Gleichgeschaltete Meisen
Ein auch für menschliche Kultur interessantes Experiment zeigt, wie stark sozialer Druck auf den Erwerb von Verhalten wirkt
Wenn ein Geisteswissenschaftler sagen soll, was "Kultur" ist, muss er sich zwischen weit über hundert Definitionen entscheiden. Biologen haben es da einfacher: Wenn sich Verhaltensweisen zwischen Tieren nicht-genomisch und horizontal verbreiten, dann ist das Kultur. Ähnlich wie tierliche Kommunikationssysteme bei allen Unterschieden als Vorläufer der menschlichen Sprache gelten, werden solche "Traditionen" bei Tieren als Vorform menschlicher Kultur angesehen. Kultur und Sprache sind demnach nicht etwas völlig Neues und Eigenes, das dem Menschen vom Himmel zuteil geworden sein muss, sondern auch nur die höchstentwickelten Formen eines Kontinuums, das bei einfacher Nachahmung unter anderen Tieren beginnt.
Dieses biologische Interesse an den Vorläufern unserer Kultur hat dazu geführt, dass sich die Forschung auf horizontal übertragene Verhaltensweisen bei Affen konzentriert hat - sei es das berühmte Süßkartoffelwaschen unter Japanmakaken, sei es gruppenspezifischer Werkzeuggebrauch bei Schimpansen. Aber auch viele andere Tiere zeigen kulturelle Phänomene: Orcas lehren ihre Jungen die Jagd auf am Strand liegende Robben; eine Elefantenherde in Südafrika ist noch Jahrzehnte, nachdem sie unter starker Bejagung stand, ungewöhnlich scheu, aggressiv und nachtaktiv; und sogar Meisen haben sich - auch dies ein berühmtes Beispiel - in England voneinander abgeschaut, wie man Milchflaschen öffnet.
Die meisten Berichte über kulturelle Übertragung bei Tieren beruhen bislang auf Feldbeobachtungen und Anekdoten. Ein experimentelles Setting zu finden, ist schwierig: Wie soll man eine Verhaltensweise hervorrufen, die sich zur Tradierung eignet? Und was für eine Population ist übersichtlich genug, um den Prozess zu beobachten?
Jetzt waren es wieder die Kohlmeisen in Großbritannien, die der Forschung weitergeholfen haben. In einem Waldgebiet etwas westlich von Oxford haben Forscher um Ben Sheldon, Direktor des Edward Grey Institut für Feldornithologie an der dortigen Universität, bei acht weitgehend getrennten Kohlmeisenpopulationen ein kulturelles Verhalten induziert und konnten beobachten, wie es sich verbreitete. Und mehr als das: Sie konnten die Meisen als Konformisten entlarven.
Voraussetzung für die in Nature erschienene Studie war, dass die Forscher den Wald großzügig mit Meisenkästen bestückt hatten, in denen der größte Teil der örtlichen Kohlmeisen tatsächlich brütete, so dass die Tiere nahezu lückenlos individuell erfasst und beringt werden konnten. Zusätzlich wurden noch Fangnetze aufgestellt, bis rund 700 Vögel, geschätzt über 90% der Tiere in dem Wald, beringt und mit einem RFID-Chip versehen waren.
Dann erfanden die Forscher eine einfach zu lösende Aufgabe für die Meisen: Hinter einer Schiebetür, deren linke Hälfte blau und rechte Hälfte rot gefärbt war, befand sich ein Mehlwurm. Die Meisen konnten ihn erreichen, indem sie die Tür an der blauen Seite nach rechts oder an der roten Seite nach links bewegten. Je zwei Meisenmännchen aus jeder der acht Populationen wurden gefangen. Die Repräsentanten von drei Populationen wurden vier Tage lang darauf trainiert, an der roten Seite zu schieben, die von zwei Populationen darauf, an der blauen Seite anzufassen, und die übrigen waren Kontrollen, die gar nicht trainiert wurden. Dann ließ man die Tiere wieder frei und stellte die Futterspender mit den rot-blauen Türen im Wald auf.
Unter den Populationen, in denen das Verhalten "gesät" worden war, verbreitete es sich im Nu. Schon nach fünf Tagen fingen mehr und mehr Meisen an, die Spender zu nutzen, innerhalb von 20 Tagen hatten 80% der Meisen gelernt, die Türchen zu bedienen. Dass dies nicht einfach daran lag, dass die Aufgabe zu einfach war und sie von selbst darauf gekommen waren, bewiesen die Kontrollpopulationen, wo es doppelt so lange dauerte, bis die Spender angenommen wurden und auch nach 20 Tagen noch weniger als die Hälfte der Tiere auf den Trichter mit der Tür gekommen war.
