Gibt die US-Regierung die Aufsicht über den Internet Root ab?

Internet Governance 2015: Auf dem Weg zu einer Internet Agenda 2025

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2015 hat gerade erst begonnen, der Internet-Governance-Kalender aber ist bereits bis Ende des Jahres vollgepackt. Die Liste der relevanten Themen wird länger und nach jahrelangen Diskussionen wird der Ruf nach konkreten Ergebnissen lauter.

Ob jedoch auf dem langen Marsch durch das globale Internet Governance Ecosystem im Jahr 2015 ein wesentlicher Schritt vorwärts gemacht werden kann, ist eine offene Frage. Die Antwort wird nicht unerheblich davon abhängen, wie zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Prozesse, verlaufen werden:

  • Im Internet-Mikrokosmos - der Verwaltung von Domainnamen und IP-Adressen - geht es 2015 vor allem darum, ob und wie die sogenannten IANA-Funktionen, die bislang von der US-Regierung beaufsichtigt werden, an einen Multi-Stakeholder-Mechanismus übertragen werden können, ohne dabei die Sicherheit und Stabilität des Internet zu gefährden;
  • Im Internet-Makrokosmos geht es darum, wie dieser Multi-Stakeholder-Governance-Ansatz weiter ausgebaut werden kann, um praktische Lösungen für die wachsende Zahl von politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und rechtlichen Internet-Problemen zu finden.

IANA Stewardship Transition

Im März 2014 hatte die US-Regierung angekündigt, den im September 2015 auslaufenden IANA-Vertrag unter bestimmten Bedingungen nicht verlängern zu wollen. Der IANA-Vertrag regelt u.a. die Aufsicht über das Internet Root Server System. Der Vertrag gibt der National Telecommunication and Information Administration (NTIA), einer Unterbehörde des US-Handelsministeriums (Department of Commerce), das Recht, den Eintrag von Dateien für Top Level Domains (TLDs) wie .com oder .de im Root Server zu autorisieren. Zu den Bedingungen, die die US-Regierung für eine mögliche Übergabe der IANA-Funktion definiert hat, gehört nicht nur die Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität des Internet, sondern auch, dass die Aufsicht zukünftig von der Internet Community selbst (in Form eines Multistakeholder-Mechanismus) und nicht von einer zwischenstaatlichen Organisation ausgeführt werden soll.

Die Ankündigung hat eine weltweite Diskussion ausgelöst. Mittlerweile ist ein strukturierter Prozess entstanden, der die Details einer möglichen Übergabe debattiert. Eine IANA Stewardship Transition Coordination Group (ICG) mit 30 Experten von allen Stakeholdergruppen (einschließlich fünf Regierungsvertreter) koordiniert die Detailvorschläge, die von drei Unterarbeitsgruppen (für Protokolle, Nummern und Namen) vorbereitet werden. Die ICG soll die verschiedenen Ideen in einem Plan, der den Kriterien der US-Regierung entspricht und einen Konsens der Internet Community repräsentiert, zusammenfassen. Die regulären ICANN-Treffen in Singapur (Februar 2015) und Buenos Aires (Juni 2015) bieten gute Möglichkeiten, in einem offenen und transparenten Verfahren Vor-und Nachteile der einzelnen Vorschläge zu diskutieren. Bis zum September 2015 muss dann die US-Regierung entscheiden, ob es zu einer Übertragung der Verantwortlichkeiten kommt oder ob der bestehenden Vertrag für zwei weitere Jahre verlängert wird.

Einerseits ist die sogenannte IANA-Funktion kein großes Problem. Über all die Jahre war die Rolle der US-Regierung nicht viel mehr als die eines Notars. Wenn es zu einer Neueintragung einer Datei im Internet Root Server System kommt, muss jemand da sein, der kontrolliert, ob die Vereinbarungen zwischen der Registry (z.B. DENIC für .de) und ICANN nach den entsprechenden Richtlinien korrekt abgelaufen ist. Bereits 1998, als ICANN gegründet wurde, hatte die US-Regierung angekündigt, früher oder später diesen "Sicherheitscheck" zu delegieren. Vor 17 Jahren war unklar, ob ICANN sich zu einem stabilen Mechanismus entwickelt. Nun ist die US-Regierung offensichtlich der Ansicht, dass ICANN erwachsen geworden ist. Da kann man jetzt die "Stützräder" für das Kinderfahrrad entfernen.

