Hartz-IV-Sanktionen: Nahles will das soziale Profil der SPD schärfen

Andrea Nahles auf dem SPD-Bundesparteitag 2018. Foto: Olaf Kosinsky/ CC BY-SA 3.0 DE

Bei der Rente versucht es Scholz - Kann etwas Sozialpolitik die SPD vor dem Schicksal einer 18-Prozent-Partei bewahren?

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In den 1990er Jahren hatte der Politiker Freke Over in Berlin einen gewissen Bekanntheitsgrad. Der ehemalige Hausbesetzer hatte auf dem Ticket der damals noch sehr ostdeutschen PDS kandidiert und viele haben sich gefragt, wie lange die Zusammenarbeit zwischen dem undogmatischen Westlinken und den Ostgenossen gut gehen würde.

Tatsächlich verabschiedete sich Over aus persönlichen Gründen bald aus der Großstadt in die Provinz und um ihn wurde es still. Nun sorgt er wieder für Aufmerksamkeit. Over hat gerade für die Linke einen Kooperationsvertrag seiner Partei mit der CDU und kleineren konservativen Parteien in Ostpriegnitz-Ruppin unterzeichnet.

Nun könnten Metropolenfreunde sagen, wen interessiert, was in Ostpriegnitz-Ruppin passiert? Doch das Bündnis hat schon deshalb für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt, weil erst vor einigen Tagen in der Union eine Debatte über Bündnisse mit den Linken geführt worden war. Da argumentierten die Befürworter solcher Kooperationen noch damit, dass sie notwendig sein könnten, um jenseits der AfD überhaupt noch Regierungen bilden zu können.

Doch in Ostpriegnitz-Ruppin hätte die Linke auch die Möglichkeit gehabt, mit der SPD zu koalieren. Ein SPD-Politiker hat sogar bei den Wahlen zum Landratsamt die meisten Stimmen erreicht, doch weil das notwenige Quorum nicht erfüllt worden war, lag die Wahl nun bei den Parteien des Kreistages.

Nicht mal mehr die Linke gibt der SPD automatisch den Vorzug

Da hat die Linke dem CDU-Kandidaten mit der Begründung den Vorzug gegeben, mit ihm sei - anders als mit der SPD - ein fester Koalitionsvertrag möglich gewesen. So ist das Bündnis in Ostpriegnitz auch eine neue Hiobsbotschaft für die SPD. Auch die Linke entscheidet sich nicht mehr automatisch für ein Bündnis mit ihr, selbst wenn das die Mehrheitsverhältnisse hergeben würden.

Wie stark der Einflussverlust der SPD geworden ist, lässt sich durch einen Rückblick um 15 Jahre ermessen. Damals zeigten weite Kreise der Mehrheitssozialdemokratie ihren linken Genossen noch die kalte Schulter und meinten, die Partei sei doch nur die SED unter neuem Namen und werde verschwinden.

Als dann die Linke entstand, war der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine ein zusätzlicher Grund, ein Bündnis abzulehnen. Und die Grünen galten lange Zeit als natürlicher Bündnispartner der SPD, die Stimmen für eine schwarz-grüne Koalition waren von Anfang an vorhanden, aber konnten sich lange nicht durchsetzen.

Nun wird man bei den Grünen kaum noch Stimmen finden, die für ein Bündnis mit der SPD aus Prinzip antreten. Selbst in Bayern bereiten sie sich auf eine Rolle als Juniorpartner der CSU vor. Dabei ist es gerade mal acht Jahre her, dass die jetzige bayerische grüne Spitzenkandidatin Katharina Schulze mit ihrer Dekonstruktion des deutschen Mythos von den Trümmerfrauen auch weite Teile der CSU-Basis gegen sich aufbrachte.

Heute würde sie mit den Nationalkonservativen eine Koalition eingehen. Schließlich ist die SPD in den Umfragen hinter der CSU, den Grünen und der AfD auf Platz 4 bei den bayerischen Landtagswahlen gelandet. Ihr droht also dort ein Ergebnis, das sie aus vielen ostdeutschen Landtagen schon kennt.

SPD und Union sind austauschbar

Da muss sie Glück haben, wenn sie noch jene 18%-Grenze erreicht, die die früh verstorbenen FDP-Politiker Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann für die Liberalen anstrebten. In Bundesländern wie Sachsen kann sie von einem solchen Ergebnis nur träumen. Mit Verlierern will man sich nicht gemeinsam sehen lassen und so argumentieren mittlerweile auch Teile der Linken wie vor einigen Jahren die Grünen.

Da SPD und Union in den meisten politischen Fragen austauschbar sind, gibt es keinen Grund, wenn man sich schon auf ein Bündnis mit der SPD einlässt, nicht auch mit der Union zu kooperieren. Damit bestätigt sich nur die Logik derer, die wie Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann etc. bei den Grünen generell gegen Regierungsbündnisse argumentierten.

Diese linke Strömung hatte allerdings die Partei schon vor mehr als 2 Jahrzehnten verlassen. Nur der Münsteraner Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler ist noch der letzte Vertreter dieser Strömung bei den Grünen.

Wenn nun auch die Linke offen für SPD und Union ist, bestätigt sich einmal mehr die Analyse einer kapitalistischen Einheitspartei mit unterschiedlichen Namen, die der Politologe Johannes Agnoli in seinem Buch Transformation der Demokratie schon um 1968 diagnostizierte.

Doch für die SPD ist diese Entwicklung besonders desaströs. Unter Druck ist sie von der AfD, von der Linken und auch die Initiative "Aufstehen" könnte noch die letzten Sozialdemokraten innerhalb der SPD aus der Partei vertreiben.

Sozialpolitik als Strafrecht?

Vor diesem Hintergrund haben in den letzten Wochen gleich zwei SPD-Spitzenpolitiker das soziale Profil ihrer Partei schärfen wollen. Zunächst hat sich die Parteivorsitzende Andrea Nahles dafür ausgesprochen, die Sanktionen bei jüngeren Hartz-IV-Beziehern zu lockern.

Im Grunde waren die Bestimmungen so formuliert, dass es für jüngere Hartz-IV-Bezieher schwer war, nicht sanktioniert zu werden. Es gab genügend Fälle, wo Betroffene zu 100 Prozent sanktioniert wurden, und so gar keine finanziellen Leistungen mehr bekommen und häufig auch noch die Wohnung verlieren.

Viele der Betroffenen landen in der Wohnungs- oder Obdachlosigkeit und viele sehen dann auch keinen Grund mehr, überhaupt noch zum Jobcenter zu geben. Hier setzt auch die Argumentation von Nahles ein. "Die melden sich nie wieder im Jobcenter, um einen Ausbildungsplatz zu suchen. Ergebnis sind ungelernte junge Erwachsene, die wir nicht mehr erreichen", begründet sie ihren Vorstoß zur Lockerung der Sanktionen.

So verlöre ja das Jobcenter seine Funktion im repressiven Staatsapparat. Während die Grünen den Vorstoß der SPD-Politiker als nicht weitgehend genug kritisierten, kam gleich die Retourkutsche der Konservativen aller Parteien, die fürchten, Nahles könnte mit ihrem Vorstoß, Hartz-IV etwas von seinem repressiven Charakter nehmen.

So wurde auch wieder deutlich, dass ein großer Teil der Medien und auch der Öffentlichkeit ganz offen Sozialpolitik als Teil des Strafrechts akzeptiert und es als Erfolg ansieht, wenn die Betroffenen gezwungen sind, Lohnarbeit unter den schlechtesten Bedingungen anzunehmen.

So heißt es in der konservativen Welt: "'Niemand sanktioniert gerne und auch die Jobcenter würden lieber ohne Sanktionen arbeiten', sagt Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. 'Aber Auswertungen zeigen, dass die Sanktionen im gewünschten Sinne wirken, es also vermehrt Arbeitsaufnahmen gibt. Die Sanktionen für jüngere Hartz-IV-Bezieher einfach abzuschaffen, hätte also auch Nachteile.'"

Die Nachteile würden also dann entstehen, wenn Hartz-IV-Bezieher nicht mehr gezwungen wären, sich dem Kapital zu besonders schlechten Bedingungen zu verkaufen. Es wird weder von Nahles noch von den meisten ihrer Kritiker infrage stellt, dass das Sozialrecht als Strafrecht genutzt werden soll.

Nur über den Umfang und die Form der Sanktionen gehen die Meinungen auseinander. Deswegen lehnt auch die Nahles-SPD den Vorschlag der Linkspartei ab, die Sanktionen im Hartz IV-System generell abzuschaffen. Es dürfte der SPD mit dieser Andeutung eines Reförmchen kaum gelingen, sich wieder als soziale Kraft zu etablieren.