Give War a Chance

Seite 2: Moralische Imperative

"Mit der Waffenlieferung in die Ukraine tut sich auch der Frankfurter SPD-Abgeordnete Mansoori schwer. "Seit ich politisch denken kann, habe ich Waffenlieferungen in Kriegsgebiete abgelehnt", sagt er. In diesem Fall unterstütze er das aber, "weil es moralisch nicht anders vertretbar ist" (FR, 3.3.22).

Mansoori benutzt das Bindewort "weil" zur Angabe eines Grundes besonderer Art. Ob eine Kriegspartei mit Waffen versorgt werden soll, lässt sich anhand der Moral gar nicht entscheiden, was man an der Kontroverse über Kampfjets für die Ukraine deutlich sehen kann.

Die Nato-Politiker nehmen für ihre Zurückhaltung schließlich die gleiche "Verantwortungsethik" in Anspruch wie der ukrainische Präsident und sein hiesiger Botschafter für ihr Vorpreschen. "Werte" taugen hier nur dazu, politische und militärische Interessen anzumelden oder zu rechtfertigen. Die Gewissheit, moralisch nicht anders zu können, bezieht Mansoori also zielsicher aus dem Regierungsbeschluss, eine militante "Zeitenwende" gegen Russland zu veranstalten.

Ähnlich kann es auch der Betroffenheit ergehen, die sich über die täglichen Berichte und Bilder von der Not der Opfer einstellt. Das Gefühl des Mitleids ist eine menschliche Regung, die als solche ungerichtet ist. Um sich zuverlässig ins Freund-Feind-Schema zu fügen, bedarf das Gefühl einer Politisierung, die schnell zu haben ist, wenn sich die eigene Nation in Kriegsfragen mit zuständig macht.

Deshalb dürften künftige Reportagen über russische Mütterchen, die wegen der Wirtschaftssanktionen leiden, von begrenzter Wirkung sein. Putins Schuld! Moralität und Betroffenheit können so in Momente der Parteinahme übergehen, werden von den gegnerischen Lagern auch gezielt dafür funktionalisiert – und erlauben die Fehldeutung, sich auf die richtige Seite zu stellen, sei reine Herzenssache.

Den genannten Fällen eines Übergangs zur rigorosen moralischen Parteilichkeit, der wie selbstverständlich der praktischen Parteinahme des eigenen Staats nachfolgt, stehen auch ein paar kritische Stellungnahmen gegenüber. Wenn sie darauf hinweisen, "auch der Westen" habe 2003 in Bagdad oder 1999 in Belgrad "das Völkerrecht gebrochen", dann könnten sie fragen, warum ihn das nicht anficht.

Etwas anderes liegt vor, wenn einer nach dem Beispiel des Kriegsdienstverweigerers Wolfgang Niedecken "ausgewogen" mitteilt:

Im Irakkrieg, da waren die Amis die Bösen. […] Ich war froh, dass Deutschland sich daran nicht beteiligt hat." Jetzt aber "brauchen wir eine Bundeswehr, die funktionstüchtig ist, […] eine Armee mit geschulten Spezialisten, die wissen, wie man die modernen ferngesteuerten Waffen ins Ziel bringt

Also ungefähr das, was das Vaterland mit der höchsten europäischen "Schuldentragfähigkeit", mit den 100 Milliarden Euro vorhat. "Mensch, was rede ich da überhaupt?", schiebt der Front-Mann von BAP in demonstriertem Selbstzweifel hinterher – bloß um nach dem Hinweis auf den Irakkrieg der USA erneut die Glaubwürdigkeit seiner eindeutigen Parteinahme herauszustreichen.

Ein kritischer Mensch dieser Bauart kann gar nicht anders. "Einem Gegenüber, das dir an den Hals will, ist mit Give Peace a Chance nicht beizukommen." Der dichterische Griff zur Personifikation – der Russe geht dir an den Kragen – soll den moralischen Imperativ bebildern, dass "niemand sich irgendwie wegducken (kann und) alle zur Solidarität verdammt" sind.

Trostlos

Dass die große Mehrheit der Zeitgenossen das so sieht und fühlt, kann aber über zwei Dinge nicht hinwegtäuschen. Das eine betrifft die Frage, die Peter Decker kürzlich hier gestellt hat:

Die Welt erlebt, wie Staaten für ihre Selbsterhaltung – wer dieses "Selbst" ist und was dazu gehört, definieren sie selbst – in großem Stil über Leichen gehen. Und die Menschen, welt- und vor allem europaweit, reagieren: mit bedingungsloser Selbstverpflichtung zu moralischer Parteinahme. […] Man erfährt, was die Privatperson im Krieg zählt, nämlich gar nichts, und wünscht dem Krieg den richtigen Ausgang. Ist man dann eigentlich noch ganz bei Trost?