Anderseits ist diese notarielle Funktion voller politischer Symbolik. Jahrelang war sie Gegenstand von Spekulationen, Mythen und politischem Misstrauen. Für viele Gruppen, einschließlich für nicht wenige Regierungen, ist die IANA-Funktion sowas wie der entscheidende Kontrollposten im Internet. Insofern ist es nicht überraschend, dass der NTIA-Plan zu einer neuerlichen politischen Kontroverse geführt hat. Zweifler und Gegner gibt es auf beiden Seiten des Spektrums.

Für einige Gruppen - einschließlich vieler konservativer Mitglieder des US-Kongresses - ist der ganze Plan eine "schlechte Idee". Sie werfen dem US-Präsidenten vor, mit der Absicht, die Aufsicht über den Internet Root aufzugeben, ein "Machtvakuum" zu schaffen, das früher oder später von Regierungen, die das Internet zensieren, gefüllt werden wird. Sie misstrauen dem "Multistakeholder Modell" und wollen den "Status Quo" erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Gruppen, die die Beendigung der US-Aufsicht nutzen wollen, um nicht nur die simplen IANA-Funktionen neu zu organisieren, sondern die ganze ICANN zu reformieren. Insofern ist es keine leichte Aufgabe für die ICG, die richtige Balance zu finden. Starker Schutz gegen mögliche Vereinnahmungen ist ebenso wichtig wie das Vermeiden von unbeabsichtigten Nebenwirkungen, die ein zu ambitionierter Plan lostreten könnte.

Der Zeitplan ist eng. Sollte jedoch bis September 2015 keine Lösung gefunden sein, wäre das keineswegs eine Katastrophe für das Internet. Der jetzige Vertrag enthält die Möglichkeit einer zweimaligen Verlängerung um jeweils zwei Jahre. Insofern hätte man Zeit bis 2019. Die Verfehlung der jetzigen ersten Ausstiegsmöglichkeit wäre demnach nichts anderes als eine verpasste Gelegenheit. Alles würde weiter gehen wie bisher.

Dennoch wäre eine Verschiebung der Beendigung der US-Aufsicht ein fatales Signal. Für nicht wenige Regierungen wäre das Scheitern ein Argument gegen das seit Jahren mit Misstrauen beäugte innovative Multistakeholder-Modell. Vor allem konservative Regierungen hätten es lieber, wenn das Internet, einschließlich des Managements seiner kritischen technischen Ressourcen, einem traditionellen zwischenstaatlichen Regulierungsmechanismus unterworfen würde. Alte Vorschläge, die ITU zur Internetorganisation umzugestalten oder die Schaffung eines "Internet Regierungsrates", wie beim UN-Weltgipfel 2005 in Tunis diskutiert, könnten wiederbelebt werden und das Ende eines "freien und offenen Internet" einläuten.

Erneuerung des IGF-Mandat

Diese Diskussion hat das Potential, bei der für Dezember 2015 in New York geplanten Überprüfungskonferenz des 2005er UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS 10+) hohe Wellen zu schlagen. Der IANA-Vertrag war bereits vor 10 Jahre beim Tunis-Gipfel Gegenstand kontroverser Diskussionen. Viele Regierungen kritisierten die spezielle Rolle der USA. Sie widerspreche dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten, ein in der UN Charta verankertem Völkerrechtsprinzip. Alle Regierungen sollten die gleichen Rechte haben und mitreden können, wenn es darum geht, Top Level Domains im Internet-Root-Server-System zu managen.

Die Tunis-Agenda hält in Paragraph 68 fest: "Wir erkennen an, dass alle Regierungen eine gleichberechtigte Rolle und Verantwortung für die internationale Internet-Verwaltung und für die Gewährleistung der Stabilität, Sicherheit und Kontinuität des Internet haben."

Seit Tunis wurde dieses Thema auf vielen IGF-Sitzungen und in der UNCSTD-Arbeitsgruppe für erweiterte Zusammenarbeit (WGEC) diskutiert. Einige wollten die Rolle der US-Regierung durch ein zwischenstaatliches Gremium ersetzen. Andere wollten den Rückzug der US-Regierung und eine Selbstverwaltung durch die Internet-Community. Einen Konsensus gibt es bis heute nicht. Mit anderen Worten: Gibt es im September 2015 keine Übertragung der IANA-Funktionen an die Internet Community wäre die Versuchung für einige Regierungen groß, im Dezember 2015 die WSIS 10+ Konferenz zu einem neuen zwischenstaatlichen Internet-Schlachtfeld zu machen.

Und es gibt noch ein weiteres Problem. Die Bemühungen auf der jüngsten 69. UN-Vollversammlung, das 2015 auslaufende Mandat des Internet Governance Forum (IGF) zu erneuern, sind fehlgeschlagen. Die Entscheidung wurde auf die 70. UN-Vollversammlung vertagt. Diese findet nun parallel zu der letzten Verhandlungsphase für WSIS 10+ statt. Das Risiko ist hoch, dass die Debatte um das IGF-Mandat in einen politischen Kuhhandel gerät bei dem einige Regierungen einen Preis für ihre Zustimmung zu einer Verlängerung des IGF fordern werden. Das IGF ist eines der wenigen funktionierenden Multistakeholder Mechanismen im globalen Internet Governance Ecosystem. Das 10. IGF findet im November 2015 in Joao Passeo in Brasilien statt. Für 2016 hat sich Mexico-City als Gastgeber angeboten. Und in Deutschland erwägt man, Gastgeber für das IGF 2017 oder 2018 zu sein. Das IGF Leitungsgremium, die "Multistakeholder Advisory Group" (MAG) und sein Sekretariat, sitzen in Genf, wo die innovative Idee der gleichberechtigten Beteiligung von nichtgouvermentalen Stakeholdern an Internet-Politikentwicklung viele Befürworter hat.

Die politische Kultur in der UNO in New York ist aber anders. Sie ist noch geprägt von den alten Machtspielchen des 20. Jahrhunderts, wo Regierungen hinter verschlossenen Türen diplomatischen Deals aushandeln. Es wird sich zeigen, ob die kommenden Diskussionen am East River alte und verkrustete Strukturen aufbrechen oder innovative Ansätze abwürgen.

Breite Internetdiskussion

IANA-Vertrag, IGF-Erneuerung und WSIS 10+ sind aber nicht die einzigen Probleme der Internet Governance Agenda 2015. Es gibt viele Gremien die 2015 Internet Themen behandeln:

