Grenfell Tower

Seite 2: Architektur und Tod

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Die folgende Feststellung klingt trivial. Sie macht jedoch den Kern des Komplexes aus: In einem dreistöckigen Familienhaus oder in einem ähnlich hohen Reihenhaus passieren andere Dinge, auch der Tod tritt dort zuweilen auf. Doch die Multiplikation, die virale Verbreitung, die zivilisatorische Geschwindigkeit (wie man mit Paul Virilio sprechen könnte) finden in Hochhäusern einen verstärkenden Effekt.

Ballard schildert eine "upward mobility", wie es im Englischen heißt, den Traum vom sozialen Aufstieg, dessen Richtung der Autor wörtlich nimmt - vertikal. "Vielleicht könnten wir in ein höheres Stockwerk ziehen?"6

Wer weiter oben wohnt, der führt ein besseres Leben. Der hat einen besseren Überblick über die Stadt, die Geschäfte, die Tendenzen und Bewegungen der nahen Zukunft.

Die Gefährlichkeit einer kulturellen Analyse von Gebäuden mit realen Unglücken wie dem in London ist es, ungewollt Metaphern zu liefern. Der Flächenbrand, der eben nicht nur Feuer integriert, sondern Gedanken, Gewalt und Aktionen, die dem Zusammenleben schaden.

Oder bezogen auf den Grenfell Tower: die Unmöglichkeit, zu fliehen, weil entsprechende Erkenntnisse in Bezug auf den Brandschutz nur mangelhaft oder gar nicht umgesetzt wurden. Die Größe des Gebäudes bedingt die hohe Zahl an Opfern. Jeder tote Mensch ist einer zuviel.

James G. Ballard und David Cronenberg gehören zu einer dystopischen Tradition, die in entsprechenden Werken zum "Hochhaus-Komplex" nicht ohne Tote auskommen. Ob existentialistisch begründet wie bei Cronenberg oder lakonisch-beobachtend bei Ballard: Hochhäuser provozieren Chaos.

In der Realität sind Unruhen durchaus denkbar: Aus einem Nachbarstreit entwickelt sich eine "Privatschlacht" - dem Nachbarn gönnt man nicht die eine Stunde pro Tag überlauten Musikkonsums oder wiederholte Male sorgt ein im Sommer beim Müll abgelegter Fisch für Madenbefall. Aus kleinen Details entwickelt sich eine Lawine.

Die Anonymität im Mietshaus wird im Hochhaus durch seine Vielzahl an Wohnungen gesteigert. Der Grenfell Tower gehört zum Sozialwohnungsbau der 1970er Jahre und in Großbritannien herrschen laut Aussage des Leiters der Frankfurter Feuerwehr, Reinhard Ries, nicht so strikte Brandvorschriften beziehungsweise wurden sie in vielen Fällen missachtet.

Es fällt auf, dass Ballard Behördenversagen ausspart. Die Bewohner von High Rise entwickeln zunehmend offen zu Tage tretende Aggressionen. Das Hochhaus wurde mit viel Aufwand konstruiert. Dennoch scheinen unbewusste Assimilationsschwierigkeiten aufzutreten. Ballard lässt es in seinem Roman unbeantwortet, welche technischen Defekte oder Baumängel zu den verschiedenen Ausfällen der Technik führen.

In den 1970er Jahren steigt der Bedarf nach günstigem Wohnraum. Entsprechend erteilt die gemeinnützige Wohnraumverwaltung in North Kensington einige Aufträge zum Hochhausbau. 20% der neuen Wohnhäuser im Bezirk sind Hochhäuser. Laut der Grenfell Action Group wurde die Brandschutzausrüstung im Grenfell Tower seit drei Jahren nicht gewartet. Die zuständige Hausverwaltung - die Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation (TMO) - hat es zudem versäumt, für freie Fluchtwege zu sorgen. Häufig waren diese mit Sperrmüll zugestellt. Für die Brandriegel unter der Fassade ist brandunsicheres Material verarbeitet worden.

Szenen, die so auch in Ballards Buch auftauchen. Das High Rise verliert zunehmend an Lebensqualität: Bewohner besetzen Etagen und Fahrstühle, die Geschäfte im Hochhaus werden demoliert und geplündert, in den Swimmingpool uriniert und Hunde der vermögenden Bewohner ertränkt, Menschen stürzen aus großer Höhe und sterben. Ob Selbstmord oder Mord bleibt ungeklärt.

Im Grenfell Tower sollen Menschen, nach Zeugenberichten, aus Fenstern vor dem Feuer geflohen sein. Es galt die "Stay put!"-Regel, was heißt: bei Feuerausbruch im Haus sollen die Bewohner in der eigenen Wohnung bleiben. Es sei denn, es bricht Feuer in der Wohnung oder im Hausflur aus. Ein Foto von den obersten Stockwerken zeigt die grausigen Konsequenzen des Flächenbrands. 79 Menschen sind gestorben, unter anderem auch an der Entwicklung der giftigen Rauchgase. In der britischen und internationalen Presse gibt es bereits Hintergrundberichte.

Bald werden sich diverse Medien auch dem Schicksal einiger der Verstorbenen annehmen: Wer waren sie? Wo haben sie gearbeitet? Wie sah ihr Leben aus? Welche Beziehung hatten sie zum Viertel?

Gut vorstellbar, dass sich Ballard dieses Unglücks in einer Short Story annehmen würde. (Wenn er nicht bereits 2009 verstorben wäre.) Wie nähert man sich einer solchen Katastrophe?

Ein Zitat7 aus "High Rise" zeigt, wie sich Ballard einer Kette von Unglücken sprachlich annähert.

Kurz nach neun versetzte an jenem Abend ein Stromausfall die neunte, zehnte und elfte Etage vorübergehend in Dunkelheit. Wenn er auf diese Episode zurückblickte, überraschte Laing das Ausmaß des Durcheinanders während der fünfzehn Minuten Finsternis. Etwa zweihundert Menschen hielten sich in der Halle des zehnten Stocks auf, und viele wurden verletzt, als alles in wilder Flucht zu mehreren absurden, aber unangenehmen Auseinandersetzungen zwischen denen, die zu ihren Wohnungen in den unteren Stockwerken hinunterfahren wollten, und den Bewohnern aus den oberen Etagen, die darauf bestanden, nach oben in die kühleren Höhen des Gebäudes zu entweichen. Während des Stromausfalls wurden zwei der zwanzig Fahrstühle außer Betrieb gesetzt. Die Klimaanlage war abgeschaltet worden, und eine Frau, die zwischen dem zehnten und elften Stock mit dem Fahrstuhl steckenblieb, wurde hysterisch, möglicherweise weil sie das Opfer einer leichten sexuellen Belästigung geworden war.

James Graham Ballard: Hochhaus

Abgesehen von den teilweise gewagten Metaphern und Bildern könnte dieser Absatz auch in einem etwas freier formulierten Artikel der Presse stehen. Die Vor- und Nachteile einer zeitgenössischen Technik werden von Ballard wiederholt in seinen Werken abgewogen.

In Ballards Buch spiegelt der Wolkenkratzer eine Stadt in Miniatur wider. Der komprimierte und stark aufgegliederte Wohnraum mit den entsprechend geschnittenen Wohnungen trägt sicher zur Eskalation bei. Man liegt nicht unbedingt falsch, wenn man Ballards Roman als Seismographen versteht: In den Perspektiven des Psychologen Laing, des Hochhaus-Architekten Royal und des TV-Mitarbeiters Wilder zerfällt das soziale Gefüge im High-Rise und mit ihm das Gebäude.

Aussichtspunkt

Die britische Regierung eilte sich nach dem Desaster, andere Hochhäuser im Land auf die Brandsicherheit zu prüfen. Ein Großteil der High-Rise-Buildings im UK zeigen Zustände, die nicht den bestehenden Vorschriften entsprechen. Die Bewohner dieser Wohnblocks leben in Feuerfallen.

Was Ballard in den 1970er Jahren beim Bau der Wohnsilos beobachtete und dann in eine mögliche Katastrophe parabolisierte und was Cronenberg als Kulisse seines parasitären Körperhorrors auswählte, hat sich im Juni als tödliche Fahrlässigkeit erwiesen. Ballard und Cronenberg werden einer politisch bewussten und technikkritischen Science Fiction zugerechnet.

Vielleicht könnten Entscheidungsträger von Zeit zu Zeit einen interessierten und zugleich skeptischen Blick in solche Szenarien werfen, um für die Zukunft entsprechende Vorkehrungen zu treffen und mögliche Fehler in der Vergangenheit zu korrigieren?

Ein Taschenbuch oder eine DVD können nicht ein Expertengutachten ersetzen. Die Kosten halten sich aber deutlich geringer und als Ergänzung für einen kritischen Blick auf die Architektur der eigenen Stadt wären die dreißig, vierzig Euro sicher gut investiert. Vielleicht hätte mancher Dezernent eine gute, lebensrettende Idee bekommen.

Das bleibt zuletzt Spekulation. Das Traurige dabei ist: Diese ist immer in die Zukunft gerichtet, und bringt die Toten nicht wieder zurück.