Hardliner, Neoliberale, Oligarchen: Der fragwürdige Erfolg der Ukraine

Seite 2: Entlassungen in Rüstungsindustrie: Nordkorea profitierte

Der über Jahre anhaltende Kollaps der ukrainischen Industrie und die sich damit ausbreitende Perspektivlosigkeit für einige Berufszweige hatte sogar Auswirkungen bis nach Ostasien. Der staatliche Rüstungsbetrieb Juschmasch im ostukrainischen Dnipro (früher: Dnjepropetrowsk) entließ nach Beginn der wirtschaftlichen Dauermalaise tausende Mitarbeiter – die Zahl der Angestellten sank insgesamt auf rund ein Sechstel.

Einige entlassene Wissenschaftler verkauften daraufhin ihre Kenntnisse an nordkoreanische Stellen, was wiederum einen enormen Schub der Fähigkeiten des nordkoreanischen Raketenarsenals ermöglichte. In einer Art Kollateraleffekt trug der Einbruch der ukrainischen Wirtschaft infolge der EU-Assoziierung zur Nordkoreakrise der Jahre 2017/2018 bei.

Im Maschinenbau – im zivilen Bereich hatte die Ukraine beispielsweise schon seit vielen Jahrzehnten eine eigene Produktion von Lokomotiven – halbierten sich die ukrainischen Ausfuhren von 2013 bis 2017 auf 4,9 Milliarden US-Dollar. Nicht nur bei Eisenbahnen, sondern auch bei den Flugzeugen brach die Produktion ein: So zum Beispiel bei Antonow – bis dahin ein Flaggschiff der ukrainischen Industrie. Ab dem Jahr 2015 produzierte der Kiewer Flugzeugbetrieb kein einziges Flugzeug mehr. Die Firma konnte nur durch den Flugbetrieb der Frachtfirma Antonow Airlines überleben.

Im Jahr 2021 eröffnete sich erstmals seit Langem die Möglichkeit, dass Antonow in Zukunft wieder neue Flugzeuge baut – aber ausschließlich in einer Fabrik in China. Quasi als symbolischer Tiefpunkt des Flugzeugbetriebs ging die An-225 Mrija, das größte Flugzeug der Welt, bei der Schlacht um den Antonow-Flughafen in den ersten Tagen des russischen Angriffskrieges in Flammen auf.

Zum ersten Mal in der Geschichte der unabhängigen Ukraine rückten im Jahr 2017 landwirtschaftliche Produkte zum Hauptexportgut des Landes auf. Damit stieg die Ukraine zu einem peripheren Staat – ähnlich vielen Ländern im Globalen Süden – ab. Mit der Deindustrialisierung gab es auch eine Neujustierung des Außenhandels. Bis zum Jahr 2013 teilte sich der ukrainische Export fast gleichmäßig zwischen der EU, den postsowjetischen Staaten und dem Globalen Süden auf.

Nach dem Umsturz 2014 ging der Ost- und der Südhandel dramatisch zurück – die Europäische Union dominierte immer mehr im Außenhandel. Die ukrainischen Produkte, die dort einen Absatzmarkt fanden, unterschieden sich aber grundlegend von den Produkten, welche die Ukraine in den Osten und in den Süden exportierte.

Hauptsächlich fanden damals wenig oder gar nicht verarbeitete Produkte ihren Weg aus dem osteuropäischen Land in die EU. Den größten Anstieg von 2013 bis 2017 verzeichneten etwa die ukrainischen Fett- und Ölexporte in die EU – sie stiegen um 195 Prozent an. Die EU-Assoziierung ließ die Ukraine immer mehr zu einem Agrarland werden.

Neben der Wirtschaft kollabierte auch das Gesundheitswesen – schon vor der Coronapandemie. 2017 gaben in Umfragen 90 Prozent der Ukrainer:innen an, sich Behandlungen in dem eigentlich kostenlosen Gesundheitswesen nicht leisten zu können. Im Jahr 2018 traten in der Ukraine 65 Prozent aller gemeldeten Neuausbrüche von Masern auf dem europäischen Kontinent auf.

Ferner litt das Land unter der zweitschwersten Aids-Epidemie Europas: Von 2010 bis 2016 verdoppelte sich die Zahl der mit dem HI-Virus infizierten Menschen. Die Coronapandemie verlief in dem Land ebenso katastrophal – Ende 2021 hatte das Land eine der niedrigsten Impfquoten in ganz Europa.

Im Jahr 2020 hatte die Ukraine laut der Weltbank die niedrigste Lebenserwartung auf dem europäischen Kontinent – noch hinter Armenien und der Republik Moldau. Sie betrug etwa 71 Jahre – also genauso viele Jahre wie im zu diesem Zeitpunkt seit 17 Jahren durch Krieg und Besatzung geplagten Irak. Diese Entwicklung ist besonders tragisch, da noch Anfang der 1960er-Jahre die Menschen in der damaligen Ukrainische SSR eine höhere Lebenserwartung hatten als in weiten Teilen Westeuropas.

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