  • Der UN-Menschenrechtsrat setzt seine Diskussion über die Freiheit der Meinungsäußerung und Privatsphäre im Cyberspace auf seiner 28. Tagung in Genf im März 2015 fort.
  • Die UN-Kommission für Wissenschaft und Technologie Development (UNCSTD) wird den sogenannten "Mapping Vorschlag" der Working Group on Enhanced Cooperation (WGEC) auf seiner ordentlichen Sitzung in Genf, Mai 2015 erörtern.
  • Die UNESCO wird auf ihrer 38. Generalkonferenz im Oktober 2015 eine Studie zu politischen Internetproblemen behandeln. Dazu gibt es eine hochrangigen Expertenkonferenz im März 2015 in Paris.
  • Die zwischenstaatliche Internet Governance Arbeitsgruppe des ITU-Rates tagt Anfang Februar 2015 in Genf und wird sich erstmalig auch anderen Stakeholdern öffnen.
  • Internet Governance Themen werden in den weltweiten Verhandlungen zu neuen Handelsabkommen wie TTIP, TPP, TISA auftauchen.
  • Das Weltwirtschaftsforum (WEF) behandelt Internet Governance auf seiner Tagung im Januar 2015 in Davos;
  • Der sogenannte "London-Prozess" zur Sicherheit im Cyberspace hat sein nächstes hochrangiges Treffen in Den Haag im April 2014.
  • Die BRICS-Länder werden bei ihrem Gipfeltreffen im Juli 2015 in der russischen Stadt Ufa sich mit einem Vorschlag Russlands für einen neue Cybersicherheits-Vertrag auseinandersetzen.
  • Die OECD in Paris bereiten ihre für 2016 geplanten Ministerkonferenz über die Informationswirtschaft vor.
  • Die OSZE in Wien beschäftigt sich 2015 mit vertrauensbildende Maßnahmen für den Cyberspace und Menschenrechtsfragen.
  • Der Europarat in Straßburg arbeitet 2015 an der Umsetzung seiner Internet Governance-Strategie unter dem Motto "Maximierte Rechte - Minimierte Beschränkungen".
  • Die Europäische Union in Brüssel beginnt 2015 mit der Umsetzung ihrer neuen "Digitalen Agenda", die u.a. die Gründung eines "Global Internet Politik Observatory" (GIPO) enthält.
  • Die Afrikanischen Union berät auf ihrem Gipfel Ende Januar 2015 in Addis Abeba über die im letzten Jahr abgeschlossene Konvention über Vertrauen und Sicherheit im Cyberspace.

Neben diesen Treffen wird es mehr als 50 nationale und regionale IGFs auf der ganzen Welt geben, darunter das IGF-Deutschland im Frühjahr 2015 in Berlin und der Europäische Dialog zu Internet Governance (EURODIG) im Juni 2015 in Sofia. Fast 20 globale und regionale Treffen der sogenannten technischen I*Organisationen (ICANN, IETF, RIRs und andere) sind geplant, darunter drei ICANN-Meetings (Singapore im Februar, Buenos Aires im Juni und Dublin im Oktober) und drei IETF-Tagungen (März in Dallas, Juli in Prag und Oktober in Yokohama). Und man kann noch Dutzende von akademischen und Business-Konferenzen hinzufügen, bei denen 2015 Internet Governance auf der Tagesordnung steht.

Internet Governance Ecosystem: Ein virtueller Regenwald

Das weiter wachsenden globale Internet Governance Ecosystem ähnelt immer mehr dem Regenwald mit seiner nahezu unüberschaubaren Vielfalt. In diesem "virtuellen Regenwald" haben wir ebenfalls eine endlos wachsende Vielfalt von Netzen, Diensten, Anwendungen und Regimen, die nebeneinander existieren und gleichzeitig alle miteinander verbunden sind. Entstanden ist ein gigantischer interdependenter Multilayer- und Multiplayer-Mechanismus wechselseitiger Kommunikation, Koordination und Kooperation.

In diesem Internet-Governance Ecosystem gibt es viele "Player" mit sehr unterschiedlichem Rechtsstatus, wirtschaftlicher Größe und politischer Bedeutung auf lokaler, nationaler, regionaler und internationaler Ebene agieren, angetrieben durch technische Innovationen, Nutzeranforderungen, Marktchancen und politische Interessen.

Als Ergebnis sehen wir einen sehr dynamischen Prozess, bei dem eine Vielzahl von verschiedenen Regulierungs-, Ko-Regulierungs oder Selbstregulierungssysteme koexistieren, sich ergänzen oder in Konflikt miteinander geraten. Das System als Ganzes ist dezentralisiert und hat keine zentrale Behörde. Wie der Regenwald ist das Internet Governance Ecosystem als Ganzes auch weder kontrollierbar noch regierbar, es kann aber Schaden nehmen durch Verschmutzungen und Verstümmelungen.

