Hartz IV-Sanktionen - der strafende Staat bleibt erhalten
Seite 2: "Aber es kann immer noch sanktioniert werden"
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Von Erwerbslosengruppe war die Gerichtsentscheidung bundesweit mit großen Interesse verfolgt worden. Teilweise traf man sich, um die Urteilsbegründung zu hören und zu kommentieren, beispielsweise bei der Berliner Erwerbsloseninitiative Basta.
Dort war von Euphorie nach dem Urteil keine Rede. Die Stimmung bringt Claudia Krieg in der Tageszeitung Neues Deutschland so auf den Punkt:
"Ich finde es ein feiges Urteil", sagt Gitta Bremen. Soeben hat die Hartz-VI-Bezieherin im Stadtteilladen in der Scherer Straße 8 in Wedding die Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe zusammen mit 15 Menschen per Livestream verfolgt. Während der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, die Begründungen für die zukünftigen Einschränkungen bei den Sanktionen verliest, sind die anderen Besucher*innen des Frühstücks, zu dem die Erwerbsloseninitiative Basta eingeladen hat, in heftige Debatten vertieft. "Aber es kann immer noch sanktioniert werden, und für die unter 25-Jährigen ändert sich gar nichts", ruft jemand. Viele der Anwesenden gehören zu den derzeit 351 900 Berliner*innen, die allein oder in mehr als 325 000 Bedarfsgemeinschaften leben und Hartz-IV Leistungen beziehen.
Claudia Krieg, Neues Deutschland
Das Kürzen geht weiter
Daher ist es etwas verwunderlich, dass das Bündnis "Auf Recht bestehen", in dem zahlreiche Erwerbslosengruppen kooperieren, im ersten Teil der Pressemitteilung das Urteil begrüßt. Selbstverständlich ist jede noch so kleine Minderung des Sanktionsregimes gut, weil es Menschen etwas weniger drückt.
Doch die ausdrückliche Bestätigung des Sanktionsregimes durch das Gericht kann eben nicht begrüßt werden. Denn genau damit wird das Regime auch stabilisiert, weil nun allen Menschen, die für die Abschaffung der Sanktionen eintreten, entgegengehalten wird, dass ja nun die Gerichte gesprochen und Auswüchse unterbunden haben.
Da ist die Überschrift "Das Kürzen geht weiter", die eine Erwerbslosenzeitung für das Urteil gewählt hat, schon realistischer. Es ist natürlich begrüßenswert, dass sich das Bündnis nicht mit dem Spruch aus Karlsruhe zufrieden gibt. So heißt es dort:
Im Namen des Bündnisses "Auf Recht bestehen" fordern wir daher, dass das bestehende Sanktionssystem im SGB II abgeschafft wird.
Bündnis "Auf Recht bestehen"
Damit sind sich die Erwerbslosengruppen einig mit der Initiative Sanktionsfrei. Sie alle werden allerdings das Ziel nur erreichen, wenn es wieder eine starke soziale Bewegung gibt, die die vollständige Abschaffung der Sanktionen einfordert. Es sollte schließlich nicht vergessen werden, dass es einmal eine starke Bewegung unter dem Motto "Weg mit Hartz IV" gab, die ausgehend von Ostdeutschland für einige Monate Geschichte geschrieben hat.
Die Politik dachte gar nicht daran, den Forderungen nachzukommen und ließ die Bewegung ins Leere laufen. Der Journalist Sebastian Friedrich erinnerte kürzlich in der Wochenzeitung Freitag an diese Bewegung und stellte die Frage, ob deren Niederlage nicht auch dazu beigetragen hat, dass viele der Prekären und Einkommensarmen mit Politik nichts mehr zu tun haben wollen und mit den Parteien schon gar nicht…
Es gab allerdings auch später immer wieder Proteste gegen das Sanktionsregime vor und in Jobcentern, beispielsweise unter dem Motto Zahltag. Diese Aktionen müssten auf jeden Fall verstärkt werden, wenn die Sanktionen wirklich fallen sollen. Der Richterspruch aus Karlsruhe hat dazu keinen Beitrag geleistet.
Sanktionen kein Problem?
Wie wenig auch Journalisten, die eigentlich die Sanktionen kritisieren, von der Gewalt begriffen haben, die sie darstellen, machte die Taz-Kommentatorin Ulrike Herrmann deutlich. Sie wollte eigentlich das Sanktionsregime angreifen und landet doch bei puren Zynismus, wenn sie schreibt:
Auf den ersten Blick scheint das Thema Sanktionen gar nicht wichtig zu sein: In diesem Oktober gab es fast 3,8 Millionen erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger - aber fast niemand hatte so großen Ärger mit den Jobcentern, dass die Leistungen gekürzt worden wären. Sanktionen sind sehr selten, wie die Statistik zeigt: Im Jahr 2018 wurden nur 3,2 Prozent der Langzeitarbeitslosen abgestraft.
Ulrike Herrmann
"Nur" 3,2 Prozent der Langzeitarbeitslosen? Ist es vorstellbar, dass in der Taz ein Kommentar abgedruckt würde, in dem es heißt, dass für die große Mehrheit der Frauen in Deutschland das Thema Gewalt nicht so wichtig wäre, weil nicht alle davon betroffen sind?
Das macht auch deutlich, dass auch eher linksliberale Journalisten sich schwer in die Lage von sanktionierten Hartz IV-Beziehern versetzen können. Da wird dann die reale Gewalt bagatellisiert und werden die Sanktionen kleingeschrieben.
Die exakten Zahlen der Sanktionen, mit denen angeblich kaum jemand Probleme hat, kann man in derselben Ausgabe der Taz erfahren:
Von Juli 2018 bis Juni 2019 sprachen die Jobcenter rund 878.000 Sanktionen aus, insgesamt waren 392.000 Hartz-IV-EmpfängerInnenbetroffen. Im Durchschnittwurde der Hartz-VI-Satz um19 Prozent gekürzt, was 98 Euro entspricht - also fast einem Viertel bei einem Regelsatz von 424 Euro. 2017 verhängte das Jobcenter insgesamt 1 Million Sanktionen. Meldeversäumnisse sind seit Jahren der häufigste Grund(77,7 Prozent), warum gekürzt wird, gefolgt von der Weigerung, einen missliebigen Job anzutreten (10,7 Prozent), sowie Nichterfüllung der Eingliederungsvereinbarung (8,7 Prozent) und für 3,3 Prozent "Sonstige" . Überdurchschnittlich häufig tretenden Sanktionen unter 25-Jährige, für diese Gruppe fällt die Bestrafung weit härter aus.
Taz