"Was nun kommt, haben die Mauern des Reichstages noch nicht erlebt!"

August 1914: Aufbruch an die französische Front. Bild: Nationaal Archief, CC0 1.0

Beobachtungen einer Russin in Berlin. Auszüge aus dem Tagebuch von Alexandra Kollontai aus dem Sommer 1914 (Teil 2)

Noch: 4. August 1914, Berlin

Liebknecht geht ein paar Schritte auf einen Tisch zu, an dem Offiziere eine Besprechung abhalten. Er will einen Stuhl holen.

"Keinen Schritt weiter", fährt ihn der Posten an. Dann endlich wird Liebknecht zum Adjutanten von Kessel gerufen. Neues kann er dort nicht erfahren: Man müsse warten, bis die Listen fertig sind. Das dauere vielleicht ein paar Tage, vielleicht aber auch zwei bis drei Wochen. Um die Sache zu beschleunigen, könne man um eine Zusammenkunft mit dem Sohn nachsuchen, könne man ein Gesuch einreichen, ihm Sachen bringen zu dürfen usw.

Wir gehen noch zur Kommandantur, doch auch dort weiß man nichts.

Als wir dann wieder Unter den Linden sind, sehe ich, dass Liebknecht seine frühere Energie zurückgewonnen hat. Er macht sich schon eifrig Gedanken über einen Plan, wie man die russischen Genossen aus dem Gefängnis herausholen und wie man ihnen helfen kann, solange sie noch eingesperrt sind.

Wir begeben uns rasch zum Reichstag. Der entscheidende Augenblick ist gekommen.

Ich glaube noch nicht an die Stimmabgabe. Mir will immer noch scheinen, dass sich die Fraktion in letzter Minute anders besinnt.

Die zweite Hälfte der Sitzung beginnt um fünf Uhr. Erneut strömt das Publikum auf die Empore. Doch die Spannung ist nicht mehr so groß wie vormittags. Im Gegenteil. Die Mienen sind irgendwie besänftigt, fast zufrieden. Es wird sogar gescherzt.

Haase verliest die "Erklärung" der Fraktion. Er wird von allgemeinem Beifall unterbrochen. Auch die extreme Rechte applaudiert. Stürmische Begeisterung bewirken die Worte, die Sozialdemokratie lasse in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.

Mir ist, als stürzte ich in einen Abgrund. "Ausgehend von allen genannten Gründen, spricht sich die sozialdemokratische Fraktion für den Kredit aus … "

Alexandra Kollontai war eine russische Diplomatin und Schriftstellerin. Als Mitglied der Bolschewiki stand sie in ihrer Zeit als Volkskommissarin für eine sozialreformerische Politik und galt als Kämpferin für mehr Frauenrechte in der russischen Gesellschaft. Die unmittelbare Vorkriegszeit erlebte sie in Berlin, später ging sie nach Schweden. Ihre Tagebuchaufzeichnungen, die von der Vorkriegsstimmung in Deutschland zeugen, veröffentlicht 1924 erstmals die Zeitschrift Swesda (Der Stern). Der hier dokumentierte Text ist der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0 entnommen, auf der sich weitere historische Text finden.

Was nun kommt, haben die Mauern des Reichstages noch nicht erlebt! Das Publikum springt auf die Stühle, schreit, fuchtelt mit den Armen. Vizepräsident Paasche erklärt, der Kredit sei "einmütig votiert" worden. Daraufhin erneut großes Geschrei. Ein neuerlicher Sturm "patriotischer" Hysterie. Ich bemerke, dass man auch auf den linken Bänken in einem Anfall von "Patriotismus" tobt.

Es ist geschehen. Und doch will ich es nicht glauben. Ich laufe in die Wandelgänge. Vielleicht ist das noch nicht endgültig?

Ich stoße auf Wurm.

"Wie sind Sie denn hierhergekommen? Sie sind doch gar nicht berechtigt, einer solchen Sitzung des Reichstages beizuwohnen – schließlich sind Sie Russin!"

Nein, wirklich, daran habe ich "noch gar nicht gedacht"! Ich bin hierher zu den "Meinigen", zu meinen Genossen, gekommen, jetzt weiß ich, dass ich mich geirrt habe!

Bei Liebknecht steht ein Grüppchen; man streitet heftig mit ihm. Wendel blickt böse zu Liebknecht hin.

"Ein Verrückter, ein Wahnsinniger! So einer gehört hinter Gitter. Jetzt sind jegliche Sentimentalitäten fehl am Platz."

Offenbar sieht er in Liebknecht einen wirklichen "Verräter" seines lieben, militaristischen Vaterlandes.

Zu mir treten Frauen von Abgeordneten. Wir kennen uns. Sie sind sehr zufrieden mit dem Ausgang der Sitzung. Sie fürchteten den Einfluss der "Vierzehn".1

Wenn sie nämlich die Oberhand gewonnen hätten, wäre mein Mann einfach als Verräter erschossen worden!"

Na herrlich! – möchte ich ihr als Antwort ins Gesicht schreien.

"Ja, wir Deutschen verstehen es, einig zu sein. Welch großer feierlicher Augenblick der Einigkeit!" höre ich jemand sagen.

"Einigkeit" mit wem? Mit General Kessel? Mit den Dummköpfen aus dem Oberkommando? Mit den "rechten Bänken"? Ich glaube, vor ohnmächtiger Wut, vor Verzweiflung ersticken zu müssen …

Der Reichstag ist aufgelöst. Ausgelöscht das letzte Fünkchen von Volkskontrolle über die Handlungen einer Regierung, die sich auf Bajonette stützt.

Ich verlasse den Reichstag zusammen mit Liebknecht, wir gehen lange durch den Tiergarten. Straßenbahnen sind selten, die Omnibusse mobilgemacht.

"Was wird aus der Internationale? Der heutige Tag hat sie vernichtet. Es muss eine neue, eine andere Generation heranwachsen, um sie zu neuem Leben zu erwecken. Uns deutschen Sozialdemokraten wird die Arbeiterklasse der Welt unser heutiges Handeln niemals verzeihen."

Auch mir ist, als hätte ich einer Hinrichtung beigewohnt.

Erneut vernehme ich die Stimme Liebknechts, der zu Aktivität aufruft:

"Aber wir lassen es nicht dabei bewenden! Wir müssen sofort zu handeln beginnen. Müssen für sofortigen Frieden kämpfen, die Heuchelei der Regierung bloßstellen! Wir müssen ihnen die Maske vom Gesicht reißen."

Sogleich wird mir leichter ums Herz, ist alles nicht mehr ganz so hoffnungslos …

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.