Das Fehlen einer zentralen Behörde bedeutet dabei keineswegs, dass die globale Gemeinschaft nichts tun könnte. Es gibt sicher keinen Königsweg. Und es gibt auch keine Blaupause für alle Internetprobleme. Jedes Problem ist anders strukturiert. Insofern erfordert die Komplexität des Internet auch komplexe Antworten. Simple Lösungsvorschläge funktionieren nicht. Und sollen nachhaltige Antworten gefunden werden, muss man sich Problem für Problem vornehmen und für jeden Einzelfall eine spezifische Regelung finden. Dabei müssen sowohl bei der Identifizierung des Problems als auch bei der Suche nach Lösungsmodellen alle Stakeholder in ihrer jeweiligen Rolle eingebunden werden, das aber auf gleicher Augenhöhe und ohne neue Hierarchien.

Dies bedarf der weiteren Entwicklung kreativer Modelle, Mechanismen und Prozeduren. Hier ist viel Neuland zu erschließen. Insofern ist es sinnvoll, so etwas wie eine Internet Governance Agenda 2025 zu erarbeiten. Richtig ist, dass es schwierig ist, die breite Vielfalt der Internet-Themen in eine sinnvolle und überschaubare Struktur zu bringen. Der oben angeführte "Mapping Vorschlag" der WGEC hat bereits einen ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht. Man könnte also all die Hunderten von Einzelfragen in vier große Körbe packen, wohl wissend, dass jeder Korb dann mit einem breiten Vielfalt von Unterthemen zu tun haben wird und dass alle Körbe mehr oder weniger miteinander verbunden sind.

Internet Governance Agenda 2025

Korb 1: Cybersicherheit

Als Reaktion auf all die Cyber-Attacken, die wir im letzten Jahr gesehen haben, wird die Frage nach der Sicherheit im Internet auf der Prioritätenleiter nach oben klettern. Das Problem ist jedoch, dass es keine anerkannte internationale Definition für Cybersicherheit gibt. Die einen verstehen darunter die technische Sicherheit der Internet-Infrastruktur. Andere sehen Cybersicherheit im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Cyberkriminelle. Und nach Stuxnet, PRISM und Snowden ist Cyberspionage, Cyberterrorismus und Cyberkrieg nun zu einer Frage der nationalen Sicherheit geworden. All das sind aber verschiedene Schuhe, die eine sehr unterschiedliche politische Vorgehensweise erfordern.

Das Thema nationale Sicherheit und Cyberspace z.B. wird seit Jahren in der NATO, der OSZE und der UNO behandelt. In der NATO wurde ein sogenanntes "Tallin Manual" erarbeitet, das versucht, die noch sehr schwammigen Begriffe wie Cyberkrieg oder Cyberwaffen zu definieren. Diskutiert wird, inwiefern die Genfer Konvention zum humanitären Völkerrecht auch auf Konflikte im Cyberspace angewendet werden können. In der "Group of Governmental Experts" (GGE), die unter dem für Sicherheitsfragen zuständigen 1. Ausschuss der UN-Vollversammlung seit Jahren tagt, hat es keinen nennenswerten Fortschritt gegeben. Vorschläge von Russland und China, eine Cybersicherheitskonvention oder einem staatlichen Verhaltenskodex auszuarbeiten, kommen nicht voran.

Immerhin liegen jetzt eine Reihe von Vorschlägen für vertrauensbildende Maßnahmen (CBM) im Cyberspace auf dem Verhandlungstisch der UNO und der OSZE. Von einem Konsens oder gar einem Abkommen zwischen Regierungen ist man aber weit entfernt und es wäre eine große Überraschung, würde es 2015 hier einen Durchbruch geben. Unrealistisch ist es auch, auf bilaterale oder multilaterale No-Spy-Vereinbarungen zu warten. Unabhängig von dem globalen Aufschrei nach der Snowden Offenlegung wird Cyberspionage auch im Jahr 2015 weiter gehen, ja sie wird möglicherweise noch intensiviert werden.

