Großes Gehirn und intelligenter als gedacht
Die Neandertaler mischten sich Schminke und trugen Schmuck
Längst ist klar, dass der Neandertaler kein primitiver wilder Mann war, der nur Grunzlaute ausstoßend mit der Keule durch die Gegend lief. Er sprach mit seinen Gefährten und stellte durchaus ausgefeilte Werkzeuge her. Aber bislang wurde ihm von den Experten jede Kultur abgesprochen. Das muss jetzt revidiert werden, denn Anthropologen fanden nun Muscheln, die eindeutig von unserem ausgestorbenen Verwandten als Schmuck getragen oder zum Anmischen von Kosmetik verwendet wurden.
Vor und 150 Jahren kamen seine Knochen im Neandertal bei Düsseldorf wieder ans Licht. Sie waren menschlich und doch ganz anders als unsere, denn alle heute lebenden Menschen sind Homo sapiens. Der Homo neanderthalensis ist unser engster Verwandter, aber er hinterließ höchst wahrscheinlich keinerlei genetische Spur in uns (vgl. Sex ja, Kinder nein).
Anfangs hielten die Wissenschaftler seine Knochen für eines kranken Menschen unserer Art. Erst allmählich dämmerte die Erkenntnis, dass der Neandertaler, der bereits seit langem in Europa lebte, als unsere Ahnen vor ungefähr 40.000 Jahren aus Afrika kommend eintrafen, mit uns zwar gemeinsame Vorfahren (Homo erectus) teilt, aber ein wirklich anderer Typ war. Dann galt er lange als dumpfer Wilder, als Keulen schwingender Halbaffe, der mit dem anatomisch modernen Menschen nicht mithalten konnte, und deshalb vor 25.000-30.000 Jahren endgültig ausstarb.
Erst im letzten Jahrzehnt entstand ein völlig anderes Bild von ihm: Er verfügte über differenzierte Sprache, er fertigte Kleidung, und auch sehr geschickt Werkzeuge aus Stein und Knochen, baute Hütten und kochte Klebstoff aus Birkenpech, kümmerte sich um verletzte Angehörige und bestattete die Toten seiner Sippe zumindest in einigen Fällen in Gräbern (Neues vom wilden Mann).
Homo neanderthalensis war uns ähnlich, aber unterschied sich dennoch in entscheidenden Punkten. Er war kleiner, aber kräftiger gebaut als der moderne Mensch, untersetzter, mit dickeren Knochen und mehr Muskeln. In allen Kraftsportarten hätte er bei olympischen Spielen sämtliche Medaillen abgeräumt. Sein Schädel war lang gezogen, das Gehirn größer als unseres, die Wülste über den Augen ausgeprägt, die Stirn niedrig, die Nase groß und breit, der Kiefer massiv. Hellhäutig und zum Teil rothaarig war er bestens an die Kälte Europas angepasst. Der Neandertaler ernährte sich fast ausschließlich von Fleisch, während unsere Vorfahren Vielfalt auf dem Speiseplan schätzen (Klug und voller Fleischeslust). Neandertalergeburten liefen anders ab als die des Homo sapiens und möglicherweise war ihre Kindheit deutlich kürzer.
Schmuck und Identität
Bei allen Unterschieden zeigt sich immer mehr, dass der Neandertaler nicht weniger entwickelt als der anatomisch moderne Mensch war, es wird immer deutlicher, dass er über die gleichen Fähigkeiten verfügte.
Lange sprachen die Experten unserem Onkel in der menschlichen Ahnenreihe jegliche kulturelle Ausdrucksform ab. Funde von Musikinstrumenten, Skulpturen und den anderen ältesten Kunstwerken der Menschheit aus der Eiszeit in Europa werden stets dem modernen Menschen zugeordnet, weil die Anthropologen dem Homo neanderthalensis eine derartige Denk- und Abstraktionsfähigkeit nicht zutrauen.
Diese Einschätzung muss nun zumindest teilweise revidiert werden. In der aktuellen Ausgabe der wissenschaftlichen Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht eine Gruppe von 17 europäischen Spezialisten um João Zilhão von der University of Bristol ihren neuen bahnbrechende Studie „Symbolic use of marine shells and mineral pigments by Iberian Neandertals“.
Die Wissenschaftlergruppe analysierte Muscheln aus zwei von Neandertalern genutzten Höhlen in der Provinz Murcia im südöstlichen Spanien (Cueva de los Aviones and Cueva Antón). Die Fundstücke datieren auf ein Alter von 50.000 Jahren, können also unmöglich vom anatomisch modernen Menschen stammen, der erst sehr viel später in Europa eintraf.
Die aus dem Meer stammenden und von Natur aus schon mehrfarbig schillernden Herz- und Samtmuscheln waren zum Teil eingefärbt und gelocht, um sie als Schmuck an Bändern um den Hals oder an der Kleidung zu tragen. Zum Teil waren Muscheln mit Löchern gesammelt worden, andere scheinen gezielt perforiert worden zu sein.
Außerdem fanden die Experten eine Austernschale vom Lazarusklapper (Spondylus gaederopus), die offensichtlich einst zum Anrühren von Schminke gedient hatte. In ihr war ein rotes Pigment aus Lepidokrokit mit zerstoßenem Hämatit und Pyrit vermischt worden, um besondere Glanzeffekte zu erzielen.
Zudem wurden Klumpen von gelbem Natrojarosit entdeckt, die wahrscheinlich vor 50.000 in einem Lederbeutel aufbewahrt wurden. Dieses Mineral wurde später auch im Alten Ägypten zur Herstellung von Make-up verwendet. Wahrscheinlich setzte der Neandertaler seine frisch gemixte Farbe für Bodypainting ein.
João Zilhão erklärt:
Das ist der erste gesicherte Beweis, dass vor 50.000 Jahren die Neandertaler bereits in ihrem Verhalten symbolische Organisation kannten – 10.000 Jahre, bevor die modernen Menschen zum ersten Mal in Europa nachzuweisen sind.
Bislang waren die wenige Funde – wie gelochte Zähne oder verzierte Knochenahlen – die eindeutig vom Homo neanderthalensis stammen, als zweifelhaft abgetan oder als reines Nachahmen von Verhaltensweisen des Homo sapiens interpretiert worden. Dem Ureuropäer traute niemand das dafür notwenige abstrakte Denken in Symbolen zu.
Das Bild vom blöden Wilden muss nun endgültig ad acta gelegt werden. Der Neandertaler war dem anatomisch modernen Menschen in Sachen Intelligenz ebenbürtig. Homo sapiens trug schon vor 100.000 Jahren Schmuck, ebenfalls durchbohrte Muscheln, wie Funde in der südafrikanischen Blombos-Höhle und in der israelischen Höhle El-Skhul sowie der algerischen Oued Djebbana belegen (Muschelkette als Statussymbol).
Wahrscheinlich nutzten auch die Neandertaler den Schmuck und die Körperbemalung, um ihrer Individualität oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Ausdruck zu verleihen. Knallrot bemalte Körper, auf deren gefärbter Haut es schwarz-golden schillerte, dürften bereits aus der Distanz aufgefallen sein.
Ob die Körperkosmetik eine religiöse Bedeutung hatte, bleibt vorerst im Dunkel der Geschichte verborgen. Aber es ist damit zu rechnen, dass die neuen Erkenntnisse die Diskussion um die Schöpfer der ersten Kunstwerke Europas wieder belebt.