Großzügige Umverteilung erhöht Lebenserwartung

Seite 2: Ungleichheitsaversion des Menschen

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Nicht nur zentrale Eigenschaften wie die Bereitschaft zu teilen, Großzügigkeit und ein Gefühl für Gerechtigkeit zeichnen den Menschen aus. Menschen haben auch von Natur aus eine sehr klare Einstellung zur Ungleichheit. Denn faszinierenderweise bevorzugen Menschen eine relativ egalitäre Verteilung der Ressourcen und akzeptieren nur eine geringe Ungleichheit, wie eine Reihe von Studien belegen (Hier, hier, hier und hier)

Sowohl Kinder als auch Erwachsene lehnen in der großen Mehrheit unfaire Verteilungen ab, auch wenn sie damit auf einen Teil des Kuchens verzichten müssen. Erstaunlicherweise hängt jedoch die an den Tag gelegte Fairness nicht davon ab, ob der Mensch Opfer einer ungerechten Verteilung ist, sondern Menschen sind grundsätzlich bereit, auch auf den eigenen Vorteil zu verzichten, um eine Ungleichheit zu vermeiden.

Für diese Eigenschaft, die die Wissenschaft "Ungleichheitsaversion" nennt, liefert ein faszinierendes Experiment des Teams um Christopher Dawes (Universität San Diego) einen wichtigen Beleg. Jeder Proband einer Gruppe erhielt eine Summe Geld zugesprochen, über deren Höhe ein Computer entschied, sodass von Anbeginn eine ungleiche Verteilung herrschte, die für alle Teilnehmer sichtbar war. Die Spieler hatten dann die Möglichkeit, durch Einsatz ihres Geldes entweder das Guthaben eines Mitspielers zu erhöhen oder zu verringern, wobei die erzielte Veränderung dreimal höher als das eingesetzte Guthaben war. Die Spieler blieben in diesem Experiment anonym, nach jeder Runde wurden die Gruppen neu zusammengesetzt, um konkrete Reaktionen auf das Verhalten eines Spielers sowie den Einfluss von Reputation zu verhindern.

Im Verlauf des Experiments nahmen zwei Drittel der Probanden die Chance zur Veränderung der Guthaben der beteiligten Spieler wahr. Zwar reduzierten hiervon gut zwei Drittel der Probanden mindestens einmal das Guthaben eines Spielers, aber erstaunlicherweise opferten knapp drei Viertel mindestens einmal einen Teil ihres eigenen Geldes, um das Guthaben eines anderen Spielers zu erhöhen. Dabei war insbesondere die Bedeutung der Ungleichheit in der Gruppe für die Auswahl der Aktion entscheidend. So wurde hauptsächlich das Guthaben eines Mitspielers aufgestockt, der unterdurchschnittlich wenig Geld hatte, oder die Vermögen jener Probanden verringert, die besonders viel Geld zugeteilt bekommen hatten. Die Forscher bestätigen mit ihrem Experiment eine ausgeprägte Ungleichheitsaversion und schreiben: "Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass soziale Ungleichheit negative Gefühle hervorruft, sowohl zur Reduzierung als auch zur Steigerung der Einkommen anderer motivieren."

Tatsächlich offenbarte ein neueres Experiment desselben Forscherteams, dass Menschen in ungleichen Verteilungssituationen mit Schmerz reagieren, der in einem Gehirnscan objektiv zu sehen ist, wenn andere Probanden zusätzlich Geld erhalten, obwohl diese bereits mehr als man selbst besitzen. Faszinierenderweise reagiert das Belohnungszentrum jedoch positiv auf einen Geldtransfer zu anderen Probanden, wenn man selbst bereits mehr besitzt. Das soziale Gehirn belohnt also die Herstellung einer zunehmenden Gleichheit in der Gruppe.

Neoliberalismus und Ungleichheit

So eindeutig es ist, dass Menschen eine Aversion gegen Ungleichheit haben und von Kindesbeinen an auch bereit sind, für eine gerechte Verteilung Opfer zu bringen, so eindeutig ist es, dass der Neoliberalismus eine gänzlich andere Haltung zur Ungleichheit hat. Friedrich von Hayek, Wirtschaftsnobelpreisträger und Ikone des Neoliberalismus, schreibt: "Als Tatsachenaussage ist es einfach nicht wahr, dass alle Menschen von Geburt aus gleich sind (...daher folgt), dass der einzige Weg, sie in gleiche Positionen zu bringen, wäre, sie ungleich zu behandeln. Gleichheit vor dem Gesetz und materielle Gleichheit sind daher nicht nur zwei verschiedene Dinge, sondern sie schließen einander aus."

Aus der natürlichen Ungleichheit und der Bedeutung des Rechtsstaat folgt für Hayek die logische Konsequenz der wirtschaftlichen Ungleichheit: "Es ist nicht zu leugnen, daß das Prinzip des Rechtsstaates wirtschaftliche Ungleichheit hervorbringt; alles, was man zu seinen Gunsten geltend machen kann, ist, daß es nicht im Wesen dieser Ungleichheit liegt, bestimmte Menschen in einer bestimmten Weise zu treffen." Ähnlich argumentiert auch der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama: "Marktwirtschaften sind von individuellen Streben nach Eigennutz abhängig, was, die unterschiedlichen Begabung und Herkunft der Menschen bedacht, zu Ungleichheiten des Wohlstands führt."

Ungleichheit ist für den Neoliberalismus also gewissermaßen eine natürliche Erscheinung. Darüber hinaus ist Ungleichheit aber auch in dieser Denkschule aus anderem Grund eine Notwendigkeit, wie der Wirtschaftshistoriker Philip Mirowski anmerkt: "Neoliberale betrachten wirtschaftliche und politische Ungleichheit nicht als ein bedauerliches Nebenprodukt des Kapitalismus, sondern als notwendige und funktionale Eigenschaft ihres idealen Marktsystems. Ungleichheit gilt ihnen nicht nur als der natürliche Zustand der Marktwirtschaft, sondern auch als einer der stärksten Fortschrittsmotoren."

Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass der Neoliberalismus ausdrücklich kein Interesse an einer gerechteren Verteilung hat (Hayek spricht von der "Illusion der sozialen Gerechtigkeit"), sondern vielmehr an deren Verhinderung. Der Wirtschaftshistoriker Quinn Slobodian erklärt: "Die normative neoliberale Weltordnung ist kein grenzenloser Markt ohne Staaten, sondern eine doppelte Welt, die von den Hütern der Wirtschaftsverfassung vor den Forderungen der Massen nach sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung geschützt wird." Ein Leak der sogenannten Citigroup-Memos im Jahr 2005, der bis heute nicht dementiert wurde, mag zwar einzig aus der Perspektive der Bank an ihre Kunden und deren nicht ganz uneigennützigen Zielen geschrieben sein, liegt aber ganz auf der gezeichneten Linie des Neoliberalismus. In dem Memo, das die USA als Plutonomie bezeichnet, also eine Gesellschaft, deren wirtschaftliches Wachstum von der reichsten Bevölkerungsschicht kontrolliert wird, heißt es: "Die stärkste und kurzfristigste Bedrohung wären Gesellschaften, die einen 'gerechteren' Anteil am Wohlstand einfordern."

Rechtfertigung für Ungleichheit

Keine Gesellschaft ist um eine Rechtfertigung der jeweils herrschenden Ungleichheit verlegen. Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hat in seinem neuen Opus Magnum "Kapital und Ideologie" die verschiedenen Rechtfertigungen untersucht. In einem Artikel fasst er die aktuelle Rechtfertigung prägnant zusammen: "In den heutigen Gesellschaften übernimmt diese Rolle vor allem die proprietaristische und meritokratische, den Unternehmergeist beschwörende Erzählung: Die moderne Ungleichheit ist gerecht und angemessen, da sie sich aus einem frei gewählten Verfahren ergibt, in dem jeder nicht nur die gleichen Chancen des Marktzugangs und Eigentumserwerbs hat, sondern überdies ohne sein Zutun von dem Wohlstand profitiert, den die Reichsten akkumulieren, die folglich unternehmerischer, verdienstvoller, nützlicher als alle anderen sind. Und dadurch sind wir auch himmelweit entfernt von der Ungleichheit älterer Gesellschaften, die auf starren, willkürlichen und oft repressiven Statusunterschieden beruhte."

Scheitern an der Wirklichkeit

Lange Zeit galt der Trickle-down-Effekt als Rechtfertigung für Ungleichheit. Auch heute wird dieses Argument gerne genutzt, wenn es darum geht, die Steuerlast der sogenannten Leistungsträger in der Leistungsgesellschaft zu deckeln. Aber, wie Paul Krugman, Wirtschaftsnobelpreisträger, zu Recht moniert: "Wir warten auf diesen Trickle-down-Effekt nun seit 30 Jahren - vergeblich." So die ebenso simple wie traurige Erklärung, warum gerade im Land des Amerikanischen Traumes die Wahrscheinlichkeit nachweisbar auffallend gering ist, sich vom Tellerwäscher bis zum Millionär hocharbeiten zu können.

Aber generell scheitert der Anspruch des Kapitalismus an der Wirklichkeit. Piketty hatte bereits in seinem Werk "Das Kapital im 21. Jahrhundert" basierend auf einer 15-jährigen Forschungsarbeit nachweisen können, dass die Natur des Kapitalismus keineswegs langfristig zu einer Reduzierung der Ungleichheit führt, sondern ganz im Gegenteil die zunehmende Ungleichheit in die DNA des Kapitalismus eingeschrieben ist. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus entspricht nicht der Natur des Menschen, sondern er widerspricht gerade seiner grundlegenden Eigenschaft, nur überschaubare Ungleichheit zu dulden und sogar für eine Reduzierung von Ungleichheit Opfer zu bringen. Dass zudem auch obige Rechtfertigung der Ungleichheit, die Piketty zusammengefasst hat, nicht den Test der Wirklichkeit besteht, vervollständigt das Bild. Dies beweist Piketty dank einer extrem umfangreichen Datenrecherche in "Kapital und Ideologie".

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