"Was nun kommt, haben die Mauern des Reichstages noch nicht erlebt!"

Seite 3: Polizeikontrollen in Berlin

6. August.

Der Tag hat heute zeitig begonnen. Um sechs Uhr klopft es an die Tür. "Wer ist da?"

Ach ja, natürlich, der Rundgang der Polizei. Ausweiskontrolle. Lange sehen sie sich meine Papiere an, beraten sich. Sie scheinen ihnen ungenügend und nicht überzeugend.

Mir fällt mein Talisman ein – das Mandat für den Internationalen Kongress. "Aha, wir haben Sie also schon einmal verhaftet?" Und sie gehen weiter.

Doch nach einer halben Stunde kommen sie wieder, um mir zu verkünden:

"Ziehen Sie bitte noch heute aus. Weiterer Aufschub wird Ihnen nicht gewährt."

Nochmals zu Liebknecht.

Wir begegnen uns auf der Treppe. Er hat es eilig. Ich bringe ihn zur Straßenbahn.

Der Chauvinismus rafft wie eine Seuche auch die bisher Standhaftesten dahin. Lensch, der noch gestern für eine Verweigerung der Kredite eintrat, ist jetzt schon bereit, auf die Seite der Wendel und Frank überzugehen. Haase dreht und wendet sich. Er begreift den ganzen Wahnwitz der gewählten Taktik, fühlt sich jedoch nach Verlesung der Erklärung gebunden. In den Reihen der Partei herrscht der reinste Wahnsinn. Alle sind "Patrioten" geworden, bereit, dem Kaiser ihr "Vivat!" zuzurufen. Und die Massen? Wie denkt das Proletariat? Die Massen? Alle diese Tage warteten sie auf eine Losung der Partei. Die Stimmung war voller gespannter Erwartung, doch auch voller Entschlossenheit. Nach der Abstimmung über die Kriegskredite schlug die Stimmung dann jäh um. Die Spannung wich, doch die Energie mündete in wüsten Chauvinismus. Die Partei hatte es nicht fertiggebracht, die Schleusen rechtzeitig zu öffnen und die Stimmung in andere Bahnen zu lenken. Nun ist es zu spät. Die Massen sind von der Losung "Rettung des Vaterlandes" berauscht.

Karl selbst hat viele Unannehmlichkeiten mit den Parteizentren. Dennoch hat er sein Versprechen nicht vergessen. Er bittet mich, den russischen Genossen auszurichten, dass den Verhafteten morgen Sachen gebracht werden können. Ich notiere mir Uhrzeit und Adresse. Nach Liebknechts Ansicht wird man die russischen Emigranten nicht lange gefangen halten Er rät mir, selbst ins Polizeirevier zu fahren, um einen weiteren Aufschub der Exmittierung zu erbitten.

7. August.

Um sechs Uhr morgens klopft es an die Tür. Die Polizei?

Nein, es ist mein Sohn. Er ist zu Fuß aus Döberitz gekommen. Man hat ihn als ersten entlassen. Die Gefangenen wurden zunächst von einem Gefängnis ins andere gebracht. Geschlafen haben sie auf dem feuchten Fußboden. Einige sind geschlagen worden. Weshalb, weiß keiner. Dann sind sie in ein Lager getrieben worden. Dort war es besser. Sie waren tagsüber wenigstens an der frischen Luft.

Kaum ist mir wegen meines Sohnes ein Stein vom Herzen gefallen, wiederholt sich die gestrige Schererei: Die Polizei überprüft die Papiere. Und verlangt erneut, dass ich ausziehe …

8. August.

Bin gerade in der Redaktion des Vorwärts und im Vorstand gewesen, habe mich dort für die verhafteten Genossen eingesetzt. An den Fenstern der Geschäftsräume vom Vorwärts hängt ein großes Plakat: "Fangt die russischen Spione!"

So weit hat der Chauvinismus die deutschen Genossen also gebracht!

In der Redaktion hat man mir begeistert erzählt, wie viel Sozialisten sich als Freiwillige gemeldet haben. Doch damit nicht genug. Naiv, mit dümmlicher Selbstzufriedenheit sagte man mir: "Wir melden uns an die Ostfront. Wir wollen für die Befreiung Russlands vom Zarismus kämpfen." Und war sehr verwundert, dass mich ihre Mitteilung nicht in Begeisterung versetzte.

Habe bei Ebert im Vorstand vorbeigeschaut. Er empfing mich mehr als zurückhaltend und – schickte mich in den Stab des Oberkommandos; dort solle ich mich erkundigen.

"Die Verhaftungen sind im Interesse der Sicherheit vorgenommen worden. Wir können uns nicht in die Handlungen der Militärbehörden einmischen."

So musste ich mit leeren Händen wieder gehen.

Henriette Derman sagte mir, dass sie genau den gleichen Eindruck vom Vorstand gewonnen habe, als sie sich um die Freilassung ihres Mannes bemühte.

Das ist also bei ihnen "Prinzip"? Sich nicht einzumischen und nicht im Wege zu stehen? Wo soll das hinführen? Wo nur ist die "weltweite Solidarität" geblieben?

10. August.

Als ich auf schnellstem Wege von Bad Kohlgrub nach Berlin fuhr, hatte ich naiverweise geglaubt, an Ort und Stelle sein zu müssen, um an den Aktionen der deutschen Sozialdemokratie gegen den Krieg teilnehmen zu können.

Inzwischen ist mir klar, dass es weder jetzt noch später irgendwelche Aktionen geben wird. Eine elementare Hypnose. "Vaterland". "Unser Deutschland". "Verfluchte Engländer". "Russische Barbaren". "Es lebe der Sieg des Kulturlandes Deutschland!" Dies ist die Sprache der deutschen Sozialisten.

Ich habe Mathilde W. und Luise Zietz getroffen. Beide haben "schrecklich viel zu tun". Was eigentlich? Sie organisieren gemeinsam mit Damen aus der "guten Gesellschaft" (genauso haben sie es gesagt!) Speisungen aus öffentlichen Mitteln für Kinder, deren Väter eingezogen worden sind. Sie arbeiten also für den Krieg?

Sie erzählten, dass sich viele Arbeiterinnen als Krankenschwestern melden. Nach Mathildes Meinung erfüllen sie damit ihre "sozialistische Pflicht".

Ich verließ sie mit einem Gefühl unbeschreiblicher Trauer und moralischer Einsamkeit.

Am schlimmsten ist, dass ich auch in der Pension keine Ruhe vor der chauvinistischen Hysterie finde …

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