"Was nun kommt, haben die Mauern des Reichstages noch nicht erlebt!"
Seite 4: Russen werden aus Gefängnis entlassen
- "Was nun kommt, haben die Mauern des Reichstages noch nicht erlebt!"
- Britische Kriegserklärung an Deutschland
- Polizeikontrollen in Berlin
- Russen werden aus Gefängnis entlassen
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11. August, abends.
Genosse Larin ist aus Döberitz freigelassen worden. Auch andere hat man entlassen. Doch viele sitzen noch. Ich war bei Larin in der Wohnung. Sie werden offen bespitzelt. Es heißt, es sei nicht ungefährlich, miteinander zu verkehren. Nach und nach hatte sich fast die gesamte aktive Kolonie eingefunden.
Wir besprachen, was zu tun sei, um die Genossen vor Verhöhnungen zu schützen und um die Verhafteten freizubekommen. Wie sollen wir unser aktuellstes Problem – das Geld – lösen? Viele hungern bereits. Keiner von uns kann seine Zimmermiete bezahlen. Die Wirtinnen drohen, uns hinauszusetzen
Die Alltagssorgen verdrängen irgendwie das Weltgeschehen aus unserem Bewusstsein. Die Stimmung ist bei allen unausgeglichen, nervös. Man erschreckt sich selbst und die anderen mit Gerüchten. Bei allem, was erzählt wird, merkt man, dass Wahrheit mit Unwahrheit vermengt wird. Als wollten die Menschen jetzt von sich aus das "Gruseln" lernen und übertrieben immerzu, damit es noch schrecklicher, noch abscheulicher klingt.
Den meisten Lebensmut hat Larin. Von ihm stammt der Vorschlag, dass wir den Vorstand bitten sollten, die "Schutzherrschaft" über die russischen Genossen zu übernehmen und eine amtliche Untersuchung der Gewalttätigkeiten und Beleidigungen, zu denen es immer wieder kommt, zu verlangen.
Doch ich spüre, dass wir bei den Deutschen im Augenblick gar nichts erreichen werden. Höchstens mit Hilfe von Liebknecht. Doch auch er ist ja jetzt nicht gerade gut angeschrieben!
12. August.
Wir waren bei Haase in dessen Privatwohnung. Haase hatte es wie üblich sehr eilig. "Die Zeiten sind eben jetzt nicht anders!" Er hörte uns mit offensichtlicher Ungeduld an. Für die Verhafteten versprach er bei Bethmann "ein gutes Wort einzulegen", sobald er diesen sähe. Was die Gewalttätigkeiten gegenüber den Russen, die Verprügelungen, die Exmittierungen usw. anging, so hob er hilflos die Hände.
"Was soll man da machen? Der Krieg! Ein Überschwang an Patriotismus! Spontane Regungen! Gewiss ist das alles sehr betrüblich, doch die Partei ist da machtlos."
Wir brachten das Geld zur Sprache.
"Geld? Das ist das Problem, das jetzt am schlechtesten zu lösen ist. In der einen Woche Krieg hat die Partei bereits Millionenverluste hinnehmen müssen. Es gehen automatisch immer weniger Mitgliedsbeiträge ein. Vielen Lokalblättern droht die Schließung. Die Abonnenten zahlen nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Die Genossen leiden Not. Nein, auf finanzielle Hilfe dürfen Sie nicht rechnen, das müssen Sie verstehen."
Wir versuchten, Haase klarzumachen, dass eine Hilfe für die notleidenden russischen Genossen in diesem Augenblick von grundsätzlicher Bedeutung sei. Auch wenn sie noch so gering wäre, ein paar hundert Mark wenigstens, würde sie doch beweisen, dass es eine Arbeitersolidarität gibt. Das müsste als politischer Akt, als Demonstration getan werden.
Haase widersprach nicht. Er stimmte uns hinsichtlich der grundsätzlichen Bedeutung eines solchen Aktes zu. Doch ich bin überzeugt, dass die Partei diese Hilfe nicht bewilligen wird.