Realistischer ist es, darauf zu setzen, dass die verschiedenen bilateralen Cyber-Dialoge, die in den letzten Jahren von den Cybergroßmächten USA, China und der EU angeschoben wurden, etwas Entspannung bringen, z.B. mittels der bereits erwähnten vertrauensbildenden Maßnahmen. Die Cybersicherheitskonferenz in Den Haag im April 2015 könnte da sehr hilfreich werden. Auf der anderen Seite hat Russland angekündigt, den bevorstehenden BRICS-Gipfel im Juli 2015 in Ufa zu nutzen um möglicherweise ein regionales Cybersicherheitsabkommen zu vereinbaren nach dem Modell der Vertrages den die Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union im vergangenen Jahr unterzeichnet haben. • Korb 2: Cybereconomy

Bei einem Versagen des Internet würde heute die Weltwirtschaft zusammenbrechen. Ohne Internet können Wirtschaft und Welthandel nicht mehr funktionieren. Die großen Internet-Unternehmen sind die wichtigsten Treiber für Innovation, Wirtschaftswachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätzen geworden. Das wirft viele neue Fragen auf. Wird sich 2015 die Dominanz der sogenannten GAFAs (Google, Amazon, Facebook und Apple), der Ciscos, Intels und Microsofts, ausweiten? Werden die großen Internet-Player aus China wie Ali Baba, Baidu, Huawei, Lenovo und Xiaomi die US-Vorherrschaft herausfordern? Was kann Europa tun?

Die neue EU-Kommission hat eine ehrgeizige digitale Agenda angenommen und wirft Fragen auf wie Wettbewerbsrecht, Steuerrecht, Datenschutz und die Rolle nationaler Gesetzgebung. Für Entwicklungsländer bedeutet die Cybereconomy zunächst immer noch die Entwicklung einer Infrastruktur, die den Zugang zum Internet erst einmal ermöglicht. Dabei wird es nicht bleiben.

Der Ruf nach Breitbandverbindungen für alle führt zu der Streitfrage Netzneutralität. Wird dies ein globales Problem? Internet Governance ist nicht direkt ein Thema bei den globalen Verhandlungen zum Welthandel, aber bei TPP, TTIP und TISA sind diese Fragen unterschwellig präsent. Und das Thema Schutz des geistigen Eigentums im Internet ist nach wie vor aktuell. Die Weltwirtschaftsagenda wird zunehmend vom Internet mit diktiert wie die Tagesordnung des Weltwirtschaftsforum in Davos oder die Vorbereitung der OECD Ministerkonferenz zeigen.

Korb 3: Menschenrechte

Meinungsfreiheit, Zensur, Inhaltskontrolle, Privatsphäre, Datenschutz, Datensicherheit, kulturelle Vielfalt und der Zugang zum Internet sind offene Menschenrechtsfragen, die auch nach zehn Jahren Diskussion im IGF noch lange nicht geklärt sind. Es war wichtig, dass die Vereinten Nationen vor zwei Jahren in einer Resolution bekräftigt haben, dass alle Menschen die gleichen Menschenrechte offline und online haben. Aber es besteht ein Bedarf für mehr Klarheit und für konkrete Aktionen, um diese Rechte auch zu gewährleisten. Das bleibt in erster Linie eine Aufgabe für den UN-Menschenrechtsrat (HRC) und den 3. Ausschuss der UN-Vollversammlung.

Internet bezogene Menschenrechtsfragen tauchen aber mittlerweile auch in wirtschaftlichen und technischen Gremien auf. Menschenrechtsgruppen fordern z.B. ein Verbot des Exports für Überwachungstechnologie in Diktaturen. Bei ICANN haben die neuen Registrar Accreditation Agreements (RAA) den Datenschutz in der Whois-Datenbank auf die Tagesordnung gesetzt. Bei der Implementierung von ICANNs neuem gTLD Programm spitzt sich die Frage zu, inwieweit das Recht auf freie Meinungsäußerung auch das Recht auf freie Wahl von Domainnamen, einschließlich des Namens für Top Level Domains, einschließt. Und in der IETF fordern Gruppen nun vor der Annahme neuer Internet-Protokolle eine Überprüfung, ob die technischen Codes die Gewährleistung von Menschenrechte fördern oder unterminieren.

