Die neue Mauer

Die Kehrseite der Globalisierung

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Nach dem Ende des Kalten Krieges sind durch die Globalisierung der Wirtschaft und die Netzwerke die Mauern gefallen. Ein postnationales Zeitalter beginne mit dem Eintritt in den ort- und grenzenlosen Cyberspace. Aber das sind möglicherweise nur Träume, denn überall wird an neuen Grenzen gebaut - und sogar Mauern werden neu errichtet, die diesmal nicht aus Zement und Stacheldraht bestehen, sondern dem Informationszeitalter entsprechen.

Der Fall der Grenzen

Ein postnationales Zeitalter sei, so erzählt man uns, mit den Netzwerken und mit dem ortlosen Cyberspace angebrochen. Globalität und allseitige Vernetzung wird uns verkündet, weil der Cyberspace alle territorialen Grenzen und die darauf beruhende Macht überschreite. Staaten sollen ebenso zerfallen wie die riesigen Organisationen, Institutionen und Fabriken des Industriezeitalters, mit der Nationalwirtschaft ist nichts mehr, die Daten- und Finanzströme rasen um die Welt, neue virtuelle, räumlich dezentrale Organisationen und Gemeinschaften entstehen ebenso wie transnationale Unternehmen und Kapitalmärkte. Deregulierung und Liberalisierung sind die Schlagworte, die ein ökonomisches, anti-staatliches und auf die einzelnen Individuen bezogenes Programm umreißen, das lediglich darin besteht, Schranken aller Art abzubauen oder zu unterlaufen - bis auf die der Sicherung des Eigentums und der körperlichen Sicherheit, wobei auch hier die "Privatisierung" der bislang staatlichen Dienstleistung voranschreitet. Für die privaten Sicherheitsdienste geben US-Bürger schon mehr Geld aus als der amerikanische Staat für die Polizei - eine notwendige Spirale der "Globalisierungsfalle", die den Staaten das Geld entzieht, um öffentliche Dienstleistungen zu erbringen.

Eine Nation ist nach europäischem Verständnis zunächst ein Ort, d.h. ein durch exakte Grenzen bestimmtes Staatsgebiet.

Jean-Marie Guéhenno - "Das Ende der Demokratie"

Individualität, Selbstorganisation und Freiheit werden bei den Gewinnern großgeschrieben, die in der Globalisierung das Heilmittel für alles sehen. Öffnung der Märkte, der moralischen Rahmen, der kulturellen Eigenheiten und ungehinderte Konkurrenz sind zu neuen Zwängen und auch zu neuen Werten geworden - und das ist offenbar nicht mehr mit der Einführung kultureller Freizügigkeit und politischer Demokratie verbunden, wie man an den boomenden ostasiatischen Märkten und in China sehen kann. Nationale oder regionale Alleingänge, immer gebunden an geographische Grenzen, sind zum Scheitern verurteilt. Was nicht hier möglich ist, wird einfach anderswo gemacht, wo die Bedingungen günstiger sind, bis die Ansprüche wachsen und man wieder weiterzieht.

Nichts soll die Menschen mehr bremsen. Sie werden zu Nomaden, die ihr Glück und auch ihren Profit verfolgen und sich dabei nur noch vorübergehend wie das Kapital niederlassen - zumindest jene, die zur Elite des Raums der Datenströme gehören. Auch die Körper, an die man noch immer gebunden ist, sollen ihre Herrschaft im Zeitalter des Gehirns, des Vorbilds eines riesigen Netzwerks, verlieren. Der Geist, von dem man schwärmt, erweitert sich durch Maschinen und Netze, spiegelt sich in Avataren und ferngesteuerten, Telepräsenz ermöglichenden Robotern und löst sich schließlich völlig ab von seiner materiellen Verankerung, der biologischen Meatware. Manche Cyberspacianer sagen, nachdem sie anfangs lange unter sich gewesen waren und meist noch immer der gesellschaftlichen Elite angehören, daß in den virtuellen Gemeinschaften nicht mehr Herkunft, Schicht, Rasse oder Geschlecht zählen, sondern eine Gleichheit vor dem Terminal in einem herrschaftsfreien Diskurs. Andere betonen, daß die Grenzen zwischen den Menschen, zwischen den Geschlechtern, zwischen Menschen und Robotern oder Agenten, zwischen biologischen Wesen und smarten Maschinen, zwischen Realität und Simulation fallen. Das Netz, die Vernetzung der Menschen, werde selbständig, bilde ein globales Gehirn, das alle durch ortsungebundene Synchronisation vereint und zu Anhängseln eines großen Leviathan mache. Kurz, die mit dem Cyberspace einhergehende Ideologie verspricht, daß die Globalität, Immaterialität und Ortlosigkeit des Cyberspace Grenzen einreißen, Kulturen nivellieren und eine größere Einheit schaffen werden.

