Griechenland, Milet und Thales - Die Geburt der Grenzüberschreiter
Geschichte des Globalen Gehirns XIII
Neolithische Zentren wie Catal Huyuk hinterließen nur sprachlose Spuren von neuen Formen der Vielfalt, die in der Gebärmutter der späten Steinzeitstädte sprudelten. Jetzt können wir 5000 Jahre zu Städten vorspringen, die bereits Tafeln und Schriftrollen hinterlassen haben. Das sind Artefakte, deren Kalligraphie die der Archäologie nicht zugänglichen weißen Flecken auffüllen können. Hier können wir neue Faktoren erkennen, die um die Leidenschaften des entstehenden globalen Gehirns kreisen. Diese Kräfte schlossen weit unterhalb der Oberfläche der vertrauten Verhältnisse die Energieverbindungen der Psychobiologie an, schufen neue Schauplätze, auf denen die Instinkte harmonisch im Chor auftreten konnten, und schrieben die emotionalen Drehbücher um, die auf wunderbare Weise die Gesellschaft veränderten. Es gab drei Katalysatoren für die Transformation: die Freiheit, die Grenzen der Gruppen zu überschreiten, Ideen und die Spiele, die von Subkulturen erlernt wurden.
Während einige Bürger der am westlichen Rand Asiens liegende Flanke, die heute Türkei heißt, Tonerde mischten, um die Häuser von Catal Huyuk zu errichten, ruderten andere über den Horizont der Ägäischen See hinaus, kamen nach Kreta und den 30 kykladischen Inseln, ließen sich nieder und blieben dort. Den neolithischen Datenfluß konnten 60 Seemeilen nicht unterbrechen. Die Siedler hielten den Anschluß an die Entwicklungen auf den anatolischen Ebenen, führten die neue Kunst des Weizenanbaus und der Rinderzucht ein und schlossen sich dem Handelsnetz für Obsidian an, das die Handwerker in Catal Huyuk reich machte. Archäologische Funde lassen vermuten, daß andere Menschen aus Anatolien zur selben Zeit ihre Schiffe mit dem hohen Bug zum griechischen Festland lenkten, wo sie auf gute Segler trafen, die seit 12000 Jahren die Meere überquerten, Obsidian aus weit entfernten Inseln holten und Thunfische erbeuteten.1
Wenn man von der Sprachwissenschaft und von archäologischen Funden ausgeht, überschwemmten die Immigranten aus dem Osten und die seefahrenden Händler die verbundenen Gemeinschaften der Kykladen, Kretas und des griechischen Festlands mit Versiegelungen im syrischen Stil, um Tore zu sichern und Krüge einzulagern, und mit Schmuck, der aus der Tradition des mesopotamischen Ur hervorging. Aber die prähellenische Zivilisation war noch auf grundlegendere Weise vom Mittleren Osten geprägt. Catal Huyuk beispielsweise wurde mit Wandbildern ausgeschmückt, die Frauen mit weit geöffneten Schenkeln darstellten. Die Kreter übernahmen eifrig die Fixierung auf diese Sexgöttin, aber bedeckten die Lenden, von denen die Menschen im Herkunftsland bezaubert wurden, und richteten ihre Verehrung auf Bilder vollständig bekleideter Frauen, deren aufrecht stehender Körper die nackten Brüste stark hervorhob. Die auf dem Festland lebenden Griechen gaben, das Bedürfnis jeder Gruppe zur Schau stellend, sich selbst von ihren Wohltätern abzuheben, den Pinsel gegenüber geschnitzten Skulpturen auf. Überdies standen oder saßen die nackten griechischen Frauen nicht, sondern wurden in liegender Stellung dargestellt, und sie überkreuzten scheu ihre Arme, um ihre Brüste zu bedecken.
Im Unterschied zu den Bürgern von Catal Huyuk2 hatten die Prä-Hellenen zwar ihre Hügelstädte mit einer Mauer umgeben, aber ihre Vorsicht im Hinblick auf die Verteidigung nützte ihnen wenig. Sie wurden von viehhaltenden Indoeuropäern erobert, von Marodeuren, die in Wellen aus dem Kaukasus kamen. Die erste traf um 2200 vor Chr. Geburt ein, die folgende zweihundert Jahre später.3 Diese rohen Umherwanderer drangen in die griechischen Meeresliebhaber brutal ein. Aber sie brachten ein Geschenk mit sich: die Sprache, die später zur griechischen wurde.4 Die patriarchalischen Eroberer verbannten die weiblichen Reize aus dem Kunsthandwerk und setzten eine eher maskuline Darstellung durch: ein Mann, der mit einem Minotaurus kämpft, Männer, die einen Löwen mit der Hilfe von Hunden jagen und als entscheidenden Punkt Statuen von Pferden, also von den Urhebern der Geschindigkeit und der Macht, die die Heroen über den Boden erhoben, auf dem die Frauen liefen. Die Indoeuropäer hatten den Kampf gewählt und große Gebiete der Türkei, von Iran, Indien, Europa und Westchina5 überrannt, weil sie zuerst das "mächtige Roß"6 gezähmt hatten. Mit diesem behuften Fortbewegungsmittel breiteten sie ihre Sprache7 von Xinjiang bis Skandinavien aus und hinterließen so ein Erbe, aus dem schließlich unter anderen Sprachen8 Englisch, Deutsch, Sanskrit, Hindi, Persisch, Latein, Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Holländisch, Schwedisch, Dänisch, Armenisch, Irisch, Walisisch, Alabnaisch, Lettisch, Russisch, Tschechisch, Polnisch und Serbokroatisch erwuchs. Ihre Methode freilich, die Hindernisse aufzusprengen und ihre Daten einzudrucken, war nicht gerade freundlich.
Es könnte so erscheinen, als hätte die indoeuropäische Kampfttradition oft den Zwang ausgeübt, Männer in die Schlacht zu schicken, um die Männer in den eroberten Gebieten abzuschlachten und dann ihre verwitweten oder vaterlosen Frauen zu schwängern.9 Abstammungslinien, die man dem Dichter und Bauern Hesiod aus dem 8. Jahrhundert zuschreibt, können einen Eindruck von den Ergebnissen bieten. Er beschreibt die Ursprünge des vom Testeron getriebenen Kriegerstammes nach der Invasion so: "Und sie empfing und gebar Aeacus, der seine Freude an Pferden hatte. Als er jetzt zur vollen Reife der begehrten Jugend kam, ärgerte er sich darüber, alleine zu sein. Und der Vater der Menschen und Götter verwandelte alle Ameisen auf der lieblichen Insel in Männer und weitgegürtete Frauen." Die griechischen Nachkommen der Siedler aus dem Osten waren wahrscheinlich die "Ameisen" von Hesiod oder, vielleicht besser gesagt, von Aeacus. In indischen Kriegsberichten, die von den Nachkommen der Wilden aus dem Kaukasus (den Mahabharat und Ramayana)10 hinterlassen wurden, wird die eingeborene Bevölkerung als Affen beschrieben. Und die Männer, die dem Abschlachten der Indoeuropäer entgangen sind, wurden wahrscheinlich zu der Arbeit gezwungen, die Ameisen und Affen am besten konnten, nämlich für die Söhne ihrer waffenliebenden Meister zu arbeiten. Welchem Zweck die besiegten Frauen dienen mußten, kann die Betonung ihrer weitgegürteten Hüften erklären.
Aber für das Ergebnis der Schwängerungen noch einmal zurück zu Hesiod: "... Die Söhne von Aeacus ... erfreuten sich am Kampf, als ob es ein Festmahl wäre."11 Kein Wunder, wenn man von den wahrscheinlichen Ursprüngen ihrer Väter ausgeht. Diese besondere Generation an legendären Söhnen wurde zum Stamm der Achaeer, den vom Gemetzel besessenen Heroen von Homers Ilias und Beherrschern des Peleponnes. Hesiod sagt über die von den Achaeern beherrschten Menschen: "Das waren die ersten, die Schiffe mit gekurvten Seiten besaßen, und die ersten, die Segel benutzen, die Schwingen eines auf dem Meer fahrenden Schiffs." Mit Indoeuropäern an der Macht wurden die wassergeborenen Weber des ägäischen Geistes nicht nur zu Handelsschiffen, sondern auch zu den Überbringern der Sorte von Plünderungen, über die Andromache in Troja klagte. Später dienten die Ausfahrten für eine geschichtlich noch bedeutsamere Aufgabe.
