Gut und Böse bei Twitter und Co.: Zur Paradoxie des öffentlichen Gefühlslebens

Über die Produktion von Emotionen: Wenn die bloße Existenz von Migranten, Russland oder eines Virus Menschen in Angst versetzt – und wie schnell netzaffine Empörungslinke staatstragend werden.

Die Kritik an der Emotionalisierung von Debatten, die in der letzten Zeit immer wieder angestimmt wird, krankt an dem Mangel an Argumenten, die über das Zeigefinger-Erheben hinaus Geltung beanspruchen könnten. Die Emotionalisierungs-Kritik macht es sich ein wenig zu leicht, wenn sie sich selber des Aufscheuchens eines gefühligen Publikums bedient: "Mein Gott, wie schlimm, diese Emotionalisierung, ich bin ganz erbost!".

Einerseits hat die Gefühlsäußerung in den Medien zwingend den Anspruch der Authentizität, es dürfte letztlich sogar ihr einziger sein. Andererseits ist gerade, was am echtesten sein soll, ebenso zwingend am gefaketesten, wie die einstudierte Spontanität der Lifestyle-Podcasts und die auswendig gelernten Emotions-Darbietungen in den sozialen Medien zeigen.

Das grundlegende Problem beim Gefühl als Maßstab für objektive Zusammenhänge ist ja: Jeder empfindet anders, und wenn es auch eine kleinste gemeinsame Empfindung geben mag, kann nicht verbindlich festgelegt werden, wer in welcher Situation, was genau empfindet.

Der Widerspruch besteht darin, dass einerseits darauf geachtet werden soll, die Gefühle anderer nicht zu verletzen, andererseits aber Empathie gefordert wird: Beides geht nicht in eins, denn Empathie hieße, sich mit seiner subjektiven Gefühlswelt in die Lage des anderen hineinzuversetzen.

Wenn aber die Gefühle verschieden stark sind, könnte schließlich gerade Empathie dazu führen, das jemand sich gegenüber anderen grob verhält, eben weil er in einem bestimmten Falle nunmal weniger empfindet als der andere.

Auch könnte Empathie durchaus heißen, dass man selber sehr genau zu wissen glaubt, was der andere empfindet, und ihn gerade deshalb, mit guter Absicht, verletzen will – etwa, weil einem das eigene emotionale Verletztwerden geholfen hat, stärker oder reifer zu werden. Mit der Empathie kommt man also so wenig weiter, wie dem bloßen Gefühl als Argument.

Im Lauf der Geschichte wurde immer wieder versucht, aus der Gesamtheit einer Klasse von Empfindungen, die relativ deckungsgleich mit der Herkunft, dem Milieu, also der gesellschaftlichen Klasse der Empfindenden sein dürfte, eine Moral zu machen: Was mir "übel aufstößt", was mich oder "meine Gefühle", mein "sittliches Empfinden" verletzt, möge, so hoffte man, auch für andere verletzend sein – so als gäbe es keine Psychopathen oder Borderliner.

Wenn von bürgerlicher Klasse die Rede ist, sollte also auch von bürgerlichen Gefühlen gesprochen werden. Denn diese sind es, die nun allen, auch den weniger Bürgerlichen, aufgedrängt werden sollen – wenn man sich auch den materiellen Lebensstil des Bourgeois nicht leisten kann, so soll man doch immerhin einmal fühlen, was der Villenbesitzer so fühlt, wenn er abends im Heimpool vor dem Heimkino im Fernsehen die Silvester-Randalierer pöbeln sieht.

Leute schließen dabei von sich auf andere und wollen ihnen vorschreiben, was sie empfinden sollen; sie sind dann ganz empfindlich, wenn nicht empfunden wird, was sie selbst empfinden. In der Propaganda einer bestimmten, bloß eingeschränkten Palette von Gefühlen, soll etwa die Gültigkeit der eigenen Verletztheit auf andere übertragen werden, gar ihre Garantie dadurch enthalten, dass sie vergesellschaftet, also von der Einzel-Empfindung zur Gemeinschaftsempfindung werde.

Je mehr Leute genauso fühlen wie ich, desto legitimer ist mein Gefühl, desto gestärkter gehe ich aus der Auseinandersetzung hervor. Dabei ist das einzelne Gefühl als solches ohnehin nie dingfest zu machen, kann also auch nicht legitimiert werden: schließlich bin ich immer alleiniger Herr nicht nur über mein Gefühl, sondern auch über dessen Definition.

Ob ich wirklich gefühlt habe, was ich öffentlich zu fühlen vorgebe, kann niemand wirklich wissen. Und schon in dem Moment, in welchem es geäußert wird, ist das Gefühl kein bloßes solches mehr, sondern bereits mit Abstand betrachtetes, rational verarbeitetes. Es muss notwendig zum Gedanken, also Geistiges werden.

Das Gefühl selbst ist als direkte Funktion körperlicher Empfindungsbereitschaft zunächst auf das Innere des Einzelnen beschränkt. Im Gemeinschaftsgefühl, das nicht dem Individuum, sondern der medialen wie staatlichen Emotionsproduktion entspringt, wird eine gravierende Projektionsleistung vollbracht: Man will, dass man fühlt, was die anderen fühlen, deshalb fühlt man es. Wo reflektiert werden müsste, gibt man stattdessen vor, man teile ein gemeinsames Gefühl.

Zu politischen Zwecken wurde dieser Mechanismus schon immer angekurbelt, aber heute muss das nicht mehr, wie etwa noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, explizit von oben vollbracht werden, sondern es scheint zumindest so, als ob die jeweiligen Gemeinschaftsgefühls-Bubbles auch außerhalb digitaler Netzwerke selber jene Stimmung einer politischen Romantik verbreiten helfen, die dann der herrschenden Irrationalität in der Politik nur gelegen kommt.

Im gefühlsindustriellen Zeitalter wurden nicht nur den Einzelnen ihre Gefühle enteignet, sondern der soziale wie auch der intellektuelle Streit wurde zur bloßen Gefühls-Auseinandersetzung: nun soll der das meiste Recht haben, der am meisten fühlt, während der angeblich oder tatsächlich am wenigsten Fühlende, der "Empathielose", zum Aussätzigen, zum Sündenbock des sich gut und moralisch erhaben dünkenden Volkszorns wird.

Inzwischen hat sich Stärke der Verletztheit von Gefühlen eines Individuums als proportional zum Grad seiner geistigen wie sozialen Verelendung erwiesen – die Verletzung ist also eine reale; das Einfordern allerdings von bestimmten Rechten oder einer Moral, die dieser Verletztheit Rechnung trägt, hat sich als Fehler herausgestellt.

Denn mit diesem Einfordern wurde die stete Verletzung nicht als implizite Aufforderung zum Klassenkampf aufgefasst, sondern bloß als Grund, sich gemütlicher – und nun durch Moral und Recht gedeckt – in dieser Verletzung und damit in der sie umgebenden Welt einzurichten.

Das Geschäftsmodell der digitalen Netzwerke nun bedient sich der Enteignung des individuellen Empfindungslebens durch dessen kontinuierliche Veröffentlichung, wie gleichzeitig die politische Herrschaft die emotionalen Ausnahmezustände ausbeutet.

Ob Angst vor Viren, vor Russland oder Migranten – es gibt nicht mehr einfach nur um Migranten, Russland oder ein Virus, sondern ihre bloße Existenz soll die Menschen schon in Angst versetzen, sie lähmen, sie befrieden oder nach Aufrüstung rufen lassen, und damit einhegen in den nationalen Emotions-Zusammenhang.

Wo die Öffentlichkeit inzwischen auch, wie etwa in den sozialen Medien, als Mittel zum privaten Zeitvertreib dient, rückt in den Hintergrund, dass diese Öffentlichkeit immer noch Produktionsmittel, das heißt Quelle der privaten Aneignung von Arbeit, zum Beispiel durch Konzerne ist.

So wird jetzt beides miteinander verschaltet: nachdem das individuelle Gefühl enteignet wurde, wird die Gefühlswelt der Vielen angeeignet und zur Ware gemacht. Es ist in etwa so, als würden Immobilienkonzerne den Leuten zuerst ihre Eigentumswohnungen zum Dumpingpreis abkaufen und ihnen dann zur horrenden Monatsmiete wieder ausleihen, aber diesmal mit großem Werbebanner für oder gegen irgendeine politische Agenda an der Hausfassade.

Als Selbstausbeuter auf diesem Markt treten die aktivistischen Social-Media-Empörer auf, die wiederum die Affekte als Mittel benutzen, um ihre jeweilige Öffentlichkeits-Nische zu bewirtschaften.

Es gab vor einigen Jahrzehnten mal eine Linke, die so etwas zumindest radikal kritisierte; heute sind sie als Aufgeschmissene und im Konkurrenzsystem Verworfene selbst auf diese Mittel angewiesen, womit sie aber gleichzeitig, den perfiden Plan selbst ausführend, auch ihre inhaltliche Substanz verlieren.

Wer von den Gefühlen der Majorität abhängig ist, wird deren Gesellschaft nicht angemessen in Frage stellen können – und wenn, dann höchstens als Show-Effekt unter anderen.

Empörungslinke geben vor, solidarisch mit anderen zu sein und gleichzeitig die Kritik oder Vernunft zu stärken, aber profitieren an der öffentlichen Affekt-Betreuung nur als Einzelne, als Privatpersonen, während sie derweil an der Zerstörung der Rationalität in der öffentlichen Sphäre mitwirken. Indem sie noch jeder rechten Provokation empört hinterher hecheln, sind sie bereits selbst ein Teil der Misere, die aufzuheben wäre.

Solche Gefühlsmakler sind Propagandisten in eigener Sache, Solo-Selbständige der Emotions-Orchestrierung. Je extremer die rebellische Geste, je voraussetzungsreicher das Szene-Meme, desto größer die Sicherheit, dass die herrschende Klasse es mit der digital gewordenen Harmlosigkeit zu tun hat.

Wenn inzwischen schon Bundesministerien sich radikal gebende Blogger für ihre Propaganda engagieren, zeigt sich, dass man es bei der Attitüde der Empörung lediglich mit einer neuen Form der staatstragenden subkulturellen Ignoranz zu tun hat.

Der symbolischen und emotionalen Einhegung in die digitalen Sphären folgt eine in die Staatsraison. Noch die radikalste politische Gebärde, lässt sich zu Argumenten für die Herrschenden machen, solange die Herrschenden das Monopol auf die Interpretation der Argumente haben, und umso einfacher wird es, wenn es sich dabei um bloße Affekt-Argumente handelt. Denn die politische Ausgestaltung der Gefühle obliegt der Politik.

Das Gefühl auf Knopfdruck ist keines mehr

Wenn das Online-Magazin ze.tt titelt "Klassenunterschiede in Beziehungen: Akademikerkinder planen sogar, wie und wann sie Gefühle äußern", dann verrät das auch Wesentliches über die ausgestellten Empfindungen von akademischen Empörungs-Emporkömmlingen in den sozialen Medien.

Das Gefühl auf Knopfdruck ist keines mehr; es ist rational kalkuliert, und damit sein Gegenteil – Mittel zum Zweck, Karrierebaustein, Heuchelei im Dienste des eigenen Interesses.

Diese Entwicklung führt zur Mobilisierung von individuellen Gefühlen und Affekten, Ressentiments für größere, etwa nationale Zwecke durch den Staat und jene, deren Aufgabe es ist, die Interessen der Stärksten dieses Staates seinen Bürgern nahezubringen, durch Schulen, Universitäten, Massenmedien und andere Vermittlungs- und damit: Legitimierungs-Agenturen der herrschenden Verhältnisse, die bei Louis Althusser daher "ideologische Staatsapparate" hießen.

Da aber auch bürgerliche Gesellschaften aus der Geschichte lernen, werden inzwischen geschicktere Methoden der Verbreitung von Ideologie, also Herrschaftslegitimation angewendet, die man in Anlehnung an Althusser als "emotionale Staatsapparate" bezeichnen könnte.

Von herkömmlicher Ideologie und deren Apparaten unterscheiden sich diese dadurch, dass sie Erkenntnisse über die Welt nicht mehr über gedanklich, sondern über Emotionen vermitteln. So wird etwa in den Netzwerken nahezu automatisch die herrschende Haltung übernommen, weil diese dem Gefühl prinzipiell genehmer ist, als eine strittige, abweichende.

Die Kontrolle, die früher von außen kam, wird so zur Selbstkontrolle und die herrschende Politik kann bei ihren Entscheidungen demokratisch beflissen aufs Individuum verweisen, indem es dessen Gefühl zum politischen Wunsch stempelt.

Durch eine teils recht larmoyante und unreflektierte Art der Empathie sind die Aktivisten und ihre Follower an diese emotionalen Staatsapparate angeschlossen, weil solches Mitfühlen zwischen dem eigenen Gefühl und dem der anderen nicht mehr zu unterscheiden weiß.

Das Gefühl des Einzelnen wird so zur Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Staat, das Individuum selbst wird zum emotionalen Staatsapparat: Die bei allen ohnehin vorhandenen Gefühle reichen noch nicht, sie sollen qua medialer Apparatur gelenkt und verstärkt werden, etwa um einen Sachverhalt als eine möglichst große, möglichst konkrete und möglichst den Einzelnen persönlich treffende Bedrohung darstellen zu können.

Die Formen des Aktivismus, die sich auf diese Eben begeben, sind zunächst einmal als simple Ausbeutung von seelischen Qualitäten ihrer Anhänger und Follower zu begreifen: Der Zorn, die Wut, der Hass, der in Konkurrenzgesellschaften immer wieder notwendig auf Mitbewerber und Gegner aufkommt, soll hier als eine Moral, als Anständigkeit, Sensibilität oder awareness kultiviert werden.

Das ist zwar oft noch vorpolitisch, bereitet aber doch den Boden für Späteres, Politisches. Das Gefühl als Moral ist dann von der staatlichen Moral als Gefühl nicht mehr zu trennen. Die ideologische Rechtfertigung der gesellschaftlichen Verhältnisse kann sich auf diese Weise direkt ins Emotionsleben des Bürgers einmieten.

Die Seelen und ihre spontanen Gefühle sehen ab von globalen Zusammenhängen, wenn ihre Kräfte nur durch die Erfahrungen in der kleinen Gemeinde und deren Zuspruch gestärkt werden. So können sie jederzeit fürs große Staatsprogramm instrumentalisiert werden – "Du hast auch Gefühle? Dann bist du bei uns richtig, wir nämlich auch. Euer Ministerium für Verteidigung!"

Ob es also bald die ersten Aktivisten geben wird, die ein "Gefühls-washing" beklagen?

Von Marlon Grohn ist soeben in der Reihe "Pankower Vorträge" die Broschüre "Hegels 'Schöne Seele' und ihr Verhältnis zum Bösen. Tote Gemüter, die Romantik der Sozialen Medien und Kojèves Stalinismus" erschienen. Sie hat 68 Seiten und ist für 4 Euro plus Porto zu bestellen unter info@helle-panke.de