Handy oder Handgranate

Das merkwürdige Telefonverhalten geschlechtsreifer Chinesen zur Paarungszeit

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Die Invasion begann in den späten 80ern. Die ersten ziegelsteinähnlichen Mobiltelefone in China wurden respektvoll "da ge da" genannt, was soviel bedeutet wie "älterer Bruder". Sie waren selten wie der Amur-Leopard und symbolisierten Reichtum und Status.

Ende 2004 werden voraussichtlich gut 320 Millionen Chinesen über ein Mobiltelefon verfügen, der Markt explodierte damit in derselben Größenordnung wie 2003. Dass die tragbaren Telefone selbst durchaus explosive Eigenschaften haben können (vgl. Der Fingerflüsterer), hat sich gerade in Chinas Gesellschaft offenbart.

"Ein Handy? Das ist eine Handgranate", brüllt Zhang Guoli in einer Schlüsselszene des Films "Cell Phone". Dass manch chinesischer Geschäftsmann bis zu vier Handys hat - eines für den Beruf, eines für die Ehefrau und zwei für seine Geliebten, mag schon als eine Art Witz kursiert sein. Seit dem Erfolg von "Cell Phone" aber ist in China eine zweite große Mauer gewachsen; eine Mauer aus Zwietracht, Misstrauen, Unsicherheit und gegenseitiger Bespitzelei. "Cell Phone" erzählt die Geschichte eines Fernsehmoderators, der sich lügend und betrügend durchs Leben windet; sein ständiger Begleiter, Assistent - und letztlich der große Verräter ist das Mobiltelefon.

Der Film beginnt mit dem Bild von Dorfbewohnern, die unter der Aufsicht eines Wächters in einer Schlange warten, um das einzige Telefon am Ort benutzen zu dürfen. Aus der Zeit der Kulturrevolution katapultiert "Cell Phone" uns dann in eine Szene, in welcher eine Frau zuhause an das Handy ihres Mannes geht und die Stimme einer anderen Frau hört, der Geliebten. Ein Klassiker. Und dennoch ein Tabu, zumindest in China, wo die Kluft zwischen ländlicher Tradition, Vergangenheit und der hungrigen Ego-Suche der Nullerjahre so schnell gewachsen ist, dass die urbane technologisierte Nation sich ihrer selbst wohl erst schrittweise bewusst werden kann.

Zumindest ging mit dem Film ein Aufschrei durch das Land. Er war in den Kinosälen zu hören, wo während der Vorstellungen noch friedlich die Handy klingelten und danach Streits losgingen, bei denen sich Paare gegenseitig ihre Mobiltelefone aus den Händen rissen, um die persönlichen Nachrichten zu kontrollieren. Eine junge Frau soll ihren Freund so lange gedrängt haben, ihr Einblick in seine SMS zu geben, bis er ihr auf den Kopf schlug. Sie soll bewusstlos ins Krankenhaus gebracht worden sein, das Tatwerkzeug: ein Mobiltelefon. Der Aufschrei zog sich durch die Medien ("Blockbuster führt zu Vertrauenskrise") und bewog hohe Tiere der Wirtschaftwelt zu philosophischen Kommentaren ("Die sexuelle und die technische Revolution gehen Hand in Hand"). Der Ausdruck "Wo sai kaihui" ist ("Ich bin in einer Besprechung") ist als schlechte Ausrede nun auch in China zu einem Lunning Gag geworden. Während sich die Hauptfigur mit Tricks wie falschen Ansagen, Batterien rausnehmen, Ton leise stellen u.ä. durch ihr mehrfach gebrochenes Dasein schummelt, mussten Darsteller, Regisseur und Drehbuchautor später vor der Öffentlichkeit die Integrität ihres Liebeslebens beteuern - so glaubwürdig war die Unglaubwürdigkeit der Filmfigur geraten.

Eheberater sahen sich gezwungen, öffentlich für das Mobiltelefon in die Bresche springen: Es sei durchaus möglich, ein Handy UND eine stabile Beziehung zu haben. Die außereheliche Affäre rückt in China zunehmend ins Bewusstsein der Städter. Noch bis Oktober letzten Jahres brauchte man die Erlaubnis des Arbeitgebers, um heiraten zu dürfen. Eine Affäre war noch bis vor nicht allzu langer Zeit ein Grund Status, Karriere und Job zu verlieren, Monogamie quasi ein Befehl der Regierung. Einer Studie zufolge geben heute mehr als 60 Prozent der Chinesen zu, eine Affäre gehabt zu haben, während es in den späten 80iger Jahren (als die ersten "Älteren Brüder auftauchten) nur 15 Prozent waren.

Wir schlafen seit 20 Jahren miteinander - Da ist nichts Falsches dran, es ist nur ästhetische Langweile. Das Ganze bewirkt, dass man sich in die gute alte Zeit zurücksehnt, als Transport und Kommunikation noch nicht so entwickelt waren. Die Männer konnten Jahre in der Hauptstadt verbringen und sich für ihre Prüfungen vorbereiten. Wenn sie aufs Land zurückkamen, konnten sie ihren Frauen alles mögliche erzählen. Aber jetzt sind wir uns so nah, dass wir ersticken.

Monolog der Hauptfigur in Cell Phone

Die Idee zu "Cellphone" soll dem Regisseur übrigens in einer Besprechung gekommen sein, die fortwährend durch das Klingeln von Handys unterbrochen wurde.