Grundrecht auf Fortbewegung

Das Urteil gegen den Bahnstreik ist auch ein Urteil gegen die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur

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Früher waren Lokführer und Postboten Beamte. Mit gutem Grund: Sie durften nicht streiken, die Züge fuhren ganz überwiegend pünktlich, und die Post kam praktisch immer an. Heute, nach einer Teilprivatisierung, nimmt die Post täglich 70000 verschwundene Briefe sowie 2000 abhanden gekommene Pakete in Kauf - und aus einer sprichwörtlichen Pünktlichkeit der Bahn wurde eine sprichwörtliche Unpünktlichkeit. Der Gesetzgeber hatte die Aufgaben, die einer wirtschaftswissenschaftlichen Mode folgend teilprivatisiert wurden, jedoch mit gutem Grund als öffentliche Dienste gestaltet. Dies wird auch durch die Streiks und das Verbotsurteil dazu deutlich.

Das Arbeitsgericht Nürnberg verbot am Mittwoch den angekündigten Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) im Güter- und Fernverkehr per einstweiliger Verfügung bis 30. September. Die Entscheidung über den Widerspruch der Gewerkschaft ist für Freitagvormittag angesetzt.

Dass das Gericht seine Meinung ändert, steht nicht zu erwarten - erst in der nächsten Instanz ist die Frage wieder wirklich offen. Zur Nürnberger Entscheidung hinzu kam eine des Arbeitsgerichtes Chemnitz, die Streiks bei der Bahntochter DB Regio verbot, welche den Großteil der deutschen S-Bahnen betreibt - außer in Berlin und Hamburg. Und genau dort streikte die GDL am Donnerstag.

Die Bahn habe das "Gebot der Fairness" verletzt, kritisierte der GDL-Vorsitzende Manfred Schell die mit der Gewerkschaft gegenüber unangekündigt eingereichten Anträge auf einstweilige Verfügungen. Er gab bekannt, Streiks deshalb zukünftig nicht mehr ankündigen zu wollen. Für die Bahnkunden ist diese Strategie allerdings deutlich unangenehmer: Ihnen blüht künftig, dass sie jederzeit unangekündigt sitzen- bzw. stehengelassen werden können - was viele schon im Vorfeld zu Transportalternativen greifen lassen dürfte.

Der GDL-Bezirksvorsitzende Hans-Joachim Kernchen betonte jedoch, dass die Züge in den Bahnhöfen bestreikt würden, und nicht auf der Strecke: "Wir wollen ja die Reisenden nicht in Haft nehmen". Wohlweislich - denn auch die Juristen der Gewerkschaft kennen offenbar die Entscheidung, dass das Delikt der Freiheitsberaubung bereits ab der Dauer eines Vaterunser vollendet ist - von daher wäre es für die Gewerkschaft durchaus riskant, Züge auf offener Straße stehen zu lassen, ohne dass die Fahrgästen die Möglichkeit eines Ausstiegs haben - etwa in einem S-Bahn-Tunnel.

Spagat zwischen öffentlichem Recht und Tarifrecht

Das Urteil des Arbeitsgerichtes Nürnberg, das vom Spiegel bis zur jungen Welt unisono als unhaltbar und wahrscheinlich grundgesetzwidrig gewertet wurde, hat jedoch auch eine andere, bisher übersehene Seite: Durch den Streik, so die Nürnberger Richter in ihrer Entscheidung, drohten nicht nur der Bahn AG, "sondern der gesamten Volkswirtschaft insbesondere in der Hauptreisezeit immense wirtschaftliche Schäden".

Damit machten sie die Entscheidung zu einem Versuch, den das öffentliche Recht bestimmenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in ungewöhnlich umfassender Weise auf das Tarifrecht anzuwenden - und ernteten harsche Kritik von allen Seiten. Ursache für den rechtlichen Spagat sind jedoch die Folgen einer Privatisierung, welche die Systematik des Rechts völlig durcheinander gebracht hat.

Insofern stützt das Urteil auch die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Bahnprivatisierungsgesetz, mit dem sich der Bund - so die Kritiker - "jenseits jedes unmittelbaren Einflusses auf das operative Geschäft der Infrastrukturgesellschaft" begibt - und dadurch gegen das Infrastrukturgebot aus dem Grundgesetz verstößt. In Artikel 87 e Absatz 4 des Grundgesetzes heißt es sogar wörtlich:

"Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird."

Kritikern wie Winfried Wolf zufolge verbietet dieser Verfassungsartikel eine Privatisierung des Bahnbetriebs, weil sich private Betreiber am Aktienkurs und nicht an den Verkehrsbedürfnissen oder am Wohl der Allgemeinheit orientieren. Für sie, so Wolf, "zählt allein die maximale Rendite". Entsprechend kann privaten Betreibern auch ein umfassendes Streikrecht entgegengesetzt werden - was in sensiblen infrastrukturellen Bereichen jedoch Nebenwirkungen für die Allgemeinheit hat, die das Nürnberger Arbeitsgericht mit seinem Rückgriff auf die Verhältnismäßigkeit zu vermeiden versuchte.