Gruppensex mit Palästinenserinnen

Michel Houellebecq hat erneut zugeschlagen

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Egal ob Bret Easton Ellis, Martin Amis oder die deutsche Ramschversion Thor Kunkel – an Tabubrechern mangelt es in der internationalen Gegenwartsliteratur sicher nicht. Aber an die Zerstörungskraft des Schriftstellers Michel Houellebecq reicht keiner von ihnen ran. Erneut zugeschlagen hat nun der französische Autor, der schon in seinen Romanen "Ausweitung der Kampfzone" und "Elementarteilchen" mit politischen und gesellschaftlichen Tabus so zärtlich umging wie eine Axt. In seinem neuen Roman "Die Möglichkeit einer Insel" geht es um nicht mehr als die Zerstörung der Welt.

Gleich vorweg: Die Romanhandlung wimmelt nur so von rassistischen, antisemitischen, sexistischen, pornografischen, Gewalt verherrlichenden und Menschen verachtenden Motiven, Figuren und Strängen. Selten zuvor wurden Tabubrüche drastischer inszeniert und wohl nie waren sie umfangreicher. Das beginnt schon bei Houellebecqs Hauptfigur, dem französischen Starkomiker Daniel 1, der seinem "Publikum von Arschlöchern und Affen“ Filme und Shows wie jene mit dem Titel "Am liebsten Gruppensex mit Palästinenserinnen" bietet, wobei ihn seine Fans unbedingt als Humanisten missverstehen wollen. Er selbst bezeichnet sich als "rechter Anarchist", dem es darum geht, "der Moral den Hals umzudrehen".

Wer sich nun deswegen gleich in den Kanon von großen Teilen der Literaturkritik aus Frankreich und vereinzelt auch aus Deutschland einreihen will, sollte erstmal in den Roman selbst schauen. Denn dort ist natürlich, wie immer bei Houellebecq, alles nur ein Spiel mit der Öffentlichkeit und den Medien, eine Art Gesellschaftstest, der treffen soll, was ohnehin schon wackelt – ob Werte oder Normen, Männer, Frauen oder Kinder, Araber oder Europäer, Verhalten oder Gedanken, Kunst oder Kitsch. In den Worten von Daniel 1 klingt das so: "Der Humor und das Gefühl des Lächerlichen können nur dann einen echten Triumph erzielen, wenn sie etwas aufs Korn nehmen, das bereits ziemlich angeschlagen ist." Damit folgt Houellebecq den Wegen Balzacs und Nietzsches, die von Daniel 1 folgerichtig als geistige Ahnen benannt werden, sowie Schopenhauers, auf den sich der Autor selbst gerne bezieht.

Wo nur noch Sex ist, ist die Langeweile nicht weit

Jenseits von Satire und Bühne genießt der Protagonist des Romans in Spanien seinen Reichtum, einsam und frustriert, aber wegen der Aussicht auf guten Sex immer noch ungebrochen: "Dass es überhaupt so etwas wie eine Muschi gab, war schon als solches eine Segnung", formuliert er rasch, und anschließend wird derart ausgiebig gefickt, geblasen, geleckt und gewichst, dass einschlägige Internetanbieter erstmal Angst vor der Zukunft bekommen können. Doch auch das ist nur von kurzer Dauer. Ähnlich wie im Werk des Schotten Irvine Welsh dienen die semipornografischen Passagen häufig nur dazu, Lust in Frust und Geilheit in Ekel zu verwandeln. Denn wo nur noch Sex ist, ist die Langeweile nicht weit, und noch die beste Erektion wird zum Problem, wenn man sich wie Daniel 1 an den Partnerinnen nicht mehr erfreuen kann.

Ein paar tausend Jahre später blicken die Klone Daniel 24 und Daniel 25 auf das Leben ihres genetisch identischen Vorgängers Daniel 1 zurück. Die Menschheit hat sich in der Zwischenzeit dank atomarer Kriege und gigantischen Naturkatastrophen beinahe selbst abgeschafft. Übrig bleiben nur einige Meuten und Horden echter Menschen, "ihre Vorderseite ist eine Masse aus nacktem, rotem, bloßliegendem Fleisch, das von Würmern befallen ist" sowie die Spezies der Neo-Menschen. Zu ihnen gehören die Klone Daniels, und sie warten weitgehend emotions- und affektlos auf das Anbrechen einer digitalen Zukunft, in der alle Gefühle einer großen Gelassenheit gewichen sind.

