Give War a Chance
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Bemerkungen zur derzeit vorherrschenden Friedensliebe in Öffentlichkeit und Politik
Beim Krieg in der Ukraine scheinen die Dinge so klar zu liegen, dass sogar Kindern ein Urteil darüber zugetraut wird. Als vor gut drei Jahren die ersten Schüler freitags massenhaft gegen den Klimawandel auf die Straße gingen, war das etwas anders. Der jetzige Finanzminister twitterte skeptisch:
[…] von Kindern und Jugendlichen (könne) man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge sehen. Das (sei) eine Sache für Profis.
Im Fall der russischen Invasion hielt der Hamburger Schulsenator die Heranwachsenden allerdings für professionell genug, um ihnen am 3. März für eine riesige Friedenskundgebung von Fridays for Future und anderen schulfrei zu geben. Die jungen Demonstranten zeigten auch, dass sie verstanden haben, was ihr Ex-Kritiker Lindner mit seiner Charakterisierung der Erneuerbaren als "Friedensenergien" meint, und brachten ihr Umweltanliegen gleich doppelt ins Spiel.
Jeder Freund der Dekarbonisierung sei auch ein Gegner der russischen Aggression und umgekehrt, weil die sich aus den Einnahmen für Gas, Öl und Kohle finanziere. Diese Koinzidenz beruht freilich darauf, dass durch die Röhren von Nord Stream 2 noch kein grüner Wasserstoff fließt, wie es die deutsche Energiesystemwende in fernerer Planung hatte.
Tatsächlich kann die bewegte Jugend aber erleben, dass die Verstromung von Braunkohle und vielleicht sogar von Kernkraft als "Friedensenergie" neuen Typs im Gespräch ist, weil "wir" die Russen mit Boykotten wirtschaftlich in die Knie zwingen oder "uns" auf ein Gegenembargo einstellen müssen.
Wie es aussieht, sind die "Fridays" auch diesem Blick auf die "globalen Zusammenhänge" und seinen eventuellen Folgen zugänglich bzw. denken an Alternativen herum, die "Putins Krieg" nicht weniger schaden.
Das wird dann ein schöner Disput mit der rot-grün-gelben Koalition, wenn die darauf besteht, dass ein Kappen aller fossilen Beziehungen zu Russland die deutsche Wirtschaft und damit deren Schlagkraft gegen diesen Feind "derzeit" (Baerbock) zu sehr schwächen würde. "Putin-frei" (Jens Spahn) sei wichtiger als CO₂-reduziert, lautet die aktuelle Ergänzung der schwarzen Opposition zur Energiepolitik.
Pflugscharen zu Schwertern
"Give Peace a Chance" ist die dazu erklingende Begleitmusik auf den zahlreichen Friedensdemonstrationen, und es ist offensichtlich, dass dies nichts mehr mit dem Pazifismus gegen die Nachrüstung in den 1980er-Jahren oder mit dem der Schulbuch-Ikone Mahatma Gandhi zu tun hat. Die heutige "Chance für den Frieden" ergibt sich eher aus der Lieferung schwerer Waffen.
Von etlichen Friedensfreunden sind auch Rufe zu hören, den russischen Kampfjets den ukrainischen Luftraum zu sperren. Es obliegt dann pensionierten Generälen, eine militante Moral zu befrieden, die sich gegenüber der bellizistischen Praxis der Regierung auf der Überholspur befindet.
Viele Friedensbewegte lesen inzwischen auch den Spruch "Schwerter zu Pflugscharen" in umgekehrter Richtung und erklären sich vorauseilend bereit, einen zweiten Pullover oder einen engeren Gürtel zu tragen, damit die wirtschaftlichen Sanktionen auch zu den Waffen werden, die dem feindlichen Staat und seinem Volk nachhaltig schaden.
Die moralische Mobilmachung geht sogar dahin, den letzten Altkanzler zu beschuldigen, im Sold des Kremls zu stehen, und bei der letzten Kanzlerin zu problematisieren (z.B. bei Lanz am 8.3.), ob ihre DDR-Sozialisation nicht zu einer gewissen Naivität gegenüber Putin geführt habe.
Dabei wird freilich übersehen, wie sehr die Politik des "Wandels durch Handel" der Schröder- und Merkel-Regierungen die russische Ökonomie in einen Zustand gebracht hat, der sie jetzt einer finanz- und handelskriegerischen "Ruinierung" (so die deutsche Chefdiplomatin) zugänglich macht.
Die organisieren Frau Baerbock und Herr Habeck im Namen aller europäischen Werte, bringen damit ihre vormaligen Kritiker zum Staunen und punkten beim politischen Schaulaufen. Weil sich die Grünen über die Moral der deutschen Friedens- und Ordnungsmacht hinaus für deren Praxis zuständig gemacht haben, erklingt ein dreifaches "Chapeau!" (CDU-Vizechefin Prien) für die von inneren Opponenten und äußeren Konkurrenten seit Langem geforderte "Einheit von Wort und Tat".
