Grün für's Gehirn

Seite 2: Die kritische Pubertät

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Zurück zu den Nagern: Auch sie kommen in die Pubertät, wenn sie das Elternnest verlassen, und man weiß seit langem, dass dies eine Lebensphase ist, in der eine reizarme Umwelt besonders schwerwiegende langanhaltende Schäden verursacht. Erst vor wenigen Jahren wurde, wiederum bei Mäusen, bestätigt, dass ungefähr in dieser Zeit die Isolierung der Nervenbahnen im Stirnhirn vonstattengeht und durch soziale Isolierung bleibend gestört wird, mit sichtbaren Folgen für das Verhalten.

Nagetiere, die nach der Entwöhnung sensorisch depriviert und in sozialer Isolation aufgezogen werden, haben eine dünnere Hirnrinde, darin geringer verzweigte Nervenzellen, die von einem andersartig gemixten Cocktail aus Botenstoffen gesteuert werden. Sie können sich Informationen schlechter merken, lernen schlechter und haben soziale Defizite. Viele dieser Schäden sind kaum wieder gut zu machen, sie bleiben dem Hirn zeitlebens eingeschrieben. Allerdings weisen einige meist jüngere Studien darauf hin, dass eine nachfolgende Umweltanreicherung unter bestimmten Bedingungen sozusagen therapeutisch wirken kann.

Später sind die Auswirkungen der Umwelt auf das Gehirn zwar auch noch stark, aber nie mehr langanhaltend. Die kritische Phase ist vorüber. Dennoch war es in meiner Forschung eindrucksvoll zu sehen, wie sich die Sehrinde einzeln gehaltener Mäuse von veränderter Seherfahrung kein Stück beeindrucken ließ - die Sehrinde sich aber sofort plastisch zeigte, wenn man nur eine zweite Maus dazugesellte.

Das Gehirn jung tanzen

Andere Arbeitsgruppen untersuchen, ob und wie eine anregende Umwelt noch im Alter segensreich wirken kann. Einer der Vorreiter dieser Forschungsrichtung in Deutschland, Hubert Dinse, führte in seinen Vorträgen gern ein Video vor (ca. ab 7:00min), das zunächst eine junge Ratte zeigt, die einen Stock entlang balanciert: taptaptap. Es folgt eine steinalte Ratte, die nie ihren kleinen Käfig verlassen hat: Plumps - und das Auditorium lacht zuverlässig an der Stelle. Als drittes dann aber eine ebenso alte Ratte, die nach zwei Jahren Standardkäfig einige Monate in einer reizreichen Umwelt leben durfte: Sie schlurft ein wenig, aber sie kommt an. Ableitungen im Gehirn offenbarten zusätzlich, wie die innere Repräsentation der Gliedmaßen im Alter durcheinander geriet und sich durch Umwelterfahrung wieder glättete.

Von diesen eindrucksvollen Erfolgen angeregt, übertrug Dinse den Ansatz auf den Menschen. Er rekrutierte 35 Rentner, von denen die Hälfte im nächsten halben Jahr einen Tanzkurs machen durfte. Danach wurden die Tänzer mit den Nichttänzern verglichen: In zahlreichen Maßen schnitten sie erheblich besser ab - auch verglichen mit der Erstmessung -, und das nicht nur in solchen, die mit körperlicher Fitness zu tun hatten (Körperhaltung, Reaktionszeit, Handgeschicklichkeit), sondern auch in der allgemeinen Kognition und in der Tastwahrnehmung.