Globale Kriegsgefahr: Die Zeit drängt

Seite 2: Die Nato-Osterweiterung: ein gerne weggelassenes Kapitel

Auch heute stehen viele Bewertungen der Fakten zum Ukraine-Krieg unvereinbar gegeneinander. Für die einen ist der Einmarsch russischer Truppen vom 24. Februar 2022 ein unprovozierter imperialer Akt. Für die anderen ist die Nato-Osterweiterung mit all ihren militärischen Folgen für die Eskalation der Spannungen im Vorfeld verantwortlich, weil Russland unbedingt verhindern will, dass die Ukraine zum Aufmarschgebiet der Nato direkt vor der russischen Grenze wird. Der Wortbruch der Osterweiterungspolitik ist in Archiven belegt, stellt allerdings keine Rechtfertigung für die russische Invasion dar.

Der sozialdemokratische Außenpolitiker Michael Roth redete schon im Frühjahr 2022 nun einer militärischen Lösung das Wort: "Die Ukrainerinnen und Ukrainer können sich nur verteidigen mit Waffen – und dabei sollten wir sie rasch und umfassend unterstützen." Vor wenigen Tagen begründete Roth seine unveränderte Position damit, dass nach seiner Einschätzung Russland "die Ukraine aus faschistisch-imperialistischen Gründen angegriffen" habe. Mit Faschisten lässt sich eben kein Frieden auf dem Weg der Diplomatie erreichen, so die Logik dahinter.

Der Verzicht auf diplomatische Initiativen ist aber alleine schon wegen der nuklearen Infrastruktur der Ukraine unverantwortlich.

Die zeitweilige Täuschung der Öffentlichkeit und auch Russlands wird auch dadurch deutlich, dass Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) nach Darstellung des Nato-Generals a. D. Harald Kujat mit den Verhandlungen zum Minsk II-Abkommen im Normandie-Format nicht die Erfüllung dieses Vertrags der Ukraine mit Russland verfolgte, sondern nur auf einen militärisch nutzbaren Zeitgewinn aus war.

An dieses Kapitel der Vorgeschichte zu erinnern, das den Krieg begünstigt hat, bedeutet mitnichten eine Unterstützung des russischen Vorgehens, das sich auch ohne Ausweitung des Krieges europaweit katastrophal auswirken kann, wenn wieder einmal Kampfhandlungen im direkten Umfeld von Atomkraftwerken stattfinden. Dies wird allerdings durch das Vorgehen der Nato keineswegs unwahrscheinlicher.

Wie vor mehr als 100 Jahren gilt aber ganz offensichtlich, was Hannes Wader im Lied "Es ist an der Zeit" über einen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg sang: "Ja, auch Dich haben sie schon genauso belogen. So wie sie es mit uns heute immer noch tun. Und du hast ihnen alles gegeben: Deine Kraft, Deine Jugend, Dein Leben."

Zur Legendenbildung der politisch Verantwortlichen zählt die Beschreibung der Kriegsgründe, wie sie Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner "Zeitenwende"-Rede tätigte, ebenso wie das Mantra von der neuen Qualität dieses Krieges im Vergleich zu all den – unerwähnten – anderen Kriegen seit 1945:

Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage.


Aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022

Was zutrifft: Wir befinden uns in einem der, wenn nicht dem gefährlichsten Moment der Menschheitsgeschichte. Zu den Atomanlagen im betroffenen Land kommt auch noch die Gefahr einer nuklearen Eskalation des Kriegsgeschehens selbst.

Damit ist die Menschheit so nah am Untergang infolge eines jahrelangen nuklearen Winters wie seit der Kuba-Krise 1962 nicht mehr – dem Zeitpunkt, den der US-Stratege Artur Schlesinger als den gefährlichsten der Geschichte gekennzeichnet hat.

Die These der Alleinverantwortung Russlands für die Eskalation der Gefahren und die damit verbundene "strategische Kommunikation", die auch in der Bevölkerung zu einem größeren Zuspruch für die Nato geführt hat, baut auf Desinformation auf, wie sie in allen Kriegen zu beobachten ist.

Das Archivstudium führt zur Aussage des damaligen US-Präsidenten George H. W. Bush aus seiner "State oft the Union"-Rede vom 28. Januar 1992, also fast auf den Tag genau vor 31 Jahren. Das größte, was in der Welt geschehen sei, sei dies: "Durch die Gnade Gottes hat Amerika den Kalten Krieg gewonnen", befand Bush senior damals.

Diese Sichtweise bricht mit den völkerrechtlich relevanten Texten wie der Charta von Paris, in der der epochale Satz steht: "Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden".

Die gleiche Anforderung an die internationale Politik, eine Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit aufzubauen, befindet sich in der KSZE-Schlussakte für eine Sicherheitsordnung in Europa von 1975, im Zwei-plus-Vier-Vertrag über die Bildung der Deutschen Einheit von 1990 und sogar in der Nato-Russland-Akte von 1997.

Womit die Nato rechnete und worauf sie sich vorbereitete

Die Nato wusste, was sie mit dem Bruch der Zusagen zur Nato-Osterweiterung um 14 Staaten tat. Die Nato Strategie-Schmiede "Joint Air Power Competence Centre" bekundete auf ihrer Jahrestagung im November 2014, es sei anzuzweifeln, dass es keinen großen Krieg ("major war") mehr in Europa geben

In der Materialsammlung "Future Vector" für diese Tagung werden auf Seite 141 als Ausgangspunkt für diese Entwicklung Regionen direkt westlich der russischen Westgrenze erwähnt. Auch die mögliche Antwort der Militärs auf dieses Szenario wird erläutert – als "angemessener Mix aus nuklearen und konventionellen Kapazitäten" auf Seite 70.

Im November 2021 drohte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg beim Nato-Talk der Deutschen Atlantischen Gesellschaft gar mit der Stationierung von Atomwaffen in Osteuropa.

Dies ist die Umkehrung der Kuba-Krise, in der J. F. Kennedy mit einem Atomschlag drohte, sollten die Sowjetunion ihre Nuklearpotentiale nicht wieder von Kuba abziehen. Die USA würden keine solchen Potentiale der Sowjetunion ‚vor der eigenen Haustür keineswegs hinnehmen‘.

Auf den Bruch der Vereinbarungen über gemeinsame Sicherheit durch die Nato-Osterweiterung folgen inzwischen auch erste "Gedankenspiele" über die Stationierung offensiver Atomwaffen östlich von Deutschland, also in einer Entfernung zur russischen Grenze, die Offensivwaffen in Minuten hinter sich lassen.

Die US-Botschafterin in Warschau, Georgette Mosbacher erklärte im Mai 2020, Polen könnte die neuartigen nuklearen Angriffs-Potentiale B 61-12 vielleicht "beherbergen", da es "die Risiken versteht und an der Ostflanke der Nato liegt".

Die B 61-12 gilt laut US-General Cartwright als besonders gebrauchsfreudig, da sie differenziert dosierbar und mit einem präzisen Zielfindungssystem ausgestattet ist.

Der Aufruf zur ersten großen Demonstration der Friedensbewegung vor vier Jahrzehnten machte unter dem Motto "Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen" mit dem Satz auf, die 1980er-Jahre würden "mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit".

Damals standen die Grünen und die Mehrheit der Sozialdemokratie auf der Seite der Friedensbewegung. Die "strategische Kommunikation", der Nato, wie sie selbst ihre Propaganda nennt, hat erfolgreich dazu beigetragen, dass das aktuell nicht mehr so ist. Die Zeit drängt. Jeden Tag kann passieren, was nicht passieren darf.