Großzügige Umverteilung erhöht Lebenserwartung

Seite 3: Leistung ist ein soziales Konstrukt

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Ein besonderer Aspekt der Rechtfertigung verdient hier kurz eine besondere Erwähnung: das Mantra, dass in einer Leistungsgesellschaft Leistung sich wieder lohnen und Leistungsträger nicht abgestraft werden dürften. Was hierbei grundsätzlich gerne übersehen wird - abgesehen von dem sehr diskussionswürdigen Prinzip der Meritokratie und damit verbunden der Chancengleichheit - ist eine Tatsache, auf die die Historikerin Nina Verheyen verweist: "Individuelle Leistung gibt es nicht, sie ist ein soziales Konstrukt oder anders ausgedrückt: Sie ist eine Leistung von vielen."

Die beiden Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Zucman respektive Thomas Piketty machen dies an den Beispielen von Donald Trump und Bill Gates anschaulich klar: "Trump selbst wäre nichts ohne die Infrastruktur, die seine Wolkenkratzer mit dem Rest der Welt verbindet, das Kanalsystem, über das ihre Abwässer ablaufen, die Lehrer, die seinen Rechtsanwälten das Lesen beigebracht haben, oder die Ärzte und die öffentliche Forschung, die ihn gesund halten, ganz zu schweigen von den Gesetzen und Gerichten, die sein Eigentum schützen. Was Gemeinschaften aufblühen lässt, ist nicht der ungezügelte Wettbewerb, sondern Kooperation und gemeinschaftliches Handeln." Und: "Sollen wir wirklich annehmen, Bill Gates und die anderen Tech-Milliardäre hätten ihre Geschäfte ohne die Hunderte von Millionen öffentlicher Gelder machen können, die seit Jahrzehnten in Ausbildung und Grundlagenforschung investiert wurden? Und glaubt man allen Ernstes, ohne tätige Hilfe des geltenden Rechts- und Steuersystems hätten sie ihr kommerzielles Quasi-Monopol aufbauen und ein Wissen, das allen gehört, zum privaten Patent anmelden können?"

Ungleichheit ist größte Angst der Menschen

In einer hochindividualisierten Gesellschaft sind wir es gewohnt, Leistung einzig einem Individuum zuzuschreiben und keiner Weise das Gemeinwesen hierfür zu belohnen, noch in dieser Hinsicht ein wichtiges Argument für die Reduzierung von Ungleichheit zu sehen. Vielmehr hat Ungleichheit inzwischen ein derartiges Gewicht erhalten, dass bereits im Jahr 2014 bei einer Umfrage in den USA und in Europa "die Sorge über die Ungleichheit alle anderen Gefahren in den Schatten stellt." Im März diesen Jahres, noch vor dem eigentlichen Beginn der Krise, erklärten drei von vier Deutschen, die Kluft zwischen Arm und Reich sei ungerecht groß.

In der aktuellen Krise deuten alle Vorzeichen auf eine gravierende Verschärfung der Ungleichheit hin. Bereits Mitte Juni hatte in den USA allein die sehr überschaubare Anzahl an Milliardären während der 12 Wochen der Krise 637 Mrd. US-Dollar bzw. 21,5 Prozent gewonnen. In der gleichen Zeit waren 44 Millionen US-Amerikaner in die Arbeitslosigkeit gesunken. In Deutschland steht eine genauere Analyse der aktuelle Ungleichheitsverschiebung noch aus. Allerdings hatte bereits kurz vor der Krise eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bereits ergeben, dass Vermögen in Deutschland weit ungleicher verteilt sind, als bisher angenommen.

Ungleichheit ist destruktiv, zerstört das soziale Kapital

"Für ein 'gesundes' Vertrauen, das Grundlage gesellschaftlichen Zusammenhalts sein kann, müssen wir zunächst zwei Bedingungen beachten. Erstens, dass der Kontakt zwischen unterschiedlichen Menschen überhaupt möglich ist. Zweitens, dass die Ungleichheit in der Gesellschaft insoweit begrenzt bleibt, dass ein solcher Kontakt auf Augenhöhe stattfinden kann." So schreibt Prof. Jutta Allmendinger und Jan Wetzel, die in ihren aufwendigen "Vermächtnisstudie" herausarbeiten, dass Ungleichheit Vertrauen, den Kitt der Gesellschaft, zersetzt.

Gerade im Angesicht des gängigen Diskurses, Ungleichheit entspreche der Natur des Menschen, wird allzu leicht auch die destruktive Kraft der Ungleichheit übersehen. Die britischen Epidemiologen Kate Pickett und Richard Wilkinson analysierten in ihrem grundlegenden Buch "Gleichheit ist Glück. Warum gerechtere Gesellschaften für alle besser sind" 23 der 50 reichsten Länder, die über gesicherte Daten der Einkommensverteilung verfügen. Sie kommen zu einem alarmierenden Ergebnis. Die Rate der physisch Kranken, der Drogenabhängigen, der Analphabeten, der Schulaussteiger, der Inhaftierten, der Morde, der psychisch Kranken, der Übergewichtigen und die Höhe der Säuglingssterblichkeit - all das steht jeweils in direktem Zusammenhang mit der Ungleichheit der Gesellschaft.

Studien anderer Autoren konnten ihre Ergebnisse bestätigen. Hieraus folgt, dass das Erste und auch das Entscheidende, was die Politik analysieren und verbessern müsste, wenn sie so unterschiedliche Probleme wie Bildung, Drogen, Gesundheitsprobleme, Analphabetismus und weitere bekämpfen will, der Grad der gesellschaftlichen Ungleichheit ist. Eine weitere bemerkenswerte Tatsache, die die Untersuchung zutage fördert: Nicht nur die unteren Gesellschaftsschichten profitieren von geringerer Ungleichheit, sondern die gesamte Gesellschaft.

Stigma der Neid-Debatte

Der Wirtschaftswissenschaftler Robert Lucas hat, wie eingangs erwähnt, vor einer näheren Beschäftigung mit der Frage der Ungleichheit gewarnt. Tatsächlich zeigt es sich aber, dass Ungleichheit das zentrale Thema und die entscheidende Frage schlechthin ist. Insbesondere wenn man den Lebensschutz ernst meint. Denn Ungleichheit steht auch im direkten Zusammenhang mit der Lebenserwartung, wie Wilkinson und Pickett demonstrieren konnten. Allein in London beträgt der Unterschied der Lebenserwartung eines Menschen, der in einem reichen oder in einem armen Viertel geboren wird, fast 25 Jahre. In den letzten 20 Jahren hat zudem der Unterschied der Lebenswartung in Großbritannien bei Männern um 41 Prozent und bei Frauen gar um 73 Prozent zugenommen.

Während derzeit täglich in den Diskussionen immer wieder der Lebensschutz als das Hauptargument für die daraus abgeleiteten Einschränkungen der Rechte und die Auflage neuer Sicherheitsmaßnahmen dient, sucht man das Thema der Ungleichheit vergebens auf der politischen Agenda. Wer aber Lebensschutz wirklich ernst meint und das Thema Ungleichheit nicht automatisch mit dem Stigma der sogenannten Neid-Debatte abqualifiziert, muss eine konsequente Politik betreiben, die die Ungleichheit wieder reduziert und Leben rettet.

Zweiter Akt der Solidarität

Daher gilt - nach wie vor und mehr denn je - die Forderung nach einem zweiten Akt der Solidarität. Nachdem der Schutz insbesondere der Risikogruppen in Deutschland insbesondere schwer für die ärmeren Menschen zu stemmen und ärmere Menschen überproportional häufig Opfer des Virus wurden, ist es an der Zeit, dass nun die ärmeren Menschen eher entlastet und insbesondere reichere Menschen zur Mithilfe aufgefordert werden.

Großzügigkeit, Umverteilung und Verringerung der Ungleichheit ist gesundheitsfördernd, denn sie entspricht der Natur des Menschen. Es ist Zeit, endlich Politik im Sinne dieser Natur des Menschen zu betreiben.

Verwendete Literatur:
Allmendinger, Jutta und Wetzel, Jan: Die Vertrauensfrage.
Atkinson, Anthony B.: Ungleichheit.
Fukuyama, Francis: Identität.
Hayek, Friedrich von: Der Weg zur Knechtschaft.
Mirowski, Philip: Untote leben länger.
Pinker, Steven: Das unbeschriebene Blatt.
Piketty, Thomas: Das Kapital im XXI. Jahrhundert.
Piketty, Thomas: Kapital und Ideologie.
Ricard, Matthieu: Allumfassende Nächstenliebe.
Slobodian, Quinn: Globalisten.
Tomasello, Michael: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral.
Verheyen, Nina: Die Erfindung der Leistung.
Wilkinson, Richard und Pickett, Kate: Gleichheit ist Glück. Warum gerechtere Gesellschaften für alle besser sind.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen - Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen"

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