Haben wir Russland verloren?
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- Ukraine, Russland und der Krieg: Stammtischanalyse dominiert
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Der Krieg hat in Russland zu Repression und Regression geführt. Das liegt auch daran, dass wir die liberalen Kräfte im Stich gelassen haben. Das wird nicht ohne Folgen bleiben. Ein Telepolis-Leitartikel.
Vom Krieg Russlands gegen die Ukraine, der zugleich ein Krieg zwischen Russland und dem Westen ist, haben uns nach dem 24. Februar 2022 zwei Arten von Bildern erreicht: Fotos und Videos von der Invasionsmacht in der Ukraine einerseits, Aufnahmen von russischen Kriegsgegnern andererseits.
"нет войне" stand auf ihren Plakaten, "нет войне" riefen sie, bevor Polizisten in stahlblauen Uniformen sie abführten, wegtrugen und zu Boden rissen.
Der Ruf nach einem Ende des Bruderkrieges, der trotz seiner verheerenden Folgen von keiner Seite mehr als solcher empfunden wird, ist längst verstummt. Grund dafür ist ein Stimmungsumschwung in Russland, für den es verschiedene Erklärungen gibt.
Zweifellos steht die Mehrheit der Russinnen und Russen hinter diesem Feldzug, sonst hätte der Krieg nicht über 17 Monate geführt und sogar ausgeweitet werden können. Ebenso richtig ist aber auch, dass ein signifikanter Teil der russischen Gesellschaft dem Waffengang kritisch gegenüberstand und wohl noch -steht.
Die Folge ist, und das war absehbar, eine lange nicht gekannte Verhaftungswelle, die keine gesellschaftliche Gruppe ausspart und alle politischen Lager trifft. So wurde der linke Soziologe Boris Kagarlizky ebenso inhaftiert wie der Ultranationalist Igor Girkin oder der Menschenrechtler Oleg Orlow.
"Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ging mit einer Eskalation der Repression gegen Andersdenkende innerhalb Russlands einher", schreibt Amnesty International dazu: "Friedliche Antikriegsdemonstrationen wurden, oft gewaltsam, aufgelöst und diejenigen, die sich gegen den Krieg aussprachen, strafrechtlich verfolgt."
Zudem seien neue Gesetze eingeführt worden, um Proteste und Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen und Aktivisten der Zivilgesellschaft einzuschränken.
Doch die angesichts der Kriegssituation vorhersehbare Zuspitzung im Land ist nur die Spitze des Eisbergs. Dieser Krieg verändert Russland stärker und nachhaltiger, als wir es derzeit erfassen können.
"Wir, Russen. Gott mit uns"
Der Russland-Korrespondent der BBC, Steve Rosenberg, befragte am 12. Juni, dem "Russland-Tag", Passanten in Moskau zum Krieg und zu den klerikal-nationalistischen Thesen einer Kunstausstellung mit dem wenig subtilen Titel: "Wir, Russen. Gott mit uns".
Und auch wenn man nicht weiß, wie die Aussagen zusammengeschnitten wurden, fand Rosenberg Alte und Junge, Frauen und Männer, die Sätze sagten wie: "Ich glaube, dass Gott uns hilft, weil wir Russen stark im Glauben sind". Oder: "Ob Gott mit uns ist? Ich glaube, er ist mit allen, die ihm ihr Herz öffnen."
Das klingt für uns Deutsche nach zwei verlorenen Kriegen seltsam fremd und anachronistisch. Hier ist es eineinhalb Jahrhunderte her, als komponiert wurde: "Seht, des Satans mächt’ge Heere/ Wüten in dem Streit!/ Manche sehn wir um uns fallen/ Drum seid kampfbereit!" Und es ist fast 80 Jahre her, dass auf dem Koppelschloss eines deutschen Soldaten "Gott mit uns" stand.
Der gegen die Ukraine wird in Russland ideologisch offen als Kampf gegen die "westliche Dekadenz" dargestellt. Federführend ist dabei die russisch-orthodoxe Kirche, die diese Frontstellung mit dem Morgenländischen Schisma begründet und – das Wortspiel sei erlaubt – Morgenluft wittert.
Längst ist diese klerikal-regressive Entwicklung nicht mehr auf Russland beschränkt. In Deutschland wurden Queer-Aktivisten zwar unlängst auf dem Evangelischen Kirchentag gefeiert, und einige der Teilnehmer verbringen ihren Urlaub im Anschluss wohl auf der griechischen Urlaubshalbinsel Chalkidiki. Doch fast in Sichtweite der Strände, auf dem Berg Athos, schmieden Vertreter der griechisch-orthodoxen Kirche mit russischen Kirchenvertretern an einer neuen Allianz. (Frauen ist der Zugang dort übrigens verwehrt.)
Das alles scheint weit weg von Deutschland und unserer Lebenswirklichkeit. Und doch ist es ein Indiz dafür, dass der Krieg und seine Ideologen Spuren hinterlassen werden. Nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern in ganz Europa. Ein neuer Riss geht durch den Kontinent. Und daran ist nicht nur Putin Schuld.
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