Es gibt einen Raum der kommunalen, der regionalen und der nationalen Solidarität, und auf jeder dieser Ebenen setzen die Bürger Prioritäten, schlichten Streitigkeiten und geben vor allem einem gemeinsamen Willen Ausdruck - gerade so definiert sich Politik. Alles verändert sich, wenn sich die Tätigkeit des Menschen aus der räumlichen Bindung löst, wenn die Mobilität von Mensch und Wirtschaft das geographische Netz zerreißt. Die räumliche Solidarität der Territorialitätsgemeinschaft schwindet und wird durch befristete Interessengemeinschaften ersetzt.

Jean-Marie Guéhenno - "Das Ende der Demokratie"

Die Mauer, The Wall, war lange Zeit das Symbol einer zerrissenen Welt. Gleichzeitig lauerte das jeweils Böse hinter ihr. Sie versprach Sicherheit und schürte die Spannung. Man lebte unter der nuklearen Bedrohung, aber es gab einen großen Feind, eine klare Grenze und die Notwendigkeit, vieles - und vor allem auch die Wirtschaft - der nationalen Sicherheit zu unterstellen. Menschen und Waren konnten nur beschränkt über die Grenzen in das Land des Feindes gelangen, aber mehr und mehr flossen Informationen und Bilder über sie hinweg. Territoriale Grenzen konnten zwar den Austausch von Körpern und Materialien eindämmen, nicht aber den von Daten. Radio, Fernsehen, Telefon, Fax und Computernetze brachten Informationen und Bilder über eine andere Welt in die eingeschlossenen Staaten, schürten die Unzufriedenheit, ließen eine große Öffentlichkeit zu Zeugen von Entwicklungen in anderen Ländern werden und ermöglichten auch eine rudimentäre Kommunikation jenseits der offiziellen Nachrichten. Das durch die Medien entstandene Bewußtsein der "Wohlstandslücke" hat, zusammen mit dem Begehren nach Freiheit und Abschaffung von autoritären Systemen, entscheidend zum Fall der Mauer beigetragen, Kriege und regionale Spannungen hervorgerufen und zu einer neuen Migrationswelle geführt.

Globalisierung

Der Nationalismus am Ende des 20. Jahrhunderts entspringt defensiven Reflexen, drückt eine Wendung nach innen aus, eine Angst vor jener weiten Welt, die uns entgleitet, der wir aber nicht entfliehen können. Es ist daher keineswegs überraschend, daß die nationalistische Verkrampfung der post-totalitären Welt eher fremdenfeindlich als imperialistisch ist. Jean-Marie Guéhenno - "Das Ende der Demokratie"

Während sich in der Industrialisierung, mit der in den europäischen Ländern gleichzeitig die Bevölkerung anstieg, eine Umschichtung von Land in die Stadt vollzog und vorübergehend eine Verelendung großer Bevölkerungsschichten eintrat, "lösten" die technisch innovativen Länder manche der inneren Probleme durch eine Auswanderungs- und Eroberungswelle. Zwischen 1840 und 1930 wanderten so in einer riesigen Welle über 50 Millionen Europäer in die Neue Welt oder in die Kolonialstaaten, setzten ihre Kultur und Wirtschaftsform durch, schufen von oben herab neue Staaten, die heute zerbröckeln, und vergrößerten so auch meist die heimischen Märkte. Die Unternehmen des Industriezeitalters waren noch in eine nationale Ökonomie eingespannt, hatten ihre Zentralen in ihren Heimatländern, gehörten Einheimischen, schufen für die dort ansässige Bevölkerung höher qualifizierte und besser bezahlte Arbeitsplätze und führten hier auch ihre Steuern ab. Gewerkschaften und Parteien konnten sich herausbilden, die das standortgebundene Kapital begrenzten, während dieses andererseits an das nationale Sicherheitsinteresse appellieren konnte. Gesellschaftlicher Reichtum war zwar auch bezogen auf technischen Fortschritt, doch er diente vor allem der Massenproduktion von (materiellen) Waren. Das Geschäft an den Börsen bezog sich überwiegend auf den Warenstrom. All das hat sich grundsätzlich geändert.

Erst durch zielstrebige Politik und Gesetze von zumeist demokratisch gewählten Regierungen und Parlamenten entwickelte sich jenes selbständige ökonomische System 'Finanzmarkt', dem Politikwissenschaftler und Ökonomen inzwischen den Charakter einer Art höherer Gewalt zubilligen. Nun binden keine Ideologie, keine Popkultur, keine internationale Organisation und nicht einmal die Ökologie die Nationen der Welt enger aneinander als die elektronisch vernetzte, weltumspannende Geldmaschine der Banken, Versicherungen und Investmentfonds.

H.-P. Martin/H. Schumann - "Die Globalisierungsfalle"

Nicht mehr eingespannt in die Konkurrenz zwischen den Blöcken und unterschiedlichen Wirtschaftssystemen vollzieht sich mit der Globalisierung, die nur bestimmte gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche und damit auch nur bestimmte soziale Schichten erfaßt, aber eine neue Etablierung von Grenzen - jenseits der politischen Ordnung der Nationalstaaten, wie sie im letzten Jahrhundert entstanden sind, aber auch unterhalb der internationalen Organisationen, die stets auf beteiligten Staaten beruhen. Denn die Nationalstaaten, ein europäisches Konstrukt und durch Kolonialismus sich verbreitendes Exportprodukt des Aufklärungs- und Industriezeitalters, verlieren mitsamt ihren politischen Instanzen allmählich durch die Globalisierungsprozesse die Kontrolle. Die gegenwärtigen Umschichtungsprozesse der Macht lassen sich durch militärische Konflikte, Unterwerfungen und Eroberungen nicht mehr lösen. Währungsspekulationen stehen Staaten machtlos gegenüber. Die international agierenden Unternehmen gehören keiner Nationalwirtschaft mehr an, ihre Eigner sind geographisch weit verstreute Menschen und Unternehmen. Sie verlagern ihre Standorte rein nach Gesichtspunkten ihres Interesses und spielen Länder, Regionen und Menschen gegeneinander aus. Die Informationstechnologien und die Öffnung der Mauer benachbart jetzt Bevölkerungen von Territorien mit ganz unterschiedlichen Lebensstandards, die untereinander konkurrieren - und sich in einmal erreichten Standards unterbieten: vom Lohn über Standards des Arbeitsrechts oder der Steuerabgaben bis hin zu ökologischen Maßnahmen. Die Orte haben ihre Macht verloren.

Eine gut ausgebildete Bevölkerung kann nicht nur neue Informationen schneller und besser verarbeiten, sie ist auch die Voraussetzung für kreatives privates Unternehmertum. Aber noch immer können 1,2 Milliarden Menschen auf dieser Welt weder lesen noch schreiben.

Christian Fälschle - "Globus 2000. Die Kapitalmärkte der Zukunft"

Die industrielle Produktion läßt sich dank der Koordinierung durch die Informationstechnologien und die billigen und schnellen Transportmöglichkeiten überall ansiedeln und benötigt immer weniger hochqualifiziertes Personal, während die wissensbasierten Industrien vom Standort unabhängig sind und der Bildungsabstand jetzt prinzipiell schnell aufgeholt werden kann. Die Schere zwischen Wohlhabenden und Armen nimmt weltweit zu, während die steigende Produktivität in allen Bereichen - von der Industrie über Dienstleistungen bis hin zur Landwirtschaft - die Zahl der Arbeitsplätze verringert. Gegenüber der Massenarbeitslosigkeit erweisen sich staatliche Eingriffe als weitgehend wirkungslos, weil auch die Arbeitsmärkte der High-Tech-Industrie und der entsprechenden Dienstleistungen global geworden sind. Eines der wichtigsten Existenz- und Regulierungsmittel der Staaten, die Erhebung von Steuern, kann nicht mehr souverän gehandhabt werden. Informationen und Medien lassen sich national und damit auch von demokratischen Instanzen, die an Territorien gebunden sind, kaum mehr kontrollieren. Wer sich dem Globalisierungsprozeß verschließt, ist wirtschaftlich zum Untergang verdammt, wenn er nicht sowieso schon ausgegrenzt ist.

