Grenzen - Schutz der Vielfalt und der sozialen Gerechtigkeit?
Ein Gespräch über mögliche Reaktionen auf die Globalisierungsprozesse mit Ernst Ulrich von Weizsäcker
Das Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie, dessen Präsident Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker ist, lädt am 21. und 22.11. zusammen mit dem Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen zu einem Kongreß mit dem Titel "Grenzen-los? Jedes System braucht Grenzen - aber wie durchlässig müssen diese sein?" Durch Vorträge von internationalen Experten und Diskussionen soll ein Bewußtsein über die Notwendigkeit von biologischen, kulturellen, wirtschaftlichen, rechtlichen, ökologischen und technischen Grenzen im Kontext der überwältigenden Globalisierungsprozesse geschaffen und die moderne Tendenz der Überwindung von Grenzen als Motor des Fortschritts hinterfragt werden. Über die Motive, Gefahren und Ziele dieser Veranstaltung sprach Florian Rötzer mit Ernst Ulrich von Weizsäcker.
In der Ankündigung zur Veranstaltung heißt es lapidar: "Wenn ein Damm bricht, gibt es eine Überflutung. Platzt ein Blutgefäß, kommt es zu einer inneren Blutung. Breitet sich ein Krankheitserreger aus, so nennt man das eine Epidemie. Dämme, Wände, Grenzen, Gesetze gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung höherer Organisationsformen."
Die Frage, welche Grenzen in der Wucht der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse und der nahezu alternativenlosen neoliberalstischen Ideologie des freien Marktes bewahrt oder neu geschaffen werden sollen, stellt sich heute in der Tat wieder auf ganz neue Weise, wenn es um die Erhaltung des Standorts mit allen damit zusammenhängenden Problemen geht. Überstürzt und planlos reagieren die politischen Instanzen auf die neuen Herausforderungen, während die Menschen mehr und mehr ängstlich werden und den Bau von neuen Mauern fordern. Innerhalb der Gesellschaft werden durch die einseitige Verteilung des Wohlstands neue Grenzen errichtet und setzt sich eine Homogenisierung der sozialen Schichten durch, während in vielen Ländern Konflikte zwischen ethnischen Gruppen aufflackern.
Die Globalisierung geht einher mit einer tiefen Fragmentarisierung und der Errichtung neuer Mauern. Weil also die Frage nach den Grenzen "heiß" ist, kann man dadurch schnell in ein politisches Fahrwasser mit gefährlichen Untiefen geraten. Auch die Analogie von kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Systemen mit biologischen Systemen scheint, wie gerade Deutsche aus ihrer Geschichte wissen, nicht unproblematisch zu sein.
Sie haben eine Veranstaltung mit dem Titel "grenzen-los?" organisiert und die Frage nach der Notwendigkeit von Grenzen angesichts der aktuellen Globalisierungsprozesse und euphorischen Besetzungen der unbeschränkten Beweglichkeit direkt mit der Biologie verbunden. Es stimmt, daß man heute den Zerfall der Grenzen überall hochspielt, daß man propagiert, man müsse sich den vor allem wirtschaftlichen Globalisierungsprozessen auf Gedeih und Verderben anpassen. Bei den "Verlierern" hingegen entsteht mehr und mehr Angst und man fordert, daß man die Grenzen besonders vor den Einwanderern dichter schließen soll. Wenn Sie als Veranstalter sagen, daß jedes System Grenzen benötigt und dabei die Plausibilität biologischer Organismen benutzen, dann ist das vielleicht jetzt angesichts der ganzen nationalistischen und ethnischen Tendenzen der Ein- und Abgrenzung möglicherweise ein politisch ziemlich heißes Thema.
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Selbstverständlich, aber es steht ja auch in dem Text, daß die Welt die Überwindung von Grenzen mit Recht als großen Fortschritt gefeiert hat. Die Überwindung der europäischen nationalstaatlichen Grenzen ist als Verhinderung von neuen europäischen Kriegen sicher die größte Leistung der Nachkriegszeit gewesen. Die Überwindung der Apartheid, die Überwindung der sozialen Schranken, die Abschaffung der Sklaverei, all das waren Fortschritte, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Wenn man aber die Grenzüberwindung und die Zerstörung von Grenzen ideologisiert, wie das heute geschieht, dann besteht gerade die Gefahr, daß wir in eine Art jugoslawischen oder nord-irischen Provinzialismus zurückfallen.
Die "Grenzen des Wachstums" und die Notwendigkeit, das wirtschaftliche Wachstum zu beschränken oder ökologisch anders zu orientieren, sind seit langem eines der beherrschenden Themen der Politik. Wenn man aber sagt, daß jedes System Grenzen besitzen muß und man auf biologische Systeme verweist, die beispielsweise mittels Membranen den Austausch mit ihrer Umwelt regeln, dann ist mir noch nicht deutlich, was man dadurch für die politische Diskussion oder beispielsweise für die Dichte bzw. Durchlässigkeit von Staatsgrenzen gewinnt.
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Wenn man ganz primitive Systeme hat, beispielsweise Moleküle, die in einer Ursuppe schwimmen, dann braucht man keine Grenzen. Wenn man etwas Raffinierteres wie vielzellige Organismen bauen will, dann benötigt man Zellwände, Organwände, Haut, Blutgefäße usw. Gerade wenn es um die Besiedelung von vormals unbesiedelbaren Räumen geht, dann sind Grenzen nötig. So brauchen beispielsweise die auf dem Land lebenden Tiere eine sehr gute Haut oder einen Panzer, um sich vor dem Austrocknen zu schützen. Die Grenzen stehen zeitweilig im Dienst der Expansion.
Wir sind ideologisch gar nicht gegen Expansion. Die sogenannten Grenzen des Wirtschaftswachstums standen daher auch nicht am Anfang unserer Überlegungen. Aber der unvermeidliche Übergang von plumpem quantitativen zu zivilisiert-qualitativem Wachstum verlangt wieder nach neuen, intelligenten Grenzen eines Systems. Das Verrückte ist heute, daß die Ökonomie so tut, als seien die Deregulierung und eine Zerstörung von Grenzen die eigentlichen Voraussetzungen des Erfolgs. Das halten wir für ein schweres Systemmißverständnis.
Bleiben wir einmal bei den Nationalstaaten. Was wären denn in diesem Fall "gesunde" Grenzen, die man erhalten sollte, um beispielsweise die kulturelle, politische oder gar wirtschaftliche Vielfalt zu erhalten?
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Es gibt beispielsweise das ganz wichtige Prinzip des Minderheitenschutzes. Es wäre eine Katastrophe, wenn man die Demokratie oder die Marktwirtschaft so interpretieren würde, als dürften diejenigen, die 51% hinter sich haben, die anderen in ihrer Meinungsfreiheit beschneiden, sie unterdrücken oder gar ermorden oder versklaven. Wir brauchen einen funktionierenden Grenzen setzenden Rechtsstaat. Das Recht ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit. Das Grenzen setzende Recht macht den Unterschied zwischern einer geregelten Marktwirtschaft und einer Mafia-Wirtschaft aus.
Die Globalisierung greift jedoch gerade die Souveränität der demokratischen Staaten an, deren Rechtssystem nur auf einem bestimmten Territorium Geltung hat und durchsetzbar ist. Dieser Machtverlust der territorial gebundenen Staaten geht von der Steuererhebung über die Mechanismen der demokratischen Verfahren bis hin zu Rechtsfragen, wie sie beispielsweise im Internet auftreten. Vernünftig wäre dann doch eher, auch eine Globalisierung der politischen, juristischen und ethischen Regelungen anzutreten und nicht die bestehenden Grenzen der nationalen Rechtsräume zu verteidigen. Der von Ihnen erwähnte Minderheitenschutz hat doch auch universale Geltung.
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Im Moment besteht in der Tat die Gefahr, daß durch die Globalisierung der Wirtschaft die Rechtssetzung und Rechtssprechung auf nationaler Ebene zur Farce wird. Wer sich innerhalb einer globalisierten Wirtschaft nicht an ein nationales Gesetz halten will, kann einfach emigrieren. Die Frage ist, was man dagegen macht. Zwei wichtige, einander parallel laufende Rezepte schweben mir vor.
Das eine ist, wie Sie sagten, eine Globalisierung des Rechts und der Demokratie. Die Globalisierung der Demokratie geht auch auf der Nicht-Regierungsebene vor sich. Man kann das etwa bei den globalen Aktivitäten von Greenpeace sehen. Der Shell-Konzern hat vor Greenpeace viel mehr Respekt als vor der britischen Regierung. Das zweite Rezept ist eine Art Reregionalisierung der Wirtschaft im Sinne des Subsidiaritätsprinzip. Die Einheiten, die vernünftigerweise regional oder lokal funktionieren, also die bäuerliche Landwirtschaft und dergleichen, sollten wieder eine Chance erhalten. Dazu braucht man bestimmte Schutzvorschriften gegen Billigimporte. Die bisherige Angst vor Subventionen rührte daher, daß sie zum Erhalt kranker Industrien gegen effiziente Neuerungen vom Ausland dienten. Die neue Art von Schutzvorschriften dient hingegen der Effizienz einer ökologisch kreisläufigen Wirtschaft gegenüber einer Vergeudungswirtschaft, wie sie die Weltmärkte heute anbieten. Diese Art von Schutz ist eigentlich sehr vernünftig.