Trostlos ist zweitens auch das, wovon bisher implizit schon die Rede war. Die Weise nämlich, in der normale und ohnmächtige Bürger die unübersehbare Differenz zwischen sich und den Herren und Damen, die über Krieg und Frieden entscheiden, verstandesmäßig überbrücken und sich mit ihnen gemein machen. Das wird exemplarisch auch im hunderttausendfach angeklickten "Lied vom Nicht-Verstehen" sichtbar, das Kindern wie Erwachsenen gleichwohl einen verständigen Reim auf den Krieg in der Ukraine anbietet:

Warum lügt sich ein gewissenloser Herrscher an die Macht,
der sich einzig für sein Ego interessiert? […] Der ein Nachbarland, das einfach nur in Frieden leben will,
über Nacht beginnt, gewaltsam einzunehmen
und uns mit Atomwaffen bedroht,
wenn wir's wagen, seinen Opfern beizustehen?
Das kann ich beim besten Willen nicht verstehen.

Dass Putin lügt, weiß man von der Außenministerin und aus der Zeitung, woher sonst. Dabei geht aus der Presse eigentlich auch hervor, dass der Kreml seine Kriegsgründe und Friedensziele in ziemlichem Klartext benennt: Russland besteht am Fall eines angrenzenden Staats, dem EU und Nato einen Platz in der "europäischen Sicherheitsordnung" zuweisen wollen, militärisch, daher blutig auf seinem Recht als Großmacht, diese Sicherheit gegenteilig zu definieren.

Wenn der Westen das "nicht versteht" und nur als Ansinnen eines "Egomanen", also gar nicht als Kriegszweck registrieren will, zeigt er, dass dieser Zweck kein Verhandlungsgegenstand ist. Sonst würden ja Nato und EU einräumen, dass sie am Konflikt beteiligte Parteien sind.

Stattdessen handeln sie als die Instanz einer Friedensordnung, als sei die eine fixe Sachlage fern von Machtinteressen. Deren unbedingte Verteidigung soll in einem Stellvertreter- und Abnutzungskrieg auf dem Boden der Ukraine eine Niederlage des Feindes herbeiführen.

Die Drohung mit Atomwaffen, also die Warnung vor ihrem Einsatz, beruht dabei auf Gegenseitigkeit und belegt seitens des Westens, wie sehr er sich des Charakters der Konfrontation bewusst ist, wenn er "es wagt, einem Opfer beizustehen". Auf der Ebene will er sie einstweilen halten – gerade weil der riskante "erste Schritt vom kriegerischen Erpressen zum kriegerischen Zerstören" (Decker, s.o.) ansteht.

Das "Nachbarland, das einfach nur in Frieden leben will", stelle in dieser Eigenschaft laut Regierungserklärung zur "Zeitenwende" (Scholz am 6.3.) Putins "Unterdrückungsregime infrage" und liefere ihm darin den "einzigen Grund" zur Aggression.

Mit der Staatsräson der Ukraine, die sich den Nato- und EU-Beitritt seit 2019 als Verfassungsziel vornimmt, habe das nichts zu tun. Zwar wurde die EU-Aufnahme vom Versailler Gipfel (vom 10.3.) auf unbestimmte Zeit verschoben – nach Mitteilung der ZDF-Korrespondentin wegen "mangelnder Kompatibilität" in marktwirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Hinsicht, und auch die Nato-Aufnahme steht dahin.

An der strategischen Funktionalität des Beitrittsinteresses hält der Westen aber eisern fest. Dass er sich von der Ukraine nicht drängen lässt, sondern sie in seinem Tempo drängt oder bremst, zeigt, wie ihr "Selbstbestimmungsrecht" zu verstehen ist, für das ihr heldenhafter Einsatz gelobt, geschätzt und bewaffnet wird, Opfer und Zwangsrekrutierungen eingeschlossen: So soll die Feindschaft vorankommen, die der Westen einer atomar bewaffneten Gegenmacht erklärt.

Und ausgerechnet dieses kalkulierte, also gefährliche Unterfangen legt sich die große Masse der friedensbewegten Bürger verfremdet und verschoben derzeit als eigenes Anliegen zurecht.