Die Gewinner können andererseits nie sicher sein, daß ihre Position dauerhaft sein wird, denn das Prinzip des Liberalismus auf globalem Niveau ist stets auf der Suche nach neuen Absatzmärkten, billigeren Fertigungsstätten und profitträchtigen Kapitalmärkten in den "emerging markets". Gleich ob Staaten versuchen, ethische Standards in der Forschung und Technik aufzustellen, den sozialen Frieden durch Umverteilung des Wohlstand zu bewahren oder bestimmte Wirtschaftszweige vor der Konkurrenz zu schützen, so stoßen sie schnell auf die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit. Ökologische Probleme oder die Folgen des Bevölkerungswachstums sind ebenfalls nicht allein innerhalb von staatlichen Grenzen zu lösen.

Neue Grenzen und die virtuelle Klasse

Die Globalisierung zerstört aber nicht nur territoriale Verankerungen und bestehende Grenzen, sie richtet fortwährend neue auf. Während sich die wohlhabenden Schichten immer mehr verbunkern, suchen auch die noch wohlhabenden Staaten und Regionen ihren Zusammenhalt mit ärmeren Regionen zu lösen oder eine unkontrollierte Zuwanderung zu verhindern, während die von Armut gekennzeichneten Regionen oder vom sozialen Abstieg bedrohten Menschen sich von der Globalisierung abkoppeln und autonome Regionen mit meist ethnisch oder konfessionell homogener Bevölkerung verwirklichen wollen, wenn sie nicht als Migranten ihren elenden Bedingungen um jeden Preis zu entrinnen suchen. So vollzieht sich hinter der Globalisierung und teilweise mit deren Mitteln der neue Aufbau von Mauern und die Reinigung der Territorien von Unerwünschten.

Investment in people is now seen to be a very high-return investment. ... It is astonishing to observe that with the exception of some raw material exporting countries, the value of human resources is equal to or exceeds both natural and capital and produced assets combined.

Ismail Seragelding "Sustainability and the Wealth of Nations", The World Bank

Dieser Prozeß könnte so aussehen, als würde sich wieder ein Zustand herstellen, wie er vor den Nationalstaaten im feudalistischen Europa bestanden hat: ein Flickenteppich von Stadtstaaten, Regionen und verstreuten Herrschaftsbereichen, nur jetzt mit eher tribalistischen Zuordnungen, die Territorien mit ihren Bevölkerungen sozial und ethnisch homogen werden lassen. Was die neue Weltordnung aber völlig anders werden läßt, ist der virtuelle globale Markt, dessen Agenten nicht mehr an einen Ort gebunden sind, sondern ebenso wie die Waren, Informationen und Finanzwerte sich im Raum der Datenströme nur noch vorübergehend niederlassen und dazu bestimmte Voraussetzungen einfordern, die solche transitorischen Orte überall auf der Welt einander im Stil, hinsichtlich ihrer Angebotsstruktur und ihrer Sicherheit angleichen: Firmen, Wohnsiedlungen, Flughäfen, Einkaufs- und Freizeitbereiche werden zu austauschbaren Zitadellen eines neuen internationalen Stils, der einzig auf Beweglichkeit setzt, aber auf räumlichen Grenzen basiert. Während aber die virtuelle Klasse ebenso beweglich und transnational wie die Daten- und Finanzströme wird, bleibt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und der Arbeitsplätze ortsgebunden und sinkt in ihrem Wert ständig ab.

With the increased mobility of capital and technology, it is easy to replicate the factors of production anywhere in the world, with one exception - workforce skills.