Dass sich die mit der Lieferung von Panzerabwehrraketen und dem Versprechen einer einzigartigen Aufrüstung einstellt, soll offenbar die Güte der neuen "wertegeleiteten Politik" belegen.
"Putin-Versteher"
Viele, die in der Sache anders dachten, schauen nun, wie sie die Kurve kriegen. Ein Beispiel dafür liefert Markus Lanz. Noch am 15. Februar fragte er den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk recht unverblümt: "Was will die Ukraine bloß mit deutschen Waffen?" – und pochte auf seinen eigenen Lösungsvorschlag:
Die Ukraine solle doch einfach auf ihre Nato-Mitgliedschaft verzichten und ihre Neutralität wahren.
Wahrscheinlich hält es ein beruflicher Politikversteher wie Lanz für seine journalistische Aufgabe, das Handeln der hier Regierenden stets am idealen Maßstab des Gelingens zu messen – weshalb die Sache anders für ihn aussieht, wenn diese einen "Paradigmenwechsel" ausrufen.
Ab diesem Datum fragt er dann kritisch nach, ob die politische Faust auch entschlossen genug zuschlägt und ob das vorher angemahnte Fingerspitzengefühl im Umgang mit einer Großmacht nicht eine Schwäche war, die der "Despot" gnadenlos ausgenutzt habe.
"Putin-Versteher" stehen dagegen laut FAZ "am Abgrund – wohin sie allerdings erst einmal gestellt werden. Das betrifft russische Künstler, die sich die Freiheit nehmen, keine Meinung zu äußern. Schon die geistige Distanz zum Kriegsgeschehen, die zum Nachdenken darüber nötig ist, wird als Parteinahme für den Gegner angefeindet.
In der Linkspartei führt das einen bitteren Streit darüber herbei, wie schnell und wie weit sie freiwillig vom "Abgrund" zurücktreten muss, an den sie sich nach Fremd- bzw. Selbsteinschätzung mit solchen Äußerungen begeben hat:
Die Linke wendet sich gegen jegliche Bestrebungen, Russland weiter einzukreisen und daher zu bedrohen. Die Nato hat sich bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt. Rüstungsausgaben und Kriegsführungspläne werden auch hierzulande vorangetrieben.
Beschluss zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion
Wir fordern die Auflösung der Nato und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als zentrales Ziel hat.
Parteiprogramm
Der Linken-Politiker Klaus Ernst plädiert dafür, Russland zuzusichern, dass die Ukraine nicht Nato-Mitglied wird. Es wäre das Beste, wenn sie einen neutralen Status wie Finnland bekäme.
RND, 28.1.22
Gerade der letzte Vorschlag steht in Einklang mit den Bekundungen nicht weniger politischer Experten und Beobachter. Am 24.1.22 hieß es im österreichischen Falter:
Der Politikwissenschaftler Heinz Gärtner plädiert schon lange für einen völkerrechtlich abgesicherten neutralen Status für die Ukraine. Die von Kiew angestrebte Nato-Mitgliedschaft sei ein Irrweg.
Am Tag des Einmarschs "sagte der Politologe Johannes Varwick, der Westen hätte mit Russland über die Neutralität der Ukraine verhandeln müssen" (ntv, 24.2.22). Noch am 10.3. stieß Klaus von Dohnanyi, SPD, eine Talkrunde im ZDF mehrfach vor den Kopf", als er darauf beharrte, "dass wir im Westen nicht kompromissbereit genug waren".
Solche Aussagen idealisieren zweifellos eine bessere deutsche Außenpolitik, bei denen sich die Programmatik der Linken ja in guter Gesellschaft befände. Während aber Teile der Partei die Vertretbarkeit ihrer alten Positionierung zu retten versuchen, wollen andere mit dieser kurz und bündig aufräumen. Gregor Gysi "schreibt, Putin habe die Position der Partei gegen die Osterweiterung der Nato 'insofern widerlegt, als er die Ukraine nicht angegriffen hätte, wenn sie Mitglied der Nato gewesen wäre'."
Eine bestechende Logik, die dahin geht, der Westen könne den Konflikt besser beherrschen, wenn er ihn früher zugespitzt hätte. Die Parteivorsitzende Hennig-Wellsow regt folgende Überlegung an:
Es gehe ihr nicht "ums unbedachte Überbordwerfen von irgendwas, sondern um Aktualisierungen linker Positionen. […] Sagen wir weiterhin jenen, die ihre Sicherheit in der Nato suchen, dass deren Auflösung unser programmatisches Ziel ist?"
Ja, wenn man so fragt, bleibt einem linken "Realismus", der "machbar" sein will, nichts weiter übrig, als die Kritik der Nato mit Bedacht wegzuschmeißen.