"Radikalisiert" und "schamlos": Skandal um Springer-Chef Döpfner wirft Fragen auf

Von links nach rechts: Mathias Döpfner, dann Julian Reichelt, Ex-Bild-Chefredakteur und Ex-US-Botschafter in Deutschland und Trump-Unterstützer Richard Grenell. Foto (von 2019): US-Botschaft Berlin, gemeinfrei.

Publikation interner Mails in der "Zeit" folgt erwartbarer Aufschrei. Kontext bleibt unklar, Kernvorwurf schwammig. Was das über den Verleger aussagt – und über den Zustand des Journalismus.

Zwei große Zeitungsseiten lang ist der politische Aufmacher in der Zeit. Die sperrige Überschrift dazu lautet: "Aber das ist dennoch die einzige Chance, um den endgültigen Niedergang des Landes zu vermeiden". Der Satz ist Teil einer Nachricht des Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, wohl an "verantwortlichen Redakteure seines Verlags", wie die Zeit-Autoren Cathrin Gilbert und Holger Stark schreiben. Das vollständige Zitat lautet:

Er [FDP-Vorsitzender Christian Lindner] muss öffentlich erklären dass er Koalition unter grüner Führung ausschließt. Dass er nur mit CDU koaliert. Da s ist so wichtig. Und er muss Wähler von der afd holen. Habe gestern mit ihm Abend gegessen. Er hat Zuviel Angst. Aber das ist dennoch die einzige Chance um den endgültigen Niedergang des Landes zu vermeiden.

Mathias Döpfner, Rechtschreibung wie von der Zeit zitiert

Die Wochenzeitung zitiert aus verschiedenen Nachrichten Döpfners, mit denen sie in ihrem langen Stück dokumentieren will, "wie Springer-Chef Mathias Döpfner denkt – und wie er mit Bild Politik machte".

Lesen Sie hierzu auch den Telepolis-Kommentar "Überraschung: Döpfner ist FDP-Fan, verachtet Ossis und nimmt Klimakrise nicht ernst" von unserer Redakteurin Claudia Wangerin.

Da stets nur Fragmente veröffentlicht werden, bleibt der Kontext für die Leser eher nebulös. Aber einzelne Statements werden von vielen Medien für so bedeutsam gehalten, dass sie eifrig kolportiert werden.

"Das Monster, das wir schufen" überschreibt etwa die taz ihre Zusammenfassung der Story, von "kruden Nachrichten" spricht der Spiegel. "Wirbel um angebliche Döpfner-Äußerungen" titelt die Tagesschau der ARD.

Im Juli 2017 schreibt Mathias Döpfner laut Zeit an die neue Führung der Bild-Zeitung:

Mein Kompass geht so: Menschenrechte - keine Kompromisse. Rechtsstaat - zero tolerance und alles für die reine Lehre. Lebensstil (( was Ficken und solche Sachen betrifft - Fritz zwo: jeder soll nach seiner Fasson (oder facon)...)).

Mathias Döpfner, laut Zeit

Weitere Zitate, die von vielen Medien aufgegriffen wurden, lauten (nach Angaben der Hamburger Wochenzeitung im jeweiligen Original): "Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig." Oder: "free west, fuck the intolerant muslims und all das andere Gesochs". Oder zum Thema Klimaschutz: "Umweltpolitik - ich bin sehr für den Klimawandel. Zivilisationsphasen der Wärme waren immer erfolgreicher als solche der Kälte. Wir sollten den Klimawandel nicht bekämpfen, sondern uns darauf einstellen."

Springer ist ein international agierender Medienkonzern, der besonders stark auf Digitalisierung fokussiert. Die Print-Auflage der Bild-Zeitung als immer noch größter Tageszeitung Deutschlands ist laut Zeit von 2,3 Millionen im Jahr 2014 auf 1,1 Millionen Ende 2022 "inklusive der in Berlin erscheinenden BZ" gefallen. Dafür hat Springer unter anderem die Portale Politico und Insider (mit Business Insider) gekauft.

Kernbotschaft der "Enthüllung" interner Unternehmenskommunikation soll sein, dass Döpfner Medien des von ihm geführten Verlags für seine eigene politische Agenda nutzt - und zum Teil auch für private Interessen.

Wohl weil nicht jedem sofort einleuchten wird, dass private Mails und SMS ein Thema für die Öffentlichkeit sind - zumal unerwähnt bleibt, wie die Zeit an die entsprechenden Nachrichten gekommen ist und wer dabei welche Interessen am "Leak" verfolgt -, argumentieren die beiden Autoren:

Döpfners Direktiven, die bei den Verantwortlichen in der Redaktion selten auf Widerstand stoßen, zeigen, wie sehr er Politisches, Publizistisches und gelegentlich Privates vermischt. Deshalb sind Nachrichten des Vorstandsvorsitzenden von öffentlichem Interesse.

Cathrin Gilbert und Holger Stark, Die Zeit

Allerdings bringen die Autoren keinerlei Beleg, welche konkreten Auswirkungen Döpfners politische Haltung tatsächlich auf die Berichterstattung hatte - und wie diese ohne seine Positionierung aussähe. Dass Verleger mit ihren Medien für bestimmte politische Positionen eintreten, ist schließlich gerade keine Enthüllung.

Vielmehr gilt als Ausdruck der Medienvielfalt, dass es politisch unterschiedlich positionierte Redaktionen gibt. Zu Ausgewogenheit oder gar Neutralität sind private Medien nicht verpflichtet. Und so wurde bisher wohl nur selten Anstoß genommen an der klaren Positionierung des Springer-Verlags für die Interessen Israels. Im Zeit-Artikel findet sich dazu allerdings folgendes Zitat von Mathias Döpfner: "Und natürlich: Zionismus über alles. Israel my country."

Die Zeitung zitiert Friede Springer: "Journalismus muss Politik begleiten und erklären, nie machen." Und kommentiert:

Mathias Döpfner hat von diesem einst hehren Ansatz nicht viel übrig gelassen. Seine Welt ist die große Politik, die er gerne mitgestaltet.

Wo Döpfner allerdings tatsächlich "die große Politik [...] mitgestaltet" offenbaren die Autoren nicht. Was bleibt, ist vor allem die Skandalisierung privater Äußerungen. Dabei dürften sich von jedem Journalisten Aussagen finden lassen, die - zumal ohne Kenntnis des Kontextes und der üblichen Sprachebene zwischen den Beteiligten - in einer Zeitung ausgebreitet befremdlich wirken würden.

Was politische Haltungen angeht, müssten die beiden Zeit-Autoren einen Wettbewerb mit Döpfner nicht scheuen. Denn ihre Skandalisierung beruht stets auf dem Kontrast von Döpfners zu ihrer eigenen Haltung - die sie wohl zugleich dem Publikum unterstellen, damit es sich mit ihnen echauffieren kann.

So schreiben sie beispielsweise:

Seine [Döpfners] Sicht auf die Bundeskanzlerin radikalisiert sich weiter, als das Coronavirus im März 2020 Deutschland erreicht. Bild-Chef Reichelt kritisiert Merkel nach deren Rede an die Nation scharf. Am 18. März 2020 schreibt Döpfner an Reichelt: "Deinen Kommentar unterschriebe ich in jeden Satz mit Blut. Ich fürchte den Mainstream trefft ihr nicht. Zu viele sind begeistert. So emotional. So bodenständig. So ehrlich. So toll. Sie wird dafür gefeiert. Gerade weil sie wie immer nichts gesagt hat. Es ist zum heulen.

Cathrin Gilbert und Holger Stark, Die Zeit

Dies soll ein Beleg für eine öffentlich zu verhandelnde Radikalisierung des Springer-Vorstandsvorsitzenden sein? Dass er Merkels Rede als inhaltsleer kritisiert?

Der Medienjournalismus ist erstmal auf das Pferd der Zeit aufgesprungen. Gegen Axel Springer schießen fast alle gerne, gegen Milliardäre - zu denen Döpfner zählt - auch (Ausnahme seit Corona vielleicht Bill Gates). Und Männerbünde, an denen 'Hassfiguren' wie Julian Reichelt beteiligt sind, bieten alles, was intellektuell aufgeladener Boulevard braucht, um sich auszutoben.

Selbst der meist sehr analytische Stefan Niggemeier, einst Gründer eines Watchblogs zur Bild-Zeitung und nun mit dem eigenen Medienjournalismus-Magazin Übermedien aktiv, folgt dem Narrativ:

Es ist trotzdem schockierend, in so geballter und kondensierter Form und in seinen eigenen Worten zu lesen, von wie viel Verachtung Döpfner getrieben ist, wie sehr er sich radikalisiert hat, wie schamlos er die Bild-Zeitung für seine politischen Zwecke genutzt haben soll.

Stefan Niggemeier

Wer, bitte, hegt keine "Verachtung" für irgendwas und irgendwen? Wo ist der Beleg dafür, dass Döpfner "schamlos [...] die Bild-Zeitung für seine politischen Zwecke" genutzt hat? Was ist denn wirklich passiert? Wo ist die gesellschaftliche Relevanz, die über eine boulevardeske Gut-Böse-Aufstellung hinausreicht?

Journalisten dürfen alles skandalisieren. Und sie dürfen - aus Sicht des Orientierungsanspruchs - auch beliebige Interna in die Öffentlichkeit zerren, ganz ungeachtet, was eventuell Gerichte einmal dazu sagen (denn "Rechtmäßigkeit" darf gerade kein Qualitätskriterium im Journalismus sein, wie es bis heute in jedem Lehrbuch steht, weil damit Journalismus völlig unter der Kontrolle der Politik als Gesetzgeber wäre). Aber die Spezialabteilung "Medienjournalismus" sollte eigene Fragen stellen.

Schließlich verfolgt jeder Journalist, den hiesigen Autor natürlich eingeschlossen, eigene Interessen mit seiner Arbeit, und sei es eben nur der simple Broterwerb. Was ist mit den Eigeninteressen der konkurrierenden Verlage? Wohin führt es, wenn jedes vertraulich geäußerte Wort nach Belieben in der Öffentlichkeit verhandelt wird? Ist es wirklich von Relevanz gedeckt, wenn nun wieder Hunderte Journalisten ein paar - auf für die Öffentlichkeit unbekannte Weise "geleakte" - Sätze einer von vielen offenbar verachteten Person durchs mediale Dorf zerren?

Angesichts der vielen, gerade nicht nur singulären Qualitätsdefizite im tagtäglichen Journalismus müssen sich Journalisten und ihre Publika fragen, ob mit ein paar launigen Sprüchen Döpfners gerade wirklich an einer relevanten Baustelle gebaggert wird.