Haftbefehl für einen libanesischen Studenten
Nach dem zweiten verdächtigen Bombenleger wird gefahndet, wie im Fall des vereitelten Terroranschlags in Großbritannien sind die Hintergründe noch nicht bekannt, was Politiker nicht hindert, angeblich notwendige Maßnahmen zu fordern
In Deutschland wurde der erste der beiden Verdächtigen, die Koffer mit Sprengstoff in Regionalzügen deponiert hatten, aufgrund von Aufnahmen mit Überwachungskameras festgenommen ("Noch gibt es auch für uns offene Fragen"). Es handelt sich um einen 21-jährigen libanesischen Studenten, der in Kiel Mechatronik studierte und dort offenbar recht unauffällig lebte, wie der Spiegel berichtet: „freundlich, höflich, unauffällig" sei er nach Aussagen eines Studenten gewesen, der im gleichen Stock des Wohnheims lebt. Wohl vor dem gescheiterten Anschlag kein Aspirant für die Anti-Terror-Datei, auch wenn er als junger muslimischer Student nach Post-11/9-Rasterfahndungsmerkmalen hätte verdächtig sein können. Er scheint ein gläubiger Muslim gewesen zu sein, möglicherweise hat er, den Plan für einen Anschlag gefasst, weil angeblich sein Bruder im Libanon während des Kriegs getötet worden war, wie er Kollegen erzählt hatte. Gleichwohl vermuten die Fahnder keine spontane Tat, sondern sehen die beiden Verdächtigen als Teil einer Terrororganisation. Heute Nachmittag hat ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof gegen den Verdächtigen einen Haftbefehl erlassen. DNA-Spuren auf dem Koffer waren identisch mit dem des festgenommenen Studenten.
Erwischt wurde der 21-jährige nach Angaben der SZ wohl in erster Linie durch Telefonüberwachung. Er soll seine Familie im Libanon angerufen und gefragt haben, was er tun soll. Der Rat sei gewesen, schnell aus Deutschland wegzugehen. Er wollte den Zug um 3 Uhr 55 von Kiel nach Hamburg nehmen, als er von der Polizei mit einem Koffer festgenommen wurde, in dem sich aber kein Sprengstoff befand.
Wie oft in solchen Fällen sind die Informationen verwirrend. Der festgenommene Student wird von manchen als nicht besonders intelligent beschrieben. Möglicherweise ist deswegen die Detonation der Bomben gescheitert, wenn er derjenige war, der sie mit einem „handwerklichen Fehler“ hergestellt hat. Eine andere Vermutung könnte auch sein, dass die Bomben absichtlich funktionsunfähig gemacht wurden, um eine Explosion zu verhindern. Dem würde allerdings widersprechen, dass nach Informationen der SZ die Sprengladung „zu fett“ gewesen sei und deswegen nicht in die Luft flog. Stimmt die Hypothese, dass der 21-Jährige über seine Religion womöglich in eine Gruppe radikaler Muslime geraten und dazu ausersehen war, die Bomben zu platzieren, so stand er einerseits vielleicht unter Druck, dem Auftrag nachzukommen, aber wollte andererseits auch nicht am Tod unschuldiger Menschen schuld sein. Vielleicht gab der Tod seines Bruders im Libanon den letzten Schub, einen Terroranschlag als „Protest“ gegen Israel und den Westen zu planen, um dann aber schließlich die spontane Entscheidung zu vereiteln.
Man wird auf das Ergebnis der Verhöre warten müssen, vor allem aber auch auf die Festnahme des zweiten Verdächtigen. Seltsam an dem Terrorplan bleibt weiterhin, warum sich die Täter – bzw. ihre Hintermänner, falls es solche geben sollte – ausgerechnet Regionalzüge zu einer Zeit ausgesucht haben, in der es höchstwahrscheinlich nur wenige Opfer geben wird. Das widerspricht eigentlich der terroristischen Logik und weist eher darauf hin, dass es sich um den Plan von jungen Einzelgängern handeln könnte, die auch ihren Beitrag zum Aufmerksamkeitsterror machen wollten, aber tief ambivalent blieben. Nach Ansicht der Bundesanwaltanschaft und des BKA besteht allerdings die Vermutung, dass die beiden Verdächtigen Teil einer organisierten Terrorgruppe waren, mit einer „autonomen Zelle“ etwa, wie BKA-Chef Zierke spekuliert.
Bild macht – wie gewohnt – Stimmung, ein bisschen Panik, ein bisschen Ausländerabwehr:
„ER LEBTE MITTEN UNTER UNS! ER SIEHT SO HARMLOS AUS! ER STUDIERTE HIER – WIE DIE TERRORFLIEGER VOM 11. SEPTEMBER!“
Aber richtig mit uns lebte er nach Bild-Informationen eben nicht. Zwar ist er kein Monster, das direkt zu erkennen ist, aber vielleicht ist schon der Umstand, dass ein aus arabischen Ländern stammender junger Mann hier studiert, ein auffälliges Merkmal. Bild weiß aber noch mehr, vor allem dass der junge „unterdurchschnittlich intelligente“ Libanese (vielleicht sogar ein Bild-Leser?), der als Palästinenser dargestellt wird, vor allem deswegen nach Deutschland gekommen ist, um hier kostenlos studieren und Sozialleistungen „kassieren“ zu können, was freilich noch kein Hinweis ist, warum er dann ausgerechnet hier einen Terroranschlag machen wollte.
„Er lebte früher in einem palästinensischen Flüchtlingslager, kam Mitte 2004 nach Deutschland, weil er hier umsonst studieren konnte und durch die Ausbildung beste Aussichten auf einen Arbeitsplatz im Mittleren Osten hat. Sein Deutsch war schlecht, an der Uni galt er als unterdurchschnittlich intelligent. „Hätte er besser aufgepasst, wären die Bomben wohl explodiert“, sagte ein ehemaliger Studienleiter. Er wohnte zunächst in einem Asylheim in NRW, zog im Februar nach Kiel (Schleswig-Holstein). Dort bekam er über das Studentenwerk ein Zimmer im 1. Stock des Studentenheims. Er meldete sich für den Studiengang Mechatronik (Studiengang, der Elektrotechnik, Informatik und Maschinenbau zusammenfasst), kassierte bei uns Sozialleistungen.“
Politiker fordern nun gemäß der Warnung von Innenminister Schäuble: „So nah war die Bedrohung noch nie“ den Ausbau der Geheimdienste, die Einrichtung der sogenannten Anti-Terror-Datei und die Ausweitung der Videoüberwachung nicht nur in Bahnhöfen, sondern auch auf öffentlichen Plätzen. Weder die Datei noch die Kameras hätten wohl etwas genutzt, um einen Terroranschlag wie den geplanten zu verhindern, auch wenn sie nachträglich für die Fahndung hilfreich sein können. Dass weiterhin vor unmittelbar drohenden Anschlägen gewarnt wird, ist aus Sicht der Regierung und der Sicherheitsbehörden verständlich, führt aber auch zu vermehrter Panik – wie dies auch im internationalen Flugverkehr nach dem „vereitelten Anschlag“ in Großbritannien der Fall ist.
In Großbritannien scheint der britische Innenminister Reid, dessen sicherheitspolitische Maßnahmen von vielen Briten unterstützt werden, den Schwung noch weiter ausnutzen zu wollen. Bislang dürfen Terrorverdächtige bis zu 28 Tagen ohne Anklage in Haft gehalten werden. Die Regierung hatte 90 Tage gewünscht, konnte sich damit aber bislang nicht durchsetzen. Reid will nun nach Vorbild der US-Regierung die Möglichkeit einer unbegrenzten Haft von Verdächtigen erreichen, auch wenn es sich um Briten handelt, wie der Independent berichtet. Zudem werden von ihm weitere Ausnahmen vom Human Rights Act geplant, u.a. eine leichtere Verhängung von Hausarresten.
Mit der „Operation Overt“ wurden in Großbritannien 23 Verdächtige festgenommen, darunter sollen zwei Frauen sein. Das Gericht hat nun erst einmal eine Frist bis zum 23. August gesetzt, bis zu der 21 der Verdächtigen freigelassen oder unter Anklage gestellt werden müssen. Die Frist kann bis auf 28 Tage verlängert werden. In Pakistan sollen 27 Personen gefangen genommen worden sein, darunter zwei britische Staatsbürger. Noch ist wenig bekannt, was die Verhöre und Durchsuchungen ergeben haben, angeblich sind aber die Hauptverdächtigen in Haft. in einem Wald soll ein Koffer gefunden worden sein, in dem sich Wasserstoffperoxid befand. Das ist eine Substanz, die zur Herstellung von Sprengstoff dient, aber auch viele andere Anwendungen hat und ohne Probleme gekauft werden kann. Aber dieser Fund wurde von der britischen Polizei bislang ebenso wenig wie die von Medien berichtete Entdeckung mehrerer Selbstmordvideos auf beschlagnahmten Notebooks bestätigt.
Unklar ist auch hier weiterhin vieles, beispielsweise für wann der Anschlag und in welcher Form geplant wurde, welcher Sprengstoff verwendet werden sollte und wie die möglichen Täter ihn im Flugzeug zusammenmischen wollten. Reid meint zwar, Flüssigsprengstoffe aus den Bestandteilen in Flugzeugen zusammenzumixen sei „relativ einfach“, Experten bezweifeln das jedoch. Vermutet wird, dass die britische Polizei aufgrund Druck seitens der US-Regierung und nach der Festnahme von Rashid Rauf in Pakistan früher als geplant zugeschlagen hat, was auch hieße, dass der geplante Terroranschlag nicht unmittelbar bevorstand. Das hieße aber auch, dass die auf den Flughäfen daraufhin eingeführten und jetzt erst nach und nach wieder heruntergefahrenen Sicherheitsmaßnahmen nicht wirklich notwendig gewesen wären – zumal nach Reid überdies die Hauptverdächtigen festgenommen wurden. Verbindungen zu Personen, die hinter anderen Anschlägen oder Anschlagsversuchen in Großbritannien standen, liegen noch nicht vor. Mittlerweile werden auch Fragen laut, wie bedeutsam die Spur nach Pakistan ist. Von pakistanischer Seite wird die Bedeutung von Rauf, einst "mastermind", mittlerweile wieder heruntergespielt, eine Auslieferung scheint im Augenblick nicht erworgen zu werden. Aber wie so oft verlieren sich die Hinweise aus Pakistan im Ungefähren und in Spekulationen.