Dank der "Kampfeslust", auf die Hesiod verweist, war niemand mehr sicher. Das mag der Grund dafür gewesen sein, weswegen um 1200 v. Chr. die griechischen, auf einer Anhöhe gelegenen Festungen dort, wo angeblich die "heroischen" Plünderer wie Achilles, Odysseus und Agamemnon lebten, wie eine Burg mit Stützpfeilern versehen wurden. Die acht bis 19 Meter dicken Mauern dieser "mykenischen" Paläste12 und ihrer äußeren Wälle wurden mit so großen Steinen gebaut, daß spätere Generationen fest daran glaubten, nur eine Rasse von einäugigen Riesen, die Zyklopen, hätte diese Felsbrocken ineinander verkeilen können.
Tausend Jahre später standen die alten Eroberer neuen Angreifern gegenüber. Die Dorier, ein noch einmal aus dem Norden stammendes Volk, waren ebenso mitleidslos, wie es zuvor die Indoeuropäer gewesen sind. Die Eindringlinge waren ungebildet, aber sie verstanden es, einen Sprung im Wissen von den Materialien auszuführen, nämlich in der Kunst, aus Eisen Schwerter herzustellen. Die indoeuropäischen Griechen fügten Wunden noch immer mit Waffen aus einem Material zu, das 2000 Jahre lang von zufriedenen Kämpfern erprobt und für gut befunden wurde: aus dem guten, alten Bronze. Jedoch erlaubte die Stärke des orangenen Metalls nur die Herstellung eines kurzen Schwertes zum Stechen. Ein Kämpfer, der mit einer langen Eisenklinge zum Schlagen ausgerüstet war, konnte einen mit einer Bronzewaffe ausgestatteten Krieger niederstrecken, bevor der degradierte Meister auch nur nahe genug kommen konnte, um in etwas anders als Luft zu stechen. Daher wurden die mykenischen Jäger von Menschen und Tieren trotz der gewaltigen Schutzbauten, die sie errichtet hatten, unterworfen. Viele flohen mit den Schiffen ihrer Untertanen, errichteten Städte an der türkischen Küste des Ägäischen Meeres und nannten diesen neuen Küstenstreifen Ionien. Ihnen war kaum bewußt, daß einen Teil dieses Gebietes nur hundert Generationen früher die Heimat von den Vorfahren der Frauen, mit denen sie sich vermischt hatten, gewesen war.
Auf dem Hellespont und dem Peleponnes löschten inzwischen die ungebildeten Dorier das knospende Alphabet - Linear B - aus, das von den Dokumentaristen der griechischen Könige verwendet wurde, und führten die Anfänge einer Zivilisation auf einen Zustand zurück, der als Ende der Zivilisation erschien. Es dauerte 400 Jahre, bevor die Griechen ein neues Schreibsystem erfanden und ihren kulturellen Auftritt wieder zustandebrachten. Bis dahin hatten alle Stämme, Clans und Familien ihre Ansprüche auf Grund abgesteckt. Einige müssen sich gefragt haben, ob sich das alles gelohnt hat. Die vielen felsigen Bergzüge ließen nur kärgliche Täler an den Einschnitten frei, an denen sie sich trafen. Das Land innerhalb dieser Falten wies so wenig Erde auf, daß Platon diese Gegend später ein "Skelett ohne Fleisch" nannte. Getreide wuchs hier nicht richtig, aber Oliven und Weintrauben konnten Flüssigkeit aus den tieferen Schichten saugen.13 Die Eupatriden14, die Familien, die sich zuerst die besten und ausgedehntesten Ländereien angeeignet hatten, lebten vom Überschuß, den ihr maßlos großer Grund erzeugte. Andere hatten nicht ein solches Glück. Als sie sich vermehrten, teilten sie ihr Land unter ihren Söhnen auf.15 Diese Lose, die so hießen, weil jeder Söhne ein Los nahm, um zu entscheiden, welches Stück terra firma er sein Eigentum nennen konnte, wurden immer kleiner, so daß die Besitzer allmählich verarmten. Um den Unglücklichen in den schweren Zeiten zu helfen, liehen die Eupatriden ihnen Geld und eigneten sich ihre Landstreifen an, wenn die Ernte nicht ihren Erwartungen entsprach. Bald wurde die zusätzliche Sicherheit eines armen Bauern für sein Lehen der eigene Körper.
Dann kam die Zeit, in der "die Schwingen eines seefesten Schiffes" wie so oft die Evolution des menschlichen Lebens neu ordneten. Bauern, die ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten, wurden zu Sklaven. Andere entschieden sich für das riskante Abenteuer, stachen in See und fanden fruchtbareres Land in Küstenenklaven, deren Güter einen saftigen Preis in den gerade erblühenden Stadtstaaten Zuhause erzielen konnten, die dringend Getreide benötigten und nach exotischen Genüssen gierten.16 Die Kolonisten erstreckten ihr Netz über 3500 Kilometer von Mainica in Spanien bis nach Tanais in Rußland.17
Nicht nur die Städte im Hauptland schickten Bootsladungen an Land- und Profithungrigen aus, um ein Netz aus Handelskolonien zu weben. Sie waren auch nicht die ersten, die durch die aus der Verbesserung der Vernetzung hervorgehenden Datenmengen vorwärts gestoßen wurden. Im 7. Jahrhundert v. Chr. waren die asiatischen Griechen von Ionien darauf versessen, erfolgreiche Bürger überall anzusiedeln, wo sie einen vielversprechenden Landkopf finden konnten. Einer der Anführer der Menge war ein ionischer Octopus mit dem Namen Milet.
Milet importierte Wolle aus dem nahegelegenen Anatolien, verarbeitete es in Textilfabriken, baute eine eindrucksvolle Bekleidungsindustrie auf und begründete 80 Kolonien vom Schwarzen Meer und Ägypten bis nach Italien. Mit seinen 60 Kolonien im Norden betrieb Milet einen Handel mit Kleidung gegen Flachs, Holz, Früchten und Metallen. Zusätzlich war Milet Teil eines Netzes von Hunderten anderer griechischen Kolonien, zu dem auch relativ rückständige Nester wie eine Stadt gehörte, die Athen hieß. Sie waren, wie Platon sagte, "gleich Fröschen" an den Küsten Europas und der Meere des westlichen Asien aneinandergereiht. Daher reichte das Handelsgebiet von Rußland bis Frankreich, Spanien und Nordafrika, und es bezog auch Waren aus dem Fernen Osten ein.18 Nach Will Durant19 wurde der daraus entstehende Reichtum Milets "ein Skandal" im gesamten Mittelmeerraum. Doch wirkliche Schatzgrube lag in etwas Wichtigerem als den materiellen Gütern.
Als sich die Jäger und Sammler der Steinzeit das erste Mal in Städten konzentriert hatten, erwarb Homo sapiens auf unerwartete Weise die Freiheit, einen wichtigen Teil seiner Identität zu wählen und ein Metzger, Priester, Bettenbauer, Tischler oder irgend etwas anderes zu werden. Aber sie waren offensichtlich noch unter dem Joch von Clans und Stämmen eingespannt. 7000 Jahre später teilte Milet seine Bewohner noch immer in drei Stämme ein. Jenseits des ägäischen Meeres, wo man noch nicht so weit fortgeschritten war, identifizierten sich die Athener als Mitglieder eines von vier Stämmen, die jeweils in 90 Clans unterteilt waren.20 Stämme sollten auch noch für das Wahlsystem der Römer ein halbes Jahrtausend später entscheidend sein, als Marius, Sulla und danach Julius Caesar sich für den Posten eines Konsuls bewarben. Allerdings war die Bedeutung eines "Stammes" im Laufe der Zeit nicht mehr ganz mit der Geburt verwoben. Wer sich neu in einer griechischen Stadt niedergelassen und als Bürger qualifiziert hatte, wurde oft einfach zufällig und unabhängig davon, wer seine Vorfahren gewesen waren, einem Stamm zugeordnet. Wenn man aber einmal zu einem Stamm gehörte, so ließ sich das nicht mehr ändern. Abgesehen von den Freiheiten der Berufswahl klebte man an vorgeordneten Identitäten noch immer wie an Leim.
Im siebten Jahrhundert v. Chr. lösten interkontinentale Netze von Stadtstaaten in einem noch größerem Handelsnetz schnell die alten Fesseln der Zugehörigkeit und brachen alte Grenzen auf. Thales von Milet ist ein Beispiel für den berauschenden Zustand der neuen Verflüssigungen.
Ungefähr 640 v. Chr. entschloß sich ein phönizisches Paar21, sich in Milet niederzulassen, was die Mobilität zwischen den Gruppen zeigt. Thales, ihr Sohn, wurde zu einem Spekulanten für Futures von pflanzlichen Ölen oder deren ungefährem Äquivalent - eine zu vorurbanen Zeiten undenkbare Entscheidung. Im Winter, wenn die unbenutzten Ölpressen für ihre Besitzer zu einem Verlustgeschäft wurden, leistete Thales "Anzahlungen auf den Gebrauch aller Olivenpressen in Chios und Milet, die er zu einem geringen Preis pachtete, weil niemand mit ihm konkurrierte. Wenn dann die Erntezeit kam und viele gleichzeitig und sofort gebraucht wurden, gab er sie für eine ihm gefällige Gebühr preis und verdiente so eine Menge Geld ... Sein Mittel für den Erwerb von Reichtum ist universell anwendbar und nichts anderes als der Aufbau eines Monopols." (Diese Beschreibung verdankt sich einem Wirtschaftsjournalisten namens Aristoteles.22) Thales brauchte jedoch viel Zeit, um auf andere Weisen zu spekulieren. Zuerst hatte er sich in die Politik begeben, sich mit mit Thrasybulus, seinem Diktator, befreundet und aus fremden Ländern stammende Ratschläge ins Ohr des Tyrannen geflüstert. Da Thrasybulus eine wichtige Person auf der interkontinentalen Bühne war, stellten solche Einflüsterungen etwas Bedeutsames dar. Thales wurde zum Antreiber eines Versuchs, die ionischen Städte zu einem Verteidigungsbündnis gegen die Perser zu vereinen.23 Krösus von Lydia, eine konkurrierender König, hatte etwas anderes vor. Er stellte Thales ein, um den Fluß Halys umzuleiten, so daß er einen Weg für seine Armee schuf. Thales war nach Berichten auch ein Freund und Ratgeber von Solon und Lycurgus, den großen Gesetzgebern von Athen und Sparta, was ihm die Stellung verschaffte, bei der Gestaltung von zwei der einflußreichsten juristischen Systeme der Antike zu helfen. Wenn Plutarch24 es korrekt berichtet, dann hat Thales nicht nur Solon in Attica besucht, sondern den reisenden Athener auch von Kleinasien nach Hause begleitet. Als Ratgeber war Thales eine relativ neue Form des Datenvernetzer, ein Kabel, das Wissen von einer Gesellschaft zu einer anderen weiter gab.
Wahrscheinlich war der am wenigsten bekannte Geistvernetzer die Notwendigkeit, mit den mentalen Kniffen der Konkurrenten und Feinden mithalten zu können. Um zu gewinnen, mußte man die Tricks seiner Feinde so gut kennen, daß man sie im Schlaf ausführen konnte: "Kenne den Feind ... und du wirst hundert Schlachten ohne Gefahr der Niederlage kämpfen können", sagte Sun Tzu , ein weiser Mann des Zeitalters, der weit entfernt lebte. Thales war ein Wissender der ersten Klasse. Zu den Gegnern von Milet gehörten die Perser, die sich die Lektionen des zweitausendjährigen levantinischen Imperialismus angeeignet hatten: die Kunst des Krieges, die logistische Organisation von Menschenmassen und die Verwaltung riesiger, kulturell inkompatibler Gebiete.25 Zum Wissen von den Gegnern, das im Geist Milets Synapsen gebildet hatte, zählten auch Innovationen der Lydier, jener anderen unvorhersehbaren Supermacht. Sie waren die Erschaffer von Silber- und Goldmünzen und damit einer finanziellen Barriere, die von den Menschen Milets durchbrochen wurde. Sie stellten ihre eigenen Münzen her und wurden zu Leihgebern im ganzen Mittelmeerbecken und für die Landbrücken zum Herzen Asiens sowie dem Gangestal. Sowohl Persien als auch Lydien befanden sich auf der "Wellenlänge" von Thales.
Die Reisevorteile der interkontinentalen Nothilfe vergrößerten die Bandbreite von Thales als einer Ideenverbindung. Thales grübelte über die persische Himmelsobsession so sehr nach, daß eine Legende berichtet, er sei in einen Brunnen gestürzt, während er die Sterne beobachtete.26 Er war offensichtlich auch in Ägypten, lernte dort die mathematischen und geometrischen Systeme, setzte diese ein, um die Höhen der Pyramiden zu berechnen, und brachte sie dann mit nach Hause, wo einige seiner Ideenwaren später Euklid zugeschrieben wurden. Mit der Verwendung der ägyptischen Rechentechniken und den Erkenntnissen über den Himmel von den Mesopotamiern soll Thales die Sonnenfinsternis vorhergesagt haben, die im Mai 585 v. Chr. während der Schlacht zwischen den Lydiern und Medern eingetreten ist.27 Für die Ionier demystifizierte er so ein Ereignis, das die Soldaten Lydiens und Mediens erstarren und mit einem übernatürlichen Bedrohung erfüllen ließ.
Thales leistete auch Geburtshilfe für eine weltliche Philosophie, die die perverse Magie eines undurchschaubaren Universums noch weiter auf Elemente reduzierte, die von der Vernunft verstanden werden konnten. Unter anderem verwarf er die Gewohnheit, alles durch die Mythologie zu erklären, und schuf eine irdische Theorie darüber, wie dieser Kosmos begonnen hatte. Die Welt, so erklärte er, hatte sich selbst aus Wasser und "psyche" zusammengefügt.28
Die Nachbarn von Thales boten jenen, die etwas Schwungvolleres als Protophysik brauchten, Poesie, Prosa und Geschichte an. Mit der Zeit wuchs um jede dieser Erfindungen eine Minigesellschaft, eine fortgeschrittene Subkultur, eine ganz neue Stammesform. Als verschiedene Schulen damit begannen, über die zentrale Bedeutung einer haarspalterisch ausformulierten Perspektive zu streiten, wurden die Auswahlmöglichkeiten von Gruppen, denen man sich anschließen kann, verwirrend groß. Die Verbindungen und Abkopplungen dieser Fraktionen dienten der Neuerfindung des Betriebssystems des Massengeistes.
Weil Thales über die Morgenröte schon vor dem beginnenden Tag nachdachte, gab er einen Ratschlag, der nach ihm verschiedenen anderen Philosophen zugeschrieben wurde: "Erkenne dich selbst." Er führte nicht aus, welche der vielen neuen möglichen Selbste er damit meinte. Dieser Mann konnte als Finanzgenie, Guru in politischen Angelegenheiten, transnationaler Gedankenvermittler, Phönizier, Mileter, Ionier, Grieche, Erbe der Kultur des Nahen Ostens, Sprecher einer indoeuropäischen Sprache, Ersetzer der Theologie und Erfinder der Philosophie eine ganze Menge von Selbsten aufzuzählen, wenn er dies gewollt hätte.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer