Haben wir Russland verloren?
Seite 2: Ukraine, Russland und der Krieg: Stammtischanalyse dominiert
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Ja, sicher, der Kreml hat diesen Krieg begonnen. Aber schon die Frage, ob er ihn nach knapp eineinhalb Jahren angesichts der nationalen und internationalen Dynamiken einfach so beenden kann, ist keineswegs mit einem einfachen Ja zu beantworten. Und es ist ein Problem in der politischen Debatte über diesen Krieg, den man mit Fug und Recht als die erste Schlacht einer neuen Zeit bezeichnen kann, dass diese Stammtischanalyse dominiert.
Denn wer kann mit Sicherheit sagen, inwieweit die russischen Soldaten freiwillig in den Krieg ziehen? (Selbst die ukrainische Seite bestreitet dies immer wieder.) In der schablonenhaften Darstellung des kriegslüsternen Russen bricht sich jedenfalls eine allgegenwärtige Enthemmung Bahn, die moralisch daherkommt, letztlich aber in bedenklicher Art und Weise an die Hetze gegen den "jüdischen Bolschewismus" erinnert.
Als ein Aktivist früher in diesem Jahr einen ausgebrannten russischen Panzer aus der Ukraine vor die russische Botschaft stellte – das Kanonenrohr auf das Gebäude gerichtet –, fanden ethische Bedenken jedenfalls ebenso wenig Gehör wie der Veranstalter sich hinreichend von früheren, sagen wir, Russland-Kritikern distanzierte, die Anfang Mai 1945 nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt von der Roten Armee aus ihren Bunker gezerrt worden waren.
Es war mithin spannend zu beobachten, wie eine zeitgleich in der Nähe stattfindende Demonstration für eine diplomatische Lösung des Krieges sich den Vorwurf gefallen lassen musste, sich nicht ausreichend von politisch rechts stehenden Teilnehmern abgegrenzt zu haben, während niemand auf die Idee kam, dass Wehrmachtsfanboys durchaus Gefallen daran finden könnten, Selfies vor einem ausgebrannten russischen Panzer im Herzen Berlin zu machen.
Nach fast eineinhalb Jahren Krieg gegen die Ukraine verfestigt sich der Eindruck, dass es sowohl in Russland als auch im Westen Akteure gibt, die ein erhebliches Interesse daran haben, die gegenseitige Entfremdung weiter voranzutreiben. Und das völlig unabhängig von der Frage, wie dieser Krieg begonnen hat und wer welchen Anteil daran trägt.
Knochen im Flussbett des Dnipro
Das Hauptproblem der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass –wie Sicherheitspolitiker aller Couleur immer wieder betonen – die Situation nicht vom Ende her gedacht wird. Der moralische Impetus, der unseren Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine, anders übrigens als auf die Kriege des Westens, bestimmt, verhindert eine offene und vorausschauende Debatte.
Diese Haltung zerstört gleichsam die jahrzehntelange Versöhnungsarbeit der Deutschen mit den Völkern der ehemaligen Sowjetunion – Russen, Ukrainern und anderen übrigens. Wer will ernsthaft Schuld aufrechnen? Nicht nur die Knochen von Wehrmachtssoldaten, die nach der Sprengung des Kachowska-Staudamms unlängst aus dem Flussbett des Dnipro gespült wurden, gaben zu denken.
Die militärische Front Russlands in der Ukraine muss beseitigt werden. Die politische Front des Westens gegen Russland ebenfalls. Denn so oder so wird es eine Zeit nach diesem Krieg geben. Und dann wird die Frage eines Neuanfangs auf der Tagesordnung stehen.
Der Westen, auch Deutschland, hat in den letzten anderthalb Jahren ohne Not vieles zerstört, was in Russland lange aufgebaut wurde. Man hat leichtfertig den Hardlinern das Feld überlassen.
Gestrichene Stipendienprogramme, ausgesetzte Kooperationen, annullierte Visa: Auch das liberale Russland, das jetzt so wichtig wäre, wurde im Stich gelassen.
Was bleibt, sind Nationalisten und Popen auf der einen und deutsch-russische Gesprächskreise der AfD auf der anderen Seite. Und die Austauschprogramme? Und die Friedensarbeit? Die gemeinsame Suche nach den Überresten der Gefallenen des letzten gesamteuropäischen Krieges? All das ist derzeit ungewiss.
Wann, wenn nicht im Krieg, stellt sich die Frage nach dem Frieden?
Und nach denen, die ihn möglich zu machen fähig sind.
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