Globale Kriegsgefahr: Die Zeit drängt
Der UN-Generalsekretär fürchtet, dass sich die Welt auf einen großen Krieg zubewegt. Die Nato hält dennoch nichts von Diplomatie. Russland sei schießlich allein schuld.
Vor 109 Jahren, in den Monaten vor der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, mit fast 23 Millionen Toten, darunter Soldaten und Zivilisten herrschte im Deutschen Reich Kriegseuphorie vor.
Heute herrscht in vielen Medien, darunter die größten, eine Kommunikation vor, die auf schwere Waffen statt Diplomatie orientiert. Wer den bellizistischen Weg führender Medien nicht mitgeht, wird mitunter als Putin-Versteher oder Möchtegernpazifist abgetan. Gegner des Nato-Kurses und Befürworter von Diplomatie erhalten auch schon einmal den Stempel, für einen "toxischen Pazifismus" zu stehen.
Dabei sprechen die Worte des UN-Generalsekretärs für sich:
Ich befürchte, die Welt schlafwandelt nicht in einen größeren Krieg hinein – ich befürchte, sie tut dies mit weit geöffneten Augen.
António Guterres, UN-Generalsekretär, Februar 2023
Die Lesart der Nato spitzt sich dagegen in der Darstellung zu, dass eben Russland – anders als vorgeblich Nato-Staaten – "immer und immer wieder zu denselben Schandtaten ansetzt", wie es SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zusammenfasst.
"Immer und immer wieder" sollte eigentlich heißen, dass es erlaubt ist, in diesem Zusammenhang auch andere Kriege als den aktuellen in der Ukraine zu thematisieren. Die Kriege in Vietnam, im Irak, auf dem Balkan, in Afghanistan, in Libyen und im Jemen werden aber mit diesem Nato-Narrativ aus der politischen und medialen Wahrnehmung gelöscht – sonst ließe sich das Schwarz-Weiß-Bild vom Nordatlantikpakt als blitzsauberer Gegenspieler Russlands nicht aufrechterhalten.
Wer sich der Nato-Politik und -Propaganda widersetzt, ist noch lange kein Unterstützer der russischen Invasion in die Ukraine. Neben dem menschlichen Leid, das der Moskauer Kriegskurs im Nachbarland verursacht, steigert er die Gefahr einer nuklearen Bedrohung der Zivilisation Europas. Letzteres tut allerdings auch die Lieferung schwerer Waffen aus Nato-Staaten in die Ukraine – ein Land, das seinen Strom zu rund 60 Prozent in Atomkraftwerken produziert.
Immer mehr Waffen
Die Gefahrendynamik zeigt sich in im Rhythmus der öffentlichen Kommunikation über Waffen und in der Folge deren Lieferung an die ukrainische Armee:
Als es vor Monaten um Schützenpanzer vom Typ Marder für die Stärkung der Armee der Ukraine ging, hieß es von Seiten der Ampel-Regierung im Einklang mit den meisten Medien, es müsse alles getan werden, um eine Kriegsbeteiligung Deutschlands zu vermeiden.
Als es Wochen später um Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 ging, wiederholten Führungskräfte in Berlin diese Warnung vor einer deutschen oder gar Nato-Kriegsbeteiligung erneut, nun auf dem neuen, waffentechnisch höheren Niveau.
Aktuell geht es um Tornado-, F-16- und F-35-Kampfjets – und die Stimmen in der Ampel-Regierung fallen erneut unterschiedlich aus, wie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken deutlich macht, die auch die Lieferung von Kampfjets nicht ausschließt, nachdem Kanzler Scholz zunächst betonte, diese Frage stelle sich doch gar nicht.
Mit Erklärungen, die vor einer deutschen Kriegsbeteiligung warnen, streut das politische Personal allerdings Sand in die Augen der Bevölkerung – denn laut einem Gutachten der wissenschaftlichem Dienste des Bundestags verlässt bereits den "gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung", wer Kriegswaffen liefert und Soldaten in deren Anwendung schult.
Statt einer diplomatischen Lösung, wie sie unter anderem der brasilianische Präsident Lula da Silva fordert, wird in Nato-Staaten ein militärischer Sieg der Ukraine angestrebt.
Mit dem militärischen Sieg einer Seite wäre aber ein hoher Blutzoll auf beiden Seiten und eine Eskalationsgefahr bis zur Möglichkeit eines nuklearen Infernos verbunden, aber keine Lösung des Grundkonflikts. Mit derartigen Worten von Frieden zu sprechen, offenbart die vom Bellizismus ausgehende Verblendung.
Erster Weltkrieg: Unterschiede und Parallelen
Diese Methode der Beschwichtigung ist bekannt, wie sich zum Beispiel an der Thronrede von Kaiser Wilhelm II zur Kriegserklärung zeigte. Ein bedeutender Unterschied zu heute ist, dass in diesem Fall das Deutsche Reich zuerst in fremdes Territorium eingedrungen war.
Vergleichbar ist aber die Art und Weise, wie der erwartbare Blutzoll und der Preis, den die Bevölkerung auf allen Seiten zahlen würde, heruntergespielt wurden, um breite Zustimmung für den Waffengang und die Kriegskredite zu erlangen: Man habe sein Möglichstes getan, um diesen Krieg zu verhindern. Der jetzt erfolgende Verteidigungskrieg gegen Frankreich und Russland sei "Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens (…) In auf gedrungener Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert."
In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion kritisierte damals nur Karl Liebknecht die Unterstützung der Kriegskredite für den Kaiser – zunächst gegen Russland:
Selbst vom denkbar "nationalsten" Standpunkt aus hat unsere Fraktion einen ungeheuerlichen Fehler gemacht. Durch ihre Zustimmung hat sie zugleich alle Dämme niedergerissen.
Karl Liebknecht, Reichstagsabgeordneter der SPD im September 1914
Die heutige Vorgehensweise vieler Sozialdemokraten zeigt, wie schwer es ist, aus der Geschichte zu lernen.
Die Propaganda von der angeblichen Unschuld des Deutschen Reiches konnte und kann nur unter Ausblendung der Archivforschung vertreten werden.
Die Nato-Osterweiterung: ein gerne weggelassenes Kapitel
Auch heute stehen viele Bewertungen der Fakten zum Ukraine-Krieg unvereinbar gegeneinander. Für die einen ist der Einmarsch russischer Truppen vom 24. Februar 2022 ein unprovozierter imperialer Akt. Für die anderen ist die Nato-Osterweiterung mit all ihren militärischen Folgen für die Eskalation der Spannungen im Vorfeld verantwortlich, weil Russland unbedingt verhindern will, dass die Ukraine zum Aufmarschgebiet der Nato direkt vor der russischen Grenze wird. Der Wortbruch der Osterweiterungspolitik ist in Archiven belegt, stellt allerdings keine Rechtfertigung für die russische Invasion dar.
Der sozialdemokratische Außenpolitiker Michael Roth redete schon im Frühjahr 2022 nun einer militärischen Lösung das Wort: "Die Ukrainerinnen und Ukrainer können sich nur verteidigen mit Waffen – und dabei sollten wir sie rasch und umfassend unterstützen." Vor wenigen Tagen begründete Roth seine unveränderte Position damit, dass nach seiner Einschätzung Russland "die Ukraine aus faschistisch-imperialistischen Gründen angegriffen" habe. Mit Faschisten lässt sich eben kein Frieden auf dem Weg der Diplomatie erreichen, so die Logik dahinter.
Der Verzicht auf diplomatische Initiativen ist aber alleine schon wegen der nuklearen Infrastruktur der Ukraine unverantwortlich.
Die zeitweilige Täuschung der Öffentlichkeit und auch Russlands wird auch dadurch deutlich, dass Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) nach Darstellung des Nato-Generals a. D. Harald Kujat mit den Verhandlungen zum Minsk II-Abkommen im Normandie-Format nicht die Erfüllung dieses Vertrags der Ukraine mit Russland verfolgte, sondern nur auf einen militärisch nutzbaren Zeitgewinn aus war.
An dieses Kapitel der Vorgeschichte zu erinnern, das den Krieg begünstigt hat, bedeutet mitnichten eine Unterstützung des russischen Vorgehens, das sich auch ohne Ausweitung des Krieges europaweit katastrophal auswirken kann, wenn wieder einmal Kampfhandlungen im direkten Umfeld von Atomkraftwerken stattfinden. Dies wird allerdings durch das Vorgehen der Nato keineswegs unwahrscheinlicher.
Wie vor mehr als 100 Jahren gilt aber ganz offensichtlich, was Hannes Wader im Lied "Es ist an der Zeit" über einen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg sang: "Ja, auch Dich haben sie schon genauso belogen. So wie sie es mit uns heute immer noch tun. Und du hast ihnen alles gegeben: Deine Kraft, Deine Jugend, Dein Leben."
Zur Legendenbildung der politisch Verantwortlichen zählt die Beschreibung der Kriegsgründe, wie sie Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner "Zeitenwende"-Rede tätigte, ebenso wie das Mantra von der neuen Qualität dieses Krieges im Vergleich zu all den – unerwähnten – anderen Kriegen seit 1945:
Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage.
Aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022
Was zutrifft: Wir befinden uns in einem der, wenn nicht dem gefährlichsten Moment der Menschheitsgeschichte. Zu den Atomanlagen im betroffenen Land kommt auch noch die Gefahr einer nuklearen Eskalation des Kriegsgeschehens selbst.
Damit ist die Menschheit so nah am Untergang infolge eines jahrelangen nuklearen Winters wie seit der Kuba-Krise 1962 nicht mehr – dem Zeitpunkt, den der US-Stratege Artur Schlesinger als den gefährlichsten der Geschichte gekennzeichnet hat.
Die These der Alleinverantwortung Russlands für die Eskalation der Gefahren und die damit verbundene "strategische Kommunikation", die auch in der Bevölkerung zu einem größeren Zuspruch für die Nato geführt hat, baut auf Desinformation auf, wie sie in allen Kriegen zu beobachten ist.
Das Archivstudium führt zur Aussage des damaligen US-Präsidenten George H. W. Bush aus seiner "State oft the Union"-Rede vom 28. Januar 1992, also fast auf den Tag genau vor 31 Jahren. Das größte, was in der Welt geschehen sei, sei dies: "Durch die Gnade Gottes hat Amerika den Kalten Krieg gewonnen", befand Bush senior damals.
Diese Sichtweise bricht mit den völkerrechtlich relevanten Texten wie der Charta von Paris, in der der epochale Satz steht: "Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden".
Die gleiche Anforderung an die internationale Politik, eine Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit aufzubauen, befindet sich in der KSZE-Schlussakte für eine Sicherheitsordnung in Europa von 1975, im Zwei-plus-Vier-Vertrag über die Bildung der Deutschen Einheit von 1990 und sogar in der Nato-Russland-Akte von 1997.
Womit die Nato rechnete und worauf sie sich vorbereitete
Die Nato wusste, was sie mit dem Bruch der Zusagen zur Nato-Osterweiterung um 14 Staaten tat. Die Nato Strategie-Schmiede "Joint Air Power Competence Centre" bekundete auf ihrer Jahrestagung im November 2014, es sei anzuzweifeln, dass es keinen großen Krieg ("major war") mehr in Europa geben
In der Materialsammlung "Future Vector" für diese Tagung werden auf Seite 141 als Ausgangspunkt für diese Entwicklung Regionen direkt westlich der russischen Westgrenze erwähnt. Auch die mögliche Antwort der Militärs auf dieses Szenario wird erläutert – als "angemessener Mix aus nuklearen und konventionellen Kapazitäten" auf Seite 70.
Im November 2021 drohte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg beim Nato-Talk der Deutschen Atlantischen Gesellschaft gar mit der Stationierung von Atomwaffen in Osteuropa.
Dies ist die Umkehrung der Kuba-Krise, in der J. F. Kennedy mit einem Atomschlag drohte, sollten die Sowjetunion ihre Nuklearpotentiale nicht wieder von Kuba abziehen. Die USA würden keine solchen Potentiale der Sowjetunion ‚vor der eigenen Haustür keineswegs hinnehmen‘.
Auf den Bruch der Vereinbarungen über gemeinsame Sicherheit durch die Nato-Osterweiterung folgen inzwischen auch erste "Gedankenspiele" über die Stationierung offensiver Atomwaffen östlich von Deutschland, also in einer Entfernung zur russischen Grenze, die Offensivwaffen in Minuten hinter sich lassen.
Die US-Botschafterin in Warschau, Georgette Mosbacher erklärte im Mai 2020, Polen könnte die neuartigen nuklearen Angriffs-Potentiale B 61-12 vielleicht "beherbergen", da es "die Risiken versteht und an der Ostflanke der Nato liegt".
Die B 61-12 gilt laut US-General Cartwright als besonders gebrauchsfreudig, da sie differenziert dosierbar und mit einem präzisen Zielfindungssystem ausgestattet ist.
Der Aufruf zur ersten großen Demonstration der Friedensbewegung vor vier Jahrzehnten machte unter dem Motto "Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen" mit dem Satz auf, die 1980er-Jahre würden "mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit".
Damals standen die Grünen und die Mehrheit der Sozialdemokratie auf der Seite der Friedensbewegung. Die "strategische Kommunikation", der Nato, wie sie selbst ihre Propaganda nennt, hat erfolgreich dazu beigetragen, dass das aktuell nicht mehr so ist. Die Zeit drängt. Jeden Tag kann passieren, was nicht passieren darf.