Korb 4: Technologie

Mit Innovationen wie Cloud Computing, dem Internet der Dinge, Sprach- und Gesichtserkennung gibt es neue Herausforderungen für technische Internet Protokolle, Standards, Codes und die Verwaltung von Internet-Kennungen wie Domainnamen, IP-Nummern oder Sensoren. Wie nie zuvor haben neue technologische Erfindungen politische Implikationen und Politik kann heute nicht mehr funktionieren wenn sie nicht die Veränderungen des technologischen Umfelds zur Kenntnis nimmt. Vor 15 Jahren noch konnten Code-Macher und Gesetzesmacher in verschiedenen Welten leben und sich gegenseitig ignorieren. Diese Zeit ist vorbei.

Die neue Herausforderung für beide Seiten ist es jetzt zu lernen, Hand in Hand zu arbeiten. Die vom UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft angenommene Definition von Internet Governance hatte bereits 2005 festgestellt, dass politische Entscheidungen das Zusammenwirken aller Stakeholder benötigt. Die Zeit ist reif, von politischen Bekenntnissen für eine offene und transparente partizipative Politikentwicklung von unten zu praktischen Prozessen zu kommen, die dies auch umsetzt.

Net Mundial: Ein weiterer Schritt in unbekanntes Terrain

Eines der neuen innovativen Politik-Instrumente ist möglicherweise die NetMundial Initiative (NMI), die sich in der zweiten Jahreshälfte 2014 zu konstituieren begann. Im April 2014 fand in Sao Paule die Internetweltkonferenz "NetMundial" statt, die die brasilianische Regierung in Kooperation mit 12 weiteren Regierungen und den technischen Internet-Organisationen veranstaltet hatte. Das war ein Schritt in politisches Neuland, weil erstmalig eine Weltkonferenz, an der alle Stakeholder von Regierungen, der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der technischen Community gleichberechtigt teilnahmen, auch ein greifbares Ergebnis brachte: NetMundial nahm eine Allgemeinen Erklärung von Internet-Governance-Grundsätzen an und vereinbarte eine Internet Roadmap für die Zukunft.

NetMundial war das Ergebnis wachsender Unzufriedenheit mit dem verlorenen Vertrauen in das Internet nach den Snowden-Enthüllungen. Die Sao-Paulo-Prinzipien gründen sich auf zwei Dutzend von Internet-Prinzipienerklärungen, die verschiedene Gremien wie OECD, Europarat, Global Network Initiative und andere in den letzten fünf Jahren verabschiedet hatten und die ausführlich auf den letzten IGFs in Nairobi (2011), Baku (2012) und Bali (2013) diskutiert worden. Diese Prinzipien werden nicht nur von einer überwältigenden Mehrheit von Regierungen unterstützt, sondern auch von den wichtigsten Akteure aus der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft und der technischen Gemeinschaft, d.h. von Google und Facebook, von Human Rights Watch und Reporter ohne Grenzen, von ICANN und der Internet Society etc.

Diese Internet-Governance-Prinzipienerklärung ergänzt die Internet-Governance-Definition des UN-Weltgipfels von 2005 und konstituiert einen universellen politisch-rechtlichen Rahmen für das Internet. Sie ist, wie die UN-Menschenrechtsdeklaration, nicht rechtsverbindlich. Aber ihre Allgemeingültigkeit, Autorität und hohe Akzeptanz bei allen Stakeholdergruppen wird sie zu einem bedeutenden Referenzdokument werden lassen, wenn es zukünftig darum geht, Verhalten von Regierungen, Unternehmen oder Einzelpersonen im Internet zu beurteilen. Ähnliches kann man zu der Sao Paulo Roadmap sagen. Mehr oder weniger ist sie ein Skelett für eine noch auszuarbeitende Internet-Governance-Agenda 2025.