Zudem blieben die Tiere in jeder Population bei der Methode, die "gesät" worden war: Die Kumpanen von Blautürschiebern schoben fast ausschließlich an der blauen Seite, die von Rottürschiebern die rote. Und dabei blieben die Populationen nicht nur über die Zeit - die Präferenz verstärkte sich sogar noch. Es gab durchaus Vögel, die anfänglich aus der Reihe tanzten und die jeweils abweichende Tür schoben - das Ergebnis war ja dasselbe. Fast alle diese Tiere kamen aber nach einiger Zeit "auf Linie". Und Meisen, die in eine andere Population umzogen, passten sich überwiegend den dortigen Gepflogenheiten an. Die Tendenz zur sozialen Nachahmung war so groß, dass sie ihr Verhalten umstellten, obwohl sie keinen Vorteil davon hatten. Und die Präferenz hatte Bestand: Als die Forscher die Türchenspender im folgenden Winter erneut aufstellten, waren nur noch rund 40% der Populationen am Leben und vor Ort. Aber wieder schossen sich die Tiere auf die in ihrer Population gesäte Methode ein.
Indem sie die Meisen an offenen Futterplätzen beobachteten, wo ihnen Sonnenblumensamen bereitgestellt wurden, erfassten die Forscher auch die sozialen Beziehungen unter den Tieren. So konnten sie ergründen, durch welche sozialen Netze sich das Verhalten verbreitet hatte, und durch mathematische Modellierung bestätigen, dass sich die Ausbreitung des Verhaltens erheblich besser durch eine Diffusion entlang der sozialen Kontakte erklären ließ, als durch Zufall.
Bemerkenswert ist die Studie nicht nur deshalb, weil sie ein kulturelles Verhalten experimentell induzieren und in seiner Verbreitung beobachten konnte. Zum Einen teilte das untersuchte Verhalten eine wichtige Eigenschaft mit menschlicher Sprache und den meisten Setzungen menschlicher Kultur: Es war arbiträr. Die meisten anderen kulturellen Leistungen, die bei Tieren bekannt sind, haben einen mehr oder weniger erkennbaren Nutzen: Wenn Meisen Milchflaschen öffnen, nützt ihnen das. Ebenso profitieren Makaken wahrscheinlich davon, wenn sie ihre Süßkartoffeln waschen und ihren Weizen salzen, und bejagte Elefanten von größerer Scheu. Ja, selbst wo Vögel Gesangdialekte bilden, könnte man der Mundarttreue einen Nutzen im Sinne der sexuellen Selektion unterstellen.
Nichts von alledem aber war hier der Fall: Ob die Meisen die rote oder die blaue Tür schoben, war vollkommen egal. Der Mehlwurm dahinter war derselbe. Und es ist auch nicht anzunehmen, dass eine nonkonformistische Meise zu hören bekommt: "Mit Rotschiebern wie Dir wollen wir Blauschieber nichts zu tun haben." Sondern die Tiere passten sich mit einem vollkommen arbiträren kulturellen Merkmal an die Gruppe an, nur um es so zu machen wie alle.
Und zum Anderen zeigt sie, dass es eine Neigung zu sozialer Konformität nicht nur bei Menschen gibt - die, wie zahlreiche sozialpsychologische Studien gezeigt haben, bereit sind, nicht nur ihr Verhalten zu ändern, sondern sogar dem Zeugnis ihrer Sinne zu misstrauen, wenn eine Mehrheit anderer Ansicht ist. Das ist umso interessanter, als die Abteilung von Michael Tomasello am MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig kürzlich gezeigt hat, dass ausgerechnet Menschenaffen diese Neigung völlig abgeht: Zweijährige Kinder, Schimpansen und Orang-Utans lernten alle dieselbe Aufgabe, in der ein bestimmtes Verhalten belohnt wurde. Dann beobachteten sie andere Artgenossen dabei, die Aufgabe auf andere Weise zu lösen. Bei Wiedervorlage der Aufgabe wechselte mehr als die Hälfte der Kinder zu der beobachteten Strategie, aber so gut wie keiner der Affen. Dass die Kinder vor allem dann wechselten, wenn das andere Kind noch da war, unterstützt die Interpretation, dass sie durch den Wunsch nach sozialer Konformität motiviert waren.
Menschenaffen "bleiben sich treu", schreibt die Max Planck Gesellschaft dazu - und demonstriert damit die Zwiespältigkeit dieses Verhaltens. Einerseits ist die soziale Anpassung eine Fähigkeit, die - wie die MPG ebenfalls schreibt - "hilft [...], gemeinsame Aktivitäten zu koordinieren". Sie ist ein Bestandteil sozialer Intelligenz, welche die Voraussetzung ist für Kultur. Gerade die Forschung von Tomasello hat in den letzten Jahren umfassend gezeigt, dass den anderen Primaten diese Form von Intelligenz weitgehend fehlt. Andererseits aber entsteht durch diese Neigung zur Konformität auch eine Selbst-Gleichschaltung, wie sie nicht nur in experimentellen Settings, sondern etwa auch in den westlichen Medien zu beobachten ist. Menschenaffen können sich nicht gleichschalten, also können sie sich auch nicht treu bleiben: Die eine Fähigkeit entsteht erst mit der anderen. Ob Meisen dabei eine bessere Balance finden als Menschen, ist noch unerforscht.