Beim Abschied bot uns Haase übrigens an, dass wir uns jederzeit an ihn wenden und ihn in seiner Privatwohnung aufsuchen könnten. Andere Genossen fürchten sich selbst davor. Die Russen werden bespitzelt. Da hat man Angst, der Verschwörung verdächtigt zu werden.
Abends ist es in der Pension besonders ungemütlich. Den Russen wird mit Pogromen gedroht. Bei unseren Zimmernachbarinnen, Deutschen, war heute Haussuchung – auf eine Denunziation hin. Denunziationen sind an der Tagesordnung. Auch das ist "patriotischer" Heldenmut.
Liebknecht hat uns telefonisch mitgeteilt, dass Clara Zetkin zu Hause in Stuttgart sei, dass sie jedoch sehr große "persönliche" Unannehmlichkeiten habe. Was für welche? Offenbar wollte er am Telefon nicht darüber sprechen. Ob ihre Söhne einberufen worden sind? Ob ihr Mann Chauvinist geworden ist? Wird die Nummer der "Gleichheit" gegen den Krieg wohl erscheinen?2 Ich habe Luise Zietz einen Artikel gegeben, doch sie hat Bedenken, ihn abzuschicken.
13. August. Nachts.
Wir waren bei Liebknechts; mein Sohn wollte "dem Helden die Hand drücken". Ja, Liebknecht ist eine Ausnahme. Gegen ihn wird gehetzt, man nennt ihn einen "Verräter" und hält ihn für "verrückt". Er jedoch verficht seine Linie weiter.
Liebknecht hat diejenigen Sozialisten versammelt, die den Krieg "nicht akzeptieren" und in der Arbeiterklasse den erlöschenden Geist der Solidarität aufrechterhalten wollen. Ihm zur Seite stehen Georg Ledebour, Otto Rühle, Thalheimer sowie auch Luise Zietz. Das wundert mich sehr. Liebknecht sagt, sie habe das "richtige Gespür" und spiegele die Stimmung der Massen wider.
Worin nun der Protest der Genossen gegen den Krieg besteht und wie er sich äußern wird, ist noch nicht ganz klar, doch Liebknecht meint, zunächst einmal müsse man die "Gesinnungsgenossen" versammeln, dann könne man beginnen, die wahre Politik Deutschlands zu entlarven, die Beweggründe dafür, dass Deutschland Krieg führt, zu enthüllen und der Regierung die Maske vom Gesicht zu reißen. Die Losung von der "Verteidigung des Vaterlandes" habe die Köpfe vernebelt. Liebknecht meint, es müsse vor allem gezeigt werden, dass Deutschland die Schuld am Krieg trägt, das heißt, jetzt müsse laut wiederholt werden, was die Partei vor dem Krieg immer wieder gesagt hat und worüber sie sich jetzt hartnäckig ausschweigt.
Das Proletariat ist keineswegs vom Krieg begeistert. Bei Liebknecht wurde erzählt, wie die Arbeiter in den ersten Tagen die Ortsvorstände belagerten und auf eine "Parole", eine Losung, gewartet haben. Alle glaubten, die Partei bereite den Widerstand vor. Inzwischen habe sich die Stimmung stark gewandelt. Doch wenn man unter vier Augen mit einem Arbeiter spricht, heißt er den Krieg gewöhnlich nicht gut und empfindet keinerlei "Befriedigung" dabei, seinen Kopf für das Vaterland hinzuhalten …
Ein merkwürdiger Abend war das heute bei Liebknechts. So ganz anders als die Abende, die wir in dieser Woche erlebt haben. Liebknechts hatten Gäste, welche von uns, aber eben Gäste. Es war hell, wir aßen zu Abend, die Kinder waren da. Und man hatte nicht dieses Gefühl, dass man von allen als Feind angesehen wird. Und wartete auch nicht auf einen "Pogrom" …
Ein interessanter, origineller Mann ist Eduard Fuchs Verfasser des mehrbändigen Kunstbuches "Die Frau in der Karikatur". Ich hatte ihn mir immer als trockenen Menschen vorgestellt, so dick und gründlich sind alle seine Arbeiten über die Geschichte der Malerei, der Kultur usw. Nun stellte sich heraus, dass er mehr dem Typ eines Bohemien glich. Er war voller Eindrücke von seiner jüngsten Ägyptenreise, sprach von den Farben, von der Luft, von den besonderen Farbtönen der ägyptischen Sonne. Wie ich ihm so zuhörte, vergaß ich den Krieg, die Angriffe, Liège …3
"Um zu begreifen, was Sonne ist, muss man in Ägypten gewesen sein. Erst dann beginnt man, die Lichteffekte im Norden richtig zu sehen … "
Sofja Borissowna und Fuchs stritten heftig über die verschiedenen Schulen der Malerei – der Krieg schien nur mehr ein Traum zu sein.
Doch als wir dann am S-Bahnhof ankamen, war wieder der eisige Hauch der grausamen Wirklichkeit zu spüren.
Da ging ein Güterzug nach dem anderen ab, mit frischem "Kanonenfutter". Alles gesunde, junge Menschen – Deutschlands Blüte. Sie sitzen auf den Trittbrettern, drängen sich an den offenen Türen. Sie singen, schwenken die Mützen, grölen. Viele Wagen sind mit Girlanden geschmückt, als führen sie zu einem Fest. Doch wie mag es in ihnen aussehen? Woran mögen sie in der nächtlichen Stille denken, wenn diejenigen, die sie zum Zug begleitet haben, fern sind, wenn sie keine "Helden" mehr sind, sondern nur noch "frisches Kanonenfutter"?
In Berlin sind Züge mit Verwundeten eingetroffen. In den Straßen viele Rote-Kreuz-Schwestern. Es scheint, als wäre der Krieg ganz nah, als führte der Stucksche Reiter seine Kunststücke mitten in Berlin vor.4
Mit jedem Tag wird es schwieriger, auch nur Markstücke zu wechseln. Das Silbergeld ist verschwunden. Wir sitzen völlig ohne Geld da. Dies wird für uns alle zum überaus ernsten Problem.
Inzwischen liegt auf der Hand, dass auch die Franzosen für den Krieg gestimmt haben.5
Die deutsche Partei sieht darin eine Rechtfertigung ihres eigenen Verhaltens. Müller ist aber doch vor der Abstimmung aus Paris abgereist! Damals war die Stimmung in Frankreich noch entschieden kriegsfeindlich. Von der Stimmabgabe der deutschen Sozialdemokraten war den Franzosen auch nichts bekannt. Folglich handelten beide Parteien unabhängig voneinander.
Hier verurteilt alle Welt Weill.6 Er ist zum glühenden französischen Patrioten geworden. Und dabei war er immer so "gesetzestreu", schätzte man ihn im Vorstand wegen seiner "Diszipliniertheit"! Liebknecht versichert, dass er Weill noch eher verstehe als Frank und Konsorten.
Die Genossen meinen, dass Frankreich kaum in der Lage sein dürfte, Deutschland ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen. In Deutschland sei es um die Truppen bestens bestellt. Große Hoffnungen setze man auf Generale wie Kessel. Der Krieg werde sich wohl kaum in die Länge ziehen.
Rosa Luxemburg missbilligt die Stimmabgabe. Auf der von Liebknecht einberufenen Versammlung war sie jedoch nicht zugegen.
Sofja Borissowna macht sich große Sorgen um ihren Bruder. Er ist Student in Liège. Es heißt, alle russischen Studenten in Liege, sogar die Sozialisten, seien als Freiwillige zur belgischen Armee gegangen. Kaum zu glauben!
Die französischen Truppen sind im Elsass zurückgeschlagen worden. Ein neuer Sieg der Deutschen.
Montenegro hat Deutschland den Krieg erklärt, das ist die achtzehnte Kriegserklärung.
Und nirgends leisten die Arbeiter Widerstand …
Teil 3: "Der Krieg hat die Partei restlos in eine Sackgasse getrieben"
Teil 4: "Gewerkschaften sind bemüht, Löcher zu stopfen"
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