Aus Sao Paulo gab es auch eine klare Botschaft, die bestehenden Multi-Stakeholder-Mechanismen für das Management von globalen Internet-Problemen zu stärken. Das gilt insbesondere für das IGF. Die NMI ist keine Alternative zum IGF und auch keine Konkurrenzveranstaltung. Es gibt ein großes Potenzial für eine Win-Win-Situation zwischen der IGF und der NMI. Die NMI kann mit zusätzlichem Know-how, Wissen und Ressourcen das IGF stärken und helfen, für Probleme, die das IGF identifiziert hat, Lösungsvorschläge zu erarbeiten.

Mission und Mandat der NMI sind noch nicht definiert. Das soll bis Ende März 2015 in einem offenen und transparenten Diskussionsprozess geschehen. Im Prinzip könnte die NMI wie ein Root-Server im DNS fungieren. Die Root Server entscheiden nichts selbst, aber sie haben das Wissen um Anfragen, die von einem Server eines Endnutzers kommen an die richtige Adresse weiterzuleiten wo der Fragende dann seine Antwort bekommt. Mit anderen Worten, NMI - in enger Verknüpfung mit dem IGF - könnte als eine Internet-Governance-Clearingstelle fungieren. Die Idee einer solchen Clearingstelle ist nicht neu. Sie wurde bereits vor fünf Jahren in der UNCSTD-Arbeitsgruppe zur IGF-Verbesserung vorgeschlagen. Aber der Vorschlag wurde nie umgesetzt. Möglicherweise ist die Zeit jetzt reif, um Nägel mit Köpfen zu machen.

Der neuen NMI Koordinierungsrat ist ein einzigartiges Gremium. Das 23köpfige Team, nominiert von den drei Gründungsorganisationen - cgi.br, ICANN und WEF - wird seine erste Sitzung am 31. März 2015 haben. Mitglieder dieses Rates sind jeweils ein Vertreter der vier Stakeholdergruppen (Regierung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, technischen Community) aus den fünf Welt-Regionen (Europa, Asien/Pazifik, Afrika, Lateinamerika und Nordamerika). Alle Mitglieder der Gruppe haben gleiche Rechte. Die Regierungsbank ist mit drei Ministern aus den USA, China und Ägypten sowie einem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission sehr hochrangig besetzt. Sie sitzen nun auf gleicher Augenhöhe mit einem ehemaligen Vorsitzenden des zivilgesellschaftlichen Internet Governance Caucus (IGC), einem Direktor von Human Rights Watch (HRW), einem ehemaligen Vorsitzender des World Wide Web Consortiums (W3C), dem Präsidenten von ICANN, dem Vater des afrikanischen Internet, dem Generalsekretär der World Information Technology and Service Alliance (WITSA) und dem CEO von Alibaba, Jack Ma.

Es bleibt abzuwarten, wie solch ein einzigartiger Runder Tisch funktionieren wird. Noch ist es zu früh, darüber zu spekulieren. Viel wird davon abhängen, wie sich NMI und IGF ergänzen. Die gute Nachricht ist, dass ein Haupttreiber der NMI - der brasilianische Internet-Rat cgi.br - auch der Hauptorganisator des für den November 2015 geplanten 10. IGF in Joao Pessoa ist. Dies wird dazu beitragen, Synergien zu erzeugen und Missverständnisse zu vermeiden.

Der Uhr tickt. Im September 2015 läuft der IANA-Vertrag aus. Im Oktober findet die 54. ICANN-Tagung statt. Anfang November folgt das 10. IGF. Ende November entscheidet die 70. UN-Vollversammlung über das IGF-Mandat. Und im Dezember wird WSIS 10+ die neue Internet-Agenda verabschieden. 2015 wird in der Tat ein spannendes Jahr für Internet Governance.

Wolfgang Kleinwächter ist Professor Emeritus für Internet-Politik und -Regulierung an der Universität Aarhus in Dänemark. Er ist Mitglied im ICANN-Direktorium und Sonderbotschafter der NetMundial Initiative. In diesem Artikel äußert er seine persönliche Meinung.