Großbritannien: Die Brüche in der Gesellschaft werden größer
Die konservative Regierung will mit dem Infrastrukturprogramm "bauen, bauen, bauen" und einem Sommerhaushalt die Wirtschaft retten, Arbeitslosigkeit wird nach Ablauf der Kurzarbeit drastisch ansteigen
Die konservative Regierung unter Premierminister Boris Johnson versucht, sich den Mantel des amerikanischen New Deal der 1930er Jahre anzueignen. Damit soll das Erbe von 40 Jahren neoliberaler Kahlschlagpolitik vergessen gemacht werden. Die Tories sind in Großbritannien die Gründer dieser Ideologie, mit Margaret Thatcher haben sie ihr auch international zum Durchbruch verholfen. Jetzt bricht mit Covid-19 alles zusammen. In privatisierten Pflegeheimen sterben die alten Menschen und das Personal infiziert sich mit dem Virus. Über 600.000 Jobs sind zwischen März und Mai verlorengegangen. Es gibt kein funktionierendes Test- und Nachverfolgungswesen, den damit beauftragten Konzernen fehlt die Fähigkeit dazu.
Also muss die konservative Partei, um überleben zu können, ihren Teil der Verantwortung an diesem gesellschaftlichen Desaster vertuschen. Neun Millionen Menschen wurden in Kurzarbeit geschickt, die Regierung zahlt noch bis zum Herbst 80% von deren Löhnen. Die Eisenbahnen wurden noch vor dem Ausbruch der Covid-19 Krise verstaatlicht. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass ein System mit privaten Betreibergesellschaften, wie es seit der New Labour Ära von Tony Blair bestand, wieder geben wird.
Doch all dies hilft nicht. Die Brüche in der Gesellschaft werden größer, nicht kleiner. Vor allem in den Niedriglohnbranchen gehen lohnabhängige Menschen auf die Barrikaden, um für ihre Rechte zu kämpfen. Black Lives Matter wurde innerhalb kurzer Zeit zu einer Massenbewegung. In Schottland gibt es inzwischen eine stabile Mehrheit für die Unabhängigkeit, und auch in England wächst die Zahl jener Menschen, die sich ein Ende des Vereinigten Königreichs wünschen.
Nachdem zuvor Premierminister Boris Johnson bei einem Medienauftritt ein neues Infrastrukturprojekt mit dem Slogan "bauen, bauen, bauen" verkündete, hatte am 8. Juli Finanzminister Rishi Sunak einen großen Auftritt im Unterhaus um dort einen speziellen "Sommerhaushalt" zu verkünden. Er soll der Wirtschaft unter die Arme greifen und den völligen Kollaps verhindern.
Schwerpunkt Gastronomie
Seinen Schwerpunkt legt Sunak auf den Gastronomiebereich. In einem vom Finanzministerium herausgegebenen Begleitdokument argumentiert er: "Der Gastronomiebereich spielt im öffentlichen Leben Großbritanniens eine wesentliche Rolle. (…) Es handelt sich um einen Sektor mit einem der höchsten Beschäftigtenzahlen in Großbritannien. Über 2.4 Millionen Menschen arbeiten in der Gastronomie, Hotels und Attraktionen. Das entspricht 8% aller abhängig Beschäftigten in Großbritannien."
Diese Beschäftigten seien von der Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen am härtesten betroffen, so Sunak: "Beschäftigte im Gastronomiebereich sind überdurchschnittlich jung, haben weniger Qualifikationen und sind deshalb von längerer Arbeitslosigkeit bedroht, sollten sie ihren Job verlieren. Beschäftigte im Gastronomiebereich haben außerdem öfter Migrationshintergrund im Vergleich zur restlichen arbeitenden Bevölkerung. Unterstützung für diese Sektoren ist deshalb wesentlich, um die Ziele der Regierung zur Verhinderung von Vernarbungen im Arbeitsmarkt und die Sicherstellung von Möglichkeiten für Alle zu erreichen."