US-Departments of Labor and Education

Der amerikanische Volkswirtschaftler und derzeitige Arbeitsminister der Clinton-Regierung Robert Reich hat überzeugend in seinem Buch über die "neue Weltwirtschaft" das Ende der nationalen Wirtschaftssysteme durch die Globalisierungsprozesse der Informationsgesellschaft dargestellt. Es wird in den kommenden Jahren, so schreibt er, "keine nationalen Produkte und Technologien, keine nationalen Wirtschaftsunternehmen, keine nationalen Industrien mehr geben. Es wird keine Volkswirtschaften mehr geben, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir sie kennen." Ursache dessen sind eben die transnationalen Unternehmen, die von Managern betrieben werden und international verstreuten Aktionären gehören, die ihren Profit erzielen wollen, aber in ihrer Gesamtheit keine lokalen Interessen verfolgen. Und Ursache sind auch die neuen Finanzmärkte und die schnellen spekulativen Transaktionen, die sie ermöglichen und denen Unternehmen und Staaten gleichermaßen unterworfen sind.

Symbol-Analytiker stellen den mobilsten Teil des Arbeitskräftepotentials eines Landes dar. Sie hängen nicht - wie Routinearbeiter - von in der Nähe gelegenen Fabriken ab; noch hängen sie von einem großen Kundenkreis in enger räumlicher Nachbarschaften ab, wie dies bei 'Dienstleistenden' der Fall ist.

Robert Reich - "Die neue Weltwirtschaft"

Die wirtschaftlichen Strukturen befreien sich aus ihrer Standortgebundenheit und -verpflichtung und damit auch jene Menschen, die durch ihre Herkunft, ihre Ausbildung und ihre Fähigkeiten diese tragen und von ihr profitieren. Diese neue globale oder virtuelle Klasse löst sich durch ihre Bindung an die globale Wirtschaft aus den Verpflichtungen nationaler Gesellschaftsverträge, auch wenn sie Interesse daran hat, ihre jeweiligen Wohn- und Arbeitsorte zu sichern und nach ihren Bedürfnissen einzurichten. Durch die aufklaffende Wohlstandsverteilung zerreißt der nationale Gesellschaftsvertrag, nehmen die innerstaatlichen Differenzen zu und zerfällt die "kollektive Identität", die irgendwie für Reich mit einer "nationalen Zielsetzung" verbunden ist. Die Staaten zerfallen gewissermaßen in kleinere lokale und regionale, manchmal auch transnationale "Enklaven von Menschen mit ähnlichem Einkommen, ähnlichen Werten und Interessen, ähnlichen ethnischen Zugehörigkeiten." Nur diejenigen, die aus der Informationsgesellschaft herausfallen und so zu einem sinkenden Lebensstandard verurteilt sind, sofern sie einmal einer reichen Volkswirtschaft angehörten, bleiben stationär.

Gleichwohl ist Reich der Überzeugung (oder der Hoffnung), daß das, "was noch innerhalb der Grenzen eines Landes verbleibt, die Menschen sind, aus denen sich eine Nation zusammensetzt." Sie bilden zusammen mit der technischen Infrastruktur den Grundstock des Kapitals eines Landes, weil die Ressourcen der Informationsgesellschaft nicht mehr Rohstoffe und gigantische Industrieanlagen seien. Menschen wären nur dann die wesentliche Ressource eines Landes, wenn menschliche Arbeit auf dem Markt expandieren würde. was keineswegs gesichert ist. Investiert man - doch mit welchem Geld in einer Zeit schwindender Solidarität, die über die jeweilige "Gemeinschaft" hinausgeht? - in die Ausbildung der Menschen, so ist keineswegs gesagt, daß diese auch im Land bleiben. Müssen also, wenn nationale Standorte in der globalen Konkurrenz erhalten werden sollen, wieder äußere Feinde - und sei es nur für einen "Wirtschaftskrieg" - geschaffen werden, was eine "nationale Zielsetzung" nicht nur ermöglicht, sondern erzwingt, wenn die "gegenseitige Verantwortung" der Bürger eines Landes und die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nicht mehr anders gelingt? Zunächst jedoch wächst die Vereinigung noch anders und gegen den "Kosmopolitismus" der virtuellen Klasse - als Zusammenhalt der geschwächten nationalen Regierungen mit den Ängsten der überwiegenden Restbevölkerung (in Höhe von 80 % nach Reich) gegen die Migrationswellen nicht von Waren oder Kapitalströmen, sondern von Menschen aus den schwarzen Löchern der Globalgesellschaft.

Die elektronische Mauer

Überall in Europa und in den anderen reichen Ländern wächst die Angst. Die Menschen der Mittel- und Oberschicht schließen sich in ihren Siedlungen und Häusern ein, sichern sie durch Privatpolizei und elektronische Überwachungsanlagen, während sich neue Gettos ausbreiten, die man tunlichst nicht mehr betritt. Stadtkerne werden von störenden Menschen gesäubert, in die überall neu entstehenden Einkaufs- und Freizeitzentren kommen sie gar nicht erst hinein. Unternehmen und Organisationen setzen raffinierte Kontrollsysteme zur Identifikation von Zugangsberechtigten - von der Stimm- und Bilderkennung bis zum Scannen der Retina - oder zur Überwachung des Raumes ein - von Videokameras, Infrarotsensoren oder Bewegungsmeldern bis hin zu Wärmesensoren. Ebenso wie man aufgrund der überfüllten Gefängnisse auch schon in Europa die Gefangenen zuhause durch Sender und Modems überwacht, denkt man bereits daran, all diejenigen, die in einem Betrieb arbeiten, mit einem Chip zu versehen, der regelmäßig Signale aussendet, um eine lückenlose personengebundene Überwachung des räumlichen Verhaltens zu ermöglichen. Die intelligenten Häuser und Stadtviertel sind vor allem Überwachungsmaschinen, die alles erfassen, was sich in ihnen bewegt oder befindet. Permanente Videoüberwachung auch in Außenbereichen soll für Sicherheit sorgen. Die neue Strategie der Abschreckung richtet sich nach innen und nach außen.

Auch die Ländergrenzen werden dicht gemacht. Das gegen das "Reich des Bösen" entwickelte Global Positioning System, das über Satelliten Radar-, Infrarot- und Videodaten von Objekten und Bewegungen von Objekten liefert, wird mittlerweile auch schon für zivile Zwecke vermarktet und könnte nun nicht nur für Verkehrsleit- und Verkehrsüberwachungssysteme, sondern auch für die Erkennung der neuen "Feinde" aus den ärmeren Ländern eingesetzt werden. Hat einst die Mauer in Europa dazu gedient, die Menschen nicht aus dem Herrschaftsgebiet des real existierenden Kommunismus entfliehen zu lassen, so wird sie heute allmählich wieder aufgerichtet, um denselben, jetzt "befreiten" Menschen den Zutritt in die noch reichen, aber sich in Untergangs- und Überfremdungsbefürchtungen schwelgenden westlichen Länder zu verwehren. Ähnlich wie die USA die Grenze zu Mexiko zu schließen versuchen, beginnt nun auch in Europa die Wiedererrichtung der Mauer.

Finnland, am nordöstlichen Rand Europas gelegen, hatte es in der Geschichte sicher stets schwer, seine Souveränität zu erhalten. Besonders in der Zeit des Kalten Krieges fand Finnland seinen eigenen Umgang mit dem großen Nachbarn Sowjetunion. Finnland ist jetzt Mitglied der EU, eines neuen riesigen Binnenmarktes mit 700 Millionen Einwohnern und guter Infrastruktur, - und es ist dabei, seine lange Grenze mit Rußland (über 1300 Kilometer) mit einer neuartigen Mauer zu sichern. Viel Geld wird dafür aufgewendet, während man sich gleichzeitig mit einer hohen Arbeitslosenquote von 20 % im üblichen Schema der Anpassung an die globale Informationsgesellschaft durch Sparmaßnahmen im sozialen Bereich retten will. Mauern müssen nicht mehr unbedingt aus Zement und Stacheldraht gebaut werden. Im Informationszeitalter hat man andere Mittel: geplant ist ein computergesteuertes Konstrollsystem, das die Grenze unpassierbar machen soll. Im Südosten wurde der erste Abschnitt der elektronischen Mauer bereits in Betrieb genommen. Alles, was sich bewegt, kann erfaßt und identifiziert werden.

So soll künftig ein hochkompliziertes Zusammenspiel aus Infrarot-Fühlern, seismischen Sensoren, automatisch filmenden Kameras und Richtungsmeldern dafür sorgen, daß den EU-Grenzern nichts entgeht. Der Daten- und Informationssalat wird anschließend auf digitale Landkarten der Wachposten projiziert. Und welcher Posten gerade strategisch am günstigsten liegt, ermittelt MRTV praktischerweise auch von selbst.

Die Weltwoche vom 26.9.1996