ansehen nach einem solchen Verhalten für immer ruiniert sein wird.
Jetzt sehe ich das anders. Mir scheint, dass es so eigentlich besser ist – historisch gesehen. Die Sozialdemokratie war in eine Sackgasse geraten, sie ist nicht mehr schöpferisch gewesen. Alle ihre Aktionen waren schablonenhafte Wiederholungen. Sie war in festgefahrenen Formen erstarrt, ihr fehlte der "lebendige Geist", es gab keine Weiterentwicklung mehr. Die Macht der Tradition, der Routine hatte begonnen.
Mich hat die ganze Zeit über verblüfft, dass in der Partei keine neuen großen Führerpersönlichkeiten in Erscheinung treten. Das ist ein Zeichen von Stillstand. Die Zeit des Schöpfertums, des Suchens bringt stets markante Persönlichkeiten hervor.
Vor zwanzig, dreißig Jahren machte die Sozialdemokratische Partei ihre eigene Politik, und wie viel große Führer gingen damals aus ihr hervor! In den letzten Jahren hingegen niemand. Eine schöpferische Persönlichkeit tritt dann in Erscheinung, wenn es ein Betätigungsfeld für schöpferisches Wirken, wenn es Raum für den "Geist" gibt. In diesem so bürokratisch gewordenen Milieu jedoch fürchtet man sich inzwischen sogar vor unverbrauchten Gedanken. Gott behüte, nur keine "Kritik". Was der Vorstand beschlossen hat, ist geheiligt.
Es war nur natürlich, dass die Massen, nicht mehr gewohnt, selbständig zu denken, abzuwägen und sich ein Urteil zu bilden, nach Ausbruch des Krieges treu und brav auf die "Parole" warteten! Sie belagerten die Ortsvereine – was war zu tun? In den Ortsvereinen wartete man indessen ebenfalls – darauf, was der Vorstand sagen würde. Der Vorstand selbst aber hatte den Kopf verloren. Auch er war "Überraschungen" nicht gewöhnt.
Ich erinnere mich an die Abende im Café Josty, in Gesellschaft von Heine, Frank und Stampfer – des vielversprechenden "Nachwuchses". In Wirklichkeit waren sie unglaublich fad und gesetzesfürchtig, folgten sie in allem dem Vorstand. Ohne diesen Gehorsam, ohne diese "Rechtschaffenheit" konnte man in der Partei keine Karriere mehr machen.
Liebknecht wurde umgangen. Und Rosa? Vor ihr hat der Vorstand ein bisschen Angst gehabt und sie deshalb, wo immer es nur ging, ferngehalten. Jene "Vertreter des Proletariats" hingegen, die Karrieristen, die für die Klasse niemals auch nur das geringste geopfert haben, hätschelte der Vorstand. Sie wurden als Kandidaten für den Reichstag aufgestellt, als Delegierte zu den Parteitagen gewählt.
Mich erinnern diese "vielversprechenden" Frank und Stampfer an die "Opferpriester" aus der Zeit des Niedergangs des Heidentums. Da sitzen sie des Abends im Café Josty und lästern … Diese "Vielversprechenden" brauchten die Partei als Sprungbrett für einen Abgeordnetensitz. Die Arbeiterbewegung? Sie "macht einen revolutionären Prozess durch", und die Politik ist im Grunde nichts weiter als ein Spiel. "Alles für die Menge … Wir sind klüger. Und deshalb nehmen wir vor allem unsere persönlichen Interessen wahr." So mögen diese kläglichen Karrieristen des Sozialismus gedacht haben. Und davon gab es immer mehr. Keine Selbstlosigkeit, kein qualvolles Suchen nach neuen Wegen, kein ungeduldiges Vorwärtsdrängen der Parteiführer, sondern eine bürokratische Maschinerie, die Vorsicht, Disziplin und schematische Organisation predigte. Wie hätte eine solche Partei dem Krieg Widerstand entgegensetzen können? Wie hätte sie angesichts der Gegenmacht des "patriotischen" Begeisterungsrausches die Flinte nicht ins Korn werfen sollen?
Der Krieg hat die Partei restlos in eine Sackgasse getrieben, auf dem Wege dorthin war sie allerdings schon vor dem Krieg.
Doch vielleicht kommt es gerade jetzt zur Überprüfung, setzt gerade jetzt Kritik ein und mit ihr Schöpfertum?
Schmerzlich und ärgerlich waren die ersten Tage. Inzwischen fühle ich, dass es so kommen musste. Und dass es besser so ist. Etwas Neues muss her. Eine Neubewertung aller Werte! Dann wird die deutsche Sozialdemokratie nicht mehr mit ihrem unwahrscheinlich schwerfälligen bürokratischen Apparat und ihrer "Mustergültigkeit", an der wir langsam erstickt sind, auf der Arbeiterbewegung der ganzen Welt lasten …
24. August
Frau Stube war bei mir, still und traurig. Ich wollte sie nach dem Grund fragen, traute mich aber nicht. Sie fing von selber an:
"Gestern habe ich einen Brief von meinem Sohn bekommen. Er ist verwundet, schreibt aus dem Lazarett. ,Mutter, mach Dir keine Sorgen, die Wunde ist nicht gefährlich … ' Den Brief hat aber jemand anders geschrieben. Er bittet um Geld."
Sie weinte nicht. Der Gram hat die Qualen des Wartens abgelöst. Nun ist es also geschehen. Doch von der Demonstration der Mütter sprach sie nicht mehr.
Als sie weg war, bin ich zu Genossin B. gefahren, einer echten Proletarierin. Sie hat sich immer durch gesunden Menschenverstand ausgezeichnet. Wird etwa auch sie kein Verständnis aufbringen?
Bei B. waren einige andere Genossinnen. Sie alle wollten schnellstens dem "Aufruf" folgen, Hilfe für die vom Krieg betroffene Bevölkerung zu organisieren.