Welche konkreten Schritte plant der Finanzminister? Zum einen werden 30 Milliarden Pfund zur Arbeitsplatzsicherung bereitgestellt. Firmen, die ihre Beschäftigten nach Ende der Kurzarbeit im Oktober wieder anstellen, sollen einen Bonus von 1000 Pfund pro Arbeiter bekommen. Die Mehrwertsteuer wird für Gastronomiebetriebe von 20% auf 5% gesenkt. Hinzu kommt das Projekt "Essen gehen, um zu helfen". Montags, Dienstags und Mittwochs können Menschen nun einmalig ein Essen von bis zu zehn Pfund um 50% verbilligt konsumieren. Die restlichen 50% trägt der Staat.
Verschiedene Reaktionen aus Wirtschaft und Gewerkschaften zeigen schon jetzt, dass all dies nicht ausreichen wird. Der britische Gewerkschaftsbund TUC vermisst Rettungspakete für die Industrie und die Luftfahrtbranche. Ähnliches ist vom Industriellenverband CBI zu hören. Deren Generaldirektorin Carolyn Fairbairn sagte: "70% aller Firmen haben kaum noch Geld. 3 von 4 Firmen klagen über mangelnde Nachfrage. Es braucht mehr Direkthilfe, von staatlicher finanzieller Unterstützung bis hin zu Steuererleichterungen."
Finanzminister Sunak hat bereits Nachschärfungen im Herbst angekündigt, wenn er seinen nächsten Haushaltsentwurf im Parlament vorstellen wird. Allerdings hat er bereits verkündet, dass er dann auch Schritte setzen möchte, um "die öffentlichen Finanzen wieder zu stabilisieren". In den letzten Monaten ist die staatliche Verschuldung aufgrund zahlreicher milliardenschwerer Stützungsmaßnahmen massiv in die Höhe geschnellt, scheinbar will Sunak hier im Herbst gegensteuern.
Kritik kommt auch aus der Wissenschaft. In einem Blogbeitrag für die London School of Economics warfen die Sozialwissenschaftlerinnen Maddy Power, Ruth Patrick und Kayleigh Garthwaite dem Finanzminister "leeres Gerede" vor. Die Autorinnen verweisen auf einen neuen Bericht des "Independent Food Aid Network", wonach es von Mai 2019 bis Mai 2020 eine Zunahme von 135% an Menschen, gegeben hat, die Unterstützung durch "food banks", also Tafeln, brauchen. Bei bedürftigen Kindern habe es einen Anstieg von 85% gegeben.
Als Hauptgrund für die Nutzung von "food banks" werde "nicht ausreichende staatliche Sozialhilfe" angegeben. Diesen Menschen, so die Argumentation der Autorinnen, wird eine 50prozentige Ermäßigung für ein Essen im Restaurant auch nicht helfen.
Tatsächlich wird die Zahl der Arbeitslosen, und somit die Zahl der auf Sozialhilfen angewiesenen Menschen, im Herbst noch einmal drastisch ansteigen, wenn Finanzminister Sunak die Kurzarbeit auslaufen lässt. Zusätzlich werden genau dann andere Hilfsmaßnahmen auslaufen, zum Beispiel das Kündigungsverbot für Mieter, welche aufgrund von Covid-19 mit ihren Zahlungen in Verzug geraten sind.
Allein in England sind seit März 230.000 Mieter in Verzug geraten, rechnet die Sozialorganisation Shelter vor. Auch ohne Corona klagen über eine Million Mieter über Zahlungsschwierigkeiten. "Shelter" fürchtet deshalb im Herbst mit einer Welle von Haushalten, die über Nacht in die Obdachlosigkeit gedrängt werden.
Auch zu diesem Problem schweigt Finanzminister Sunak. Dafür spricht die schottische Mieterschutzorganisation "Living Rent". Sie brachte vor den Büros verschiedener großer Hauseigentümer in Glasgow Plakate an, auf denen Widerstand angekündigt wird, sollte es im Herbst zu Delogierungsversuchen kommen. Mit seinem Sommerbudget wollte Rishi Sunak das aufgewühlte Wasser in Großbritannien beruhigen. Gelungen ist das nicht.
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