Bis es soweit ist, studieren und kommentieren sie den Lebensbericht von Daniel 1. Sie nehmen Teil an seinem beruflichen Aufstieg; sie erleben mit, wie Frauen kommen und gehen; und sie sind dabei, als er in Kontakt mit den Elohimiten kommt. Diese Sekte, die offensichtlich den Raelianern nachempfunden ist, gibt vor, an eine außerirdische Intelligenz zu glauben, die das Leben auf der Erde einst beeinflusst habe. Weil die Rückkehr dieser "Elohim" erwartet wird, bauen die Anhänger unter der Führung ihres Propheten auf Lanzarote einen Tempel, forschen und arbeiten aber gleichzeitig am Projekt des ersten Menschen, "der auf rein künstlichem Weg geschaffen wird; der erste richtige Cyborg". Daniel 1, der an nichts außer Gewalt, Geld und einen guten Fick glaubt, lässt sich DNA entnehmen und mischt bei den Elohimiten mit. Weder ihre sinnleeren Rituale noch ein Mord können ihn schrecken, denn die Sekte propagiert Sex ("Arsch oder Möse – für den Propheten war alles gut") und verspricht ewige Jugend durchs Klonen, ein Aspekt, der den alternden Komiker wie nichts anderes fasziniert, da sein Lebensfazit düster ausfällt:

Mein ganzes Leben lang hatte ich mich nur für meinen Pimmel oder für gar nichts interessiert, und jetzt war mein Pimmel abgestorben, und ich folgte seinem verhängnisvollen Niedergang.

Hier kommen wir zu Houellebecqs neuem Hauptthema, der Vergreisung der Gesellschaft, das leider auch die größte Schwäche des Romans ausmacht. Wo sonst geholzt wird, dass die Äste, Stämme und Wurzeln von allem fliegen was wächst und gedeiht, schleicht sich bei der Schilderung des Alterns Sentimentalität ein. Sie soll offensichtlich einen Kontrapunkt zur Alltagsbrutalität der Gegenwart bilden, nervt aber schnell. Wenn unsere Gesellschaft, wie Daniel 1 beiläufig meint, "eine allgemeine Tendenz zur Barbarei" hat, warum sollte sie sich dann bei den Alten anders verhalten? Warum sollten, wo im Roman "erste childfree zones" entstehen, nicht auch greisenlose Regionen denkbar sein? (Schon so mancher Schriftsteller hat mit fortgeschrittenen Lebensjahren seine Altersmeise bekommen und sich wie zuletzt Eckhard Henscheid um Sinn und Verstand geschrieben, bei Houellebecq bleibt erstmal zu hoffen, dass es nur am Thema liegt).

Eine allgemeine Tendenz zur Barbarei

Denn beim großen Lamento über den "unerträglich moralischen Schmerz des Alterns" selbst und den Umgang kapitalistischer Gesellschaften mit ihren Alten ("Nur ein wirklich modernes Land war imstande, Greise wie bloßen Müll zu behandeln") unterscheidet sich sein Daniel 1 kaum von den üblichen Konservativen, die sich mittlerweile massenhaft zum selben Thema auslassen. Seine Erkenntnis, "dass das Glück den jungen Menschen vorbehalten ist und jede Generation zu einem bestimmten Zeitpunkt geopfert wird", schirrmachert jedenfalls frank und frei und selbst in der Zukunft der photosynthetischen Klone darf das "Methusalem-Komplott" nicht fehlen.

Irgendwie mag das noch zur ausgeprägt antimodernen Weltsicht Houellebecqs passen, nicht aber zu seinem Blick in die Zukunft, wo "das Glück kein möglicher Horizont" ist, und erst recht nicht zu seinem schonungslosen Umgang mit Tabus aller Art. Auch wenn sich des Autors Axt ein wenig abgestumpft hat, ist "Die Möglichkeit einer Insel" ein hübscher Roman geworden, dem es an Originalität, Understatement und Sprachkraft – bei Houellebecq ist es wie immer die des Simplen – nicht fehlt. Wer es aber gerne härter und emotionsloser mag, der wartet auf den nächsten Roman von James Ellroy.

Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont, Köln 2005. 443 S., 24,90 Euro