Interne Berichte: EU-Experten besorgt über mögliche Destabilisierung Russlands
Nach Wagner-Revolte herrscht vor allem Unklarheit. Und deutlich weniger Genugtuung gegenüber einem vermeintlich geschwächten Putin. Wie sich die EU und Russland nun positionieren.
Offiziell herrschte nach dem Aufstand der Wagner-Söldner in Russland klammheimliche Freude im Westen. Von einer "Demütigung Putins" schrieb der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth (SPD), er mutmaßte, "ob das russische Verbrecherregime ernsthaft wankt".
EU-intern aber herrscht ein deutlich anderer Ton. Brüsseler Sicherheitsexperten und Außenpolitikerbeobachten die Lage in Russland nach dem Aufstand der Wagner-Söldner mit erheblicher Sorge. Dazu trägt auch bei, dass sie die Auswirkungen im Land und international noch gar nicht richtig einschätzen können, worauf zwei führende EU-Sicherheitsexperten beim jüngsten Außenministertreffen in Luxemburg hinwiesen.
Unsicherheit herrschte bei dem Gipfel auch zu der zentralen Frage, ob Russlands Präsident Wladimir Putin durch die Ereignisse vom 23. und 24. Juni politisch geschwächt sei, heißt es in einem internen Protokoll, das Telepolis und der Berliner Zeitung vorliegt.
Der ständige Vorsitzende des Militärausschusses der Europäischen Union (EUMC), General Robert Brieger, wies demnach in seiner Lageeinschätzung für die EU-Außenminister auf eine mögliche weitere innenpolitische Destabilisierung hin. Denkbar sei daneben auch eine Flüchtlingswelle, eine größere nukleare Bedrohungen und eine verstärkte militärische Präsenz Russlands in anderen Regionen.
Der Aufstand der Wagner-Gruppe könne somit potenziell tiefgreifende und nicht ausschließlich positive Auswirkungen haben, warnten General Brieger und sein Vorgänger, der französische Vizeadmiral Hervé Blejean.
Bei ihren internen Beratungen einigten sich die Außenminister darauf, dass "die bisherige zurückhaltende Kommentierung fortgesetzt werden sollte, um falsche Narrative westlichen Einflusses nicht zu befördern". Sorge über die Auswirkungen einer möglichen Verlegung von Truppen des Militärunternehmens Wagner in Anrainerstaaten äußerten Litauen, Lettland und Luxemburg. Ein halbes Dutzend Außenminister zeigten sich alarmier angesichts der nuklearen Sicherheit in Russland.
Wagner stark in Afrika
Klar ist den EU-Mitgliedsstaaten den internen Berichten zufolge, dass der Aufstand keine Auswirkungen auf den Krieg in der Ukraine hat. Das deckt sich mit einer Einschätzung der Ratsarbeitsgruppe zu Außenpolitik und Terrorismusbekämpfung. Dort verwies man Mitte Juni auf den stetig wachsenden Einfluss Russlands in Afrika – im Zusammenspiel zwischen Regierungskräften und Wagner-Söldnern.
So komme es vor allem in afrikanischen Ländern mit Wagner-Präsenz verstärkt zu Manipulation von Informationen und Einmischung. Ziel Moskaus sei es offenbar, den Diskurs zu polarisieren und einen Keil zwischen die jeweiligen Staaten und die EU zu treiben. Dort will man gegen diesen Trend Maßnahmen ergreifen.
Nach der Wagner-Revolte stochert man aber nicht nur in Brüssel im Nebel. So wurde in Russland die Nachricht vom Zusammentreffen Putins mit Prigoschin und seinen Kommandeuren zurückhaltend kommentiert. Auch dort rätselt man: Ist Putin nach dem eintägigen Aufstand nun gestärkt oder geschwächt? In jedem Fall relativiert das Ereignis den Eindruck eines Triumphs der Militärführung über den aufmüpfigen Unterführer. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist Putins Gesprächsbereitschaft auch eine Avance an die zunehmend patriotisch-nationalistische Grundstimmung.
Das Narrativ vom Kampf des Westens gegen Russland wirkt inzwischen auch ohne Propaganda; die Nato-Parteinahme ist allzu offensichtlich. Zudem sind die pro-demokratischen, pro-europäischen Kräfte durch die Emigration seit Kriegsbeginn entschieden geschwächt. De facto reicht das politische Spektrum gegenwärtig von den wenigen verbliebenen "Systemliberalen" über viele Schattierungen bis zu einer nationalbolschewistischen Querfront aus extrem rechts und extrem links.
Putin und Prigoschin: Zurück zum Patt
Mit dem Treffen im Kreml hat Putin die Pattsituation wiederhergestellt, die in den Monaten vor dem Aufstand herrschte. Auf der einen Seite die vorsichtig operierende, als inkompetent verschrieene Militärführung, auf der anderen Seite die Hitzköpfe unter den Offizieren, Soldaten und Militärbloggern, die ein ganz anderes Durchgreifen fordern. Dennoch setzt der Präsident sich nicht "an die Spitze der Bewegung" – jedenfalls nicht, solange er den Verteidigungsminister und den Generalstabschef im Amt belässt.
Russische Analysten verweisen darauf, dass Putin, nachdem er über Jahrzehnte erfolgreich mit den Gruppen und Fraktionen gespielt hat, allmählich selbst zum Spielball wird. Dafür spricht einiges, angefangen mit den langen Monaten, während derer er kaum sichtbar war und seine Armee Rückschlag um Rückschlag einstecken musste. Letzteres hat sich mit Beginn der weithin gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive geändert.
Schon vor dem Prigoschin-Aufstand trat Putin auch wieder verstärkt in der Öffentlichkeit auf. Der Präsident ist ein eingefleischter Machtopportunist; er wird bestrebt sein, sowohl die populistischen Kräfte als auch die Politik- und Wirtschaftseliten auf sich einzuschwören. Zugleich sorgt die Neuverteilung des Eigentums emigrierter Russen und westlicher Unternehmen für eine nicht unbedeutende Zahl loyaler Kriegsgewinnler.
Auch wenn die innenpolitische Entwicklung nicht wirklich vorhersagbar ist: Für den Fall, dass der Ukraine kein militärischer Durchstoß zur Krim oder zum Schwarzen Meer gelingt, scheint Putins Herrschaft nicht unmittelbar gefährdet. Das Protestpotenzial der urbanen Mittelschichten ist deutlich geschwächt; die isolierten Eliten sind zum Patriotismus verdammt; die apathische Masse der Bevölkerung lebt von der Hoffnung auf anhaltende soziale Unterstützung; die wirtschaftliche Verflechtung mit Asien schreitet voran. Die russische Gesellschaft enteuropäisiert sich vom Kopf bis zu den Füßen. Die Nato- und EU-Mitgliedschaft der Ukraine – erst recht ein ukrainischer Sieg – würde den Prozess noch beschleunigen.
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Berliner Zeitung