Sie sehen dafür wirkliche Chancen? Man kann natürlich auf staatlicher oder regionaler Ebene die Einrichtung ökologisch sinnvoller Wirtschaftsformen und Märkte planen, aber die Unternehmen und Märkte können ja, wie Sie sagten, ohne weiteres wegziehen. Wodurch entsteht die Attraktivität, sich den Normen eines Landes oder einer Region zu unterwerfen?
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Es gibt durchaus weiterhin das legitime Instrument von Schutzzöllen. Sie dürfen nur nicht "diskriminierend" sein, weil sie sonst mit dem Welthandelsabkommen in Konflikt kommen. Aber wenn wir in Europa plötzlich hohe Energiepreise für effizient und wirtschaftlich halten, dürfen wir uns vor der Aushöhlung durch Billiganbieter von draußen schützen. So etwas steht im Einklang mit unserem Verständnis der Marktwirtschaft.
Gleichwohl könnte man so auch eine Festung des reichen Europa gegenüber den armen Ländern bauen.
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Zu unserem Kongreß haben wir mit Sir James Goldsmith auch einen der prominentesten Vertreter der Festung Europa eingeladen. Das ist ein Milliardär, der auch Mitglied des europäischen Parlaments ist und eine Art von Anti-Maastricht-Partei in England gegründet hat. Eine regelechte Festung Europas zu machen, geht mir persönlich zu weit. Daher haben wir einen Dialog zwischen ihm und Professor Patrick Minford aus Liverpool organisiert, einen der bedeutendsten Freihandelstheoretiker und praktischen Ökonomen. Wir verfolgen also keine einseitige Programmatik, sondern wir wollen auf neue Weise und originell über Grenzen bei biologischen und ökonomischen Systemen diskutieren.
Die Globalisierung ist zumindest für diejenigen, die wahrscheinlich davon profitieren, eine Art Vision von Freiheit, Fortschritt und Wohlstand. Kann aus dem Nachdenken über Grenzen, was ja auch immer heißt: über Beschränkungen, eigentlich eine Vision entstehen, die auch begeistert?
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Da bin ich mir absolut sicher. Die Vorträge und Diskussionen während des Kongresses werden auch eine neue Vision oder eine neue Begeisterung auslösen können. Dafür wird allein schon der Schlußvortrag von Hazel Henderson sorgen. Der Schutz von kulturellen und politischen Minderheiten, von Sprachen, von biologischer Vielfalt, von Schwächeren im Recht, alle diese Schutzmechanismen sind ja nicht als Rückschritt ins Mittelalter, sondern als Fortschritt ins 21. Jahrhundert zu verstehen.
In manchen Ländern wie in Frankreich wird durch Verbote versucht, die Vorherrschaft der englischen Sprache zu bannen und die französische Sprache vor Anglizismen rein zu erhalten. Wäre das ein sinnvoller Schutzmechanismus, um die Vielfalt der Sprachen zu wahren?
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Da mag es auch Modeerscheinungen geben. In gewissem Sinne ist es natürlich gut, wenn man die Muttersprache pflegt. Ich bin ein begeisterter Deutschsprecher und finde es durchaus wichtig, daß sich das Deutsche nicht mit lauter lächerlichen Anglizismen verkleckert. Ich sehe keinen Vorteil in dem modischen Wort "tracking" gegenüber dem schönen Wort "Wandern". Aber das heißt noch lange nicht, daß man nicht auch gut englisch lernen soll. Wenn man global denkt und lokal handelt, braucht man sowohl die Muttersprache wie auch eine oder mehrere Weltsprachen. Allerdings halte ich eine gewisse Sauberkeit sowohl der Muttersprache als auch der Weltsprachen für ein kulturelles Qualitätsmerkmal.
Haben Sie nicht Sorge, daß Sie über die Thematisierung der Notwendigkeit von Grenzen in ein Fahrwasser geraten, das normalerweise von den Rechten besetzt wird?
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Eine kleine Gefahr gibt es immer. Auf der anderen Seite kennt mich die Öffentlichkeit als nicht gerade engstirnig oder politisch reaktionär. Sollte jemand versuchen, mit dem Segel unserer Thematik sein reaktionäres Schiff voranzutreiben, dann werden wir uns kraftvoll gegen ihn abgrenzen!