Hase und Igel
Wie exzessiver Urheberrechtsschutz Kulturgüter gefährdet
Befürworter eines stärkeren Schutzes von "geistigem Eigentum" argumentieren unter anderem damit, dass Güter in kulturellem Gemeineigentum, in der "Public Domain", verfallen würden, weil sich ihrer niemand annimmt. Auch seien keine Anreize zur Schaffung neuer Kulturgüter gegeben, wenn diese schließlich in die Public Domain fielen. Was für Parks und Spielplätze zutreffen mag, gilt jedoch nicht für Kulturgüter und Software. Ein Kulturgut entsteht meist durch Rückgriff auf kulturelles Gemeineigentum - auf Mythen, Geschehnisse, Erzählformen, Melodien, Töne oder Konventionen - kann aber bei übertriebenem Urheberrechtsschutz leicht der Zerstörung anheimfallen.
Beispiele sind Legion: George Lucas bediente sich für "Star Wars" nicht nur ausgiebig in der Filmgeschichte (etwa bei Akira Kurosawas "Kakushi toride no san akunin", bei John Fords "The Searchers" und bei der Flash-Gordon-Serie), sondern plünderte auch den Mythenschatz der gesamten Menschheit, angefangen bei Ödipus. Gegen die Verwendung von Star-Wars-Figuren in Geschichten, die Fans schrieben, aber ging er rechtlich vor. Bob Dylan baute seine Karriere auf dem reichen Schatz von amerikanischen Folksongs aus der Public Domain auf. Um den Übergang seiner eigenen Songs in diese Public Domain (und damit die Verwertbarkeit für nachfolgende Künstler) zu verhindern, engagierte er sich stark für den 1998 verabschiedeten "Sonny Bono Copyright Term Extension Act", der die Laufzeit des Copyrights bis auf 70 Jahre nach dem Tod des Autors verlängert. Die Serie "Buffy the Vampire Slayer" greift auf zahlreiche populäre Motive des Horrorfilms zurück, die sich in der Public Domain befinden ifellos ein Bestandteil des Erfolgs der Serie. Der Sender Fox indes, der die Rechte an der Serie hält, ließ eine Fan-Webseite schließen, weil sie einen Führer zum Inhalt der einzelnen Folgen anbot. Die "Simpsons" leben zu einen großen Teil von ihrem parodistischen Umgang mit Zitaten aus der Film- und Fernsehgeschichte. Hier erzwang Fox ebenso schon vor Jahren die Schließung von unzähligen Fanseiten wegen angeblicher Copyrightverletzungen.
Die Geschichte der Gefährdung und Zerstörung von Kulturgut läßt sich gut am Schicksal eines Filmes verfolgen, der, Spielball eines fast zehn Jahre dauernden Hase-und-Igel-Spiels, letztendlich nur dank tapferer Rettungsversuche erhalten werden konnte: Nosferatu.
Auch der "Dracula"-Roman entstand mittels exzessiven Zugriffs auf eine reichhaltige Public Domain.1 So übernahm Autor Bram Stoker seine Erzählstrategie aus dem 1860 erschienenen Roman "The Woman in White" von Wilkie Collins und seine Transsylvanien-Beschreibungen aus dem Erlebnisbericht seines Bruders. Handlung und Figuren sind nicht nur von der historischen Figur Vlad Tepes, sondern auch von balkanischen und irischen Volkssagen, dem Tarot, Shakespeares "Macbeth" sowie dem Jack-the-Ripper-Kriminalfall inspiriert.
Im Gegensatz zum Roman konnte der Film "Nosferatu", der sich auf Stokers Roman stützte und gegen den die Witwe des Romanautors ein Gerichtsurteil zur Vernichtung des Films erwirkt hatte, nur durch beständige und bewusste Verstöße gegen das Copyright und durch Versteckspiel über drei Kontinente erhalten werden.
Bram Stoker sicherte sich das Urheberrecht auf Dramatisierungen seines Buches 1897 durch eine vierstündige dramatische Lesung, die bei Zeitgenossen auf wenig Gefallen stieß. 1921 adaptierte Henrik Galeen Stokers Roman für das Drehbuch zu "Nosferatu", änderte aber die Namen der Figuren. Stoker wurde im Vorspann des Films als Autor der Vorlage aufgeführt. Der Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau sowie eine Vielzahl von Darstellern und Künstlern schufen anhand dieses Drehbuchs eines der Meisterwerke der Filmgeschichte. 1922 wurde "Nosferatu" in Berlin uraufgeführt. Im selben Jahr beauftragte Stokers Witwe Florence über die British Incorporate Society of Authors einen Anwalt mit der Durchsetzung der Rechte an "Nosferatu".1924 entschied ein Berliner Gericht gegen den Rechtsnachfolger der in Konkurs gegangenen Herstellerfirma des Films. Als das Unternehmen die geforderten 5000 Pfund für den Abgleich der Rechte nicht zahlen wollte, verlangte die Witwe Stokers die Vernichtung des Films. Eine Berufung wurde abgelehnt, die endgültige Vernichtung aller Negative und Positive von "Nosferatu" gerichtlich angeordnet. Weder der Regisseur Murnau, noch die Darsteller oder Künstler konnten auf die Vernichtung ihres Werkes Einfluss nehmen.
Nur Dank kluger Schliche konnten Kopien gerettet werden. So kündigte 1925 die Film Society in London eine Aufführung von "Nosferatu" an. Die Witwe Stokers versuchte einzuschreiten, doch man beharrte auf dem privaten Charakter der Vorführung und weigerte sich, Auskunft zu geben, von wem der Film in Deutschland gekauft sei. Als die Witwe den Importeur identifizierte, waren die Büchsen mit den Filmrollen jedoch schon wieder "auf der Flucht". Die Firma nannte der Jägerin der verlorenen Rechte den Namen eines Mannes, der den Film tatsächlich in seinem Besitz haben sollte, doch dieser war wie vom Erdboden verschwunden. Drei Jahre später zeigte die Film Society in London "Nosferatu." Man bestritt, den Film die ganze Zeit verwahrt zu haben und gab an, er sei zufällig in einem Safe entdeckt worden, als dieser gerade nach Australien transportiert wurde. 1929 erzwang Florence Stoker schließlich doch die Vernichtung des Negativs. Mittlerweile waren jedoch Kopien nach Frankreich und Amerika gelangt. 1930 konnte das Hollywood-Studio Universal die Blockade der Stoker-Witwe überwinden, die Filmrechte am Dracula-Stoff erwerben und endlich mit der Arbeit an ihrer "Dracula"-Verfilmung mit Bela Lugosi beginnen.
Das Urheberrecht, welches die Produktion von Kulturwerken eigentlich fördern sollte, hatte die kulturelle Produktion von Filmen und Theaterstücken fast zehn Jahre lang behindert. Der Schutz des Urheberrechts hätte, wenn sich nicht immer wieder einzelne Personen mutig und trickreich gegen das Gerichtsurteil gestellt hätten, fast zur Vernichtung der bedeutendsten Arbeit des Regisseurs F.W. Murnau, des Künstlers und Architekten Albin Grau, und zahlreicher anderer Beteiligter geführt. Der neben "Metropolis" und dem "Golem" wohl bedeutendste deutsche Stummfilm war fast zehn Jahre lang den Launen einer engstirnigen Witwe und dem Provisionsstreben einiger Anwälte ausgeliefert.
Dieses "Erbenproblem" konstituiert sich aus der Geltungssucht von talentlosen Nachkommen, dem Gewinnstreben von Anwälten, und einem Urheberrecht, das dies zuließ. Es führte unter anderem zur Vernichtung großer Teile des Schaffens von Max Weber und vereitelt auch heute das Erscheinen zahlreicher Kulturgüter. So verhindert ein Wahrnehmungsbeauftragter der Erben von Orson Welles seit langem die geplante Herausgabe verschiedener Werke wie Hörspiel-CDs und einer Sammlung von Orson-Welles-Artikeln bei der University of California Press.
Vor allem bei Filmen, die - häufig unsachgemäß gelagert - in Archiven zu Essig zerfallen und schnellstens restauriert oder digitalisiert werden müssten, hat der Sonny Bono Copyright Term Extension Act viel Schaden angerichtet und wird bis 2019 noch mehr Schaden anrichten. Bis dahin fallen nach der Gesetzesänderung keine Filme mehr in die Public Domain. Wo früher zahlreiche kleinere Firmen Material, für welches das Copyright nicht verlängert wurde, restaurierten und auswerteten, ist dies nach der automatischen Verlängerung des Copyrights durch das 1998 verabschiedete Gesetz zum Erliegen gekommen. Die großen Filmfirmen dagegen, welche das Copyright halten, haben häufig kein kommerzielles Interesse an der Restaurierung und Verwertung vieler alter Filme. So muss die Erhaltung solcher Kulturgüter auf rechtlich unsicherem Terrain stattfinden, muss in einem Hase-und-Igel-Spiel versucht werden, schneller zu restaurieren und zu kopieren, als Anwälte klagen können.
Eine der erfolgreichsten Popgruppen der 80er und 90er Jahre war die KLF. Ihr erstes, unter dem Namen "Justified Ancients of Mu Mu" erschienenes Album, "What The Fuck Is Going On?", musste 1987 wegen der nicht genehmigten Verwendung eines Samples von ABBAs Stück "Dancing Queen" für "The Queen and I" vernichtet werden. Die wenigen bereits ausgelieferten Exemplare erzielten sofort Sammlerpreise von bis zu tausend Pfund. Durch Programme wie Napster kann dieses Werk, eines der besten Pop-Alben der 80er, in Form von MP3-Dateien auch jemandem zugänglich werden, der keine tausend Pfund für eine LP aufbringen kann. Für diese Programme gilt noch mehr als für die oben genannten Fälle das Hase-und-Igel-Prinzip: Wenn die Musikindustrie zum überholen/klagen ansetzt, taucht an der Zielgeraden bereits das nächste System auf: Napster, Gnutella, Freenet.
Besonders problematisch ist die Situation bei Kulturgütern, die aufgrund ihrer Jugend noch nicht als solche anerkannt werden. So geht die Interactive Digital Software Association nicht nur gegen "Piraterie" in osteuropäischen Kopierwerken vor, sondern auch gegen Personen, die Computerspiele spielen, welche nicht mehr offiziell vertrieben werden. Die Softwarefirmen haben kein Interesse am Vertrieb der alten Spiele: Zum Massenverkauf eignen sich vor allem aufwendige Spiele, die die aktuellen Grafikkarten und Prozessoren an ihre Grenzen treiben. Mit für den Commodore C 64 oder den Sinclair ZX 81 geschriebenen Spielen lassen sich keine Gewinnmargen erreichen, die den Aktienkurs der Firma in die Höhe treiben. Nicht mehr im Verkauf erhältliche Spielklassiker werden ebenso wie Emulatoren auf zahlreichen Webseiten, vor allem in Skandinavien, meist kostenlos von Fans angeboten. Für die Spiele, unter ihnen Klassiker wie die Textadventure-Serie "Zork" und "They Stole A Million" hat sich der Ausdruck "Abandonware" eingebürgert - aufgegebene Software, welche die ehemalige Herstellerfirma nicht mehr vertreibt und für die sie keinen Support mehr anbietet. Das Copyright wird noch gehalten, und ob die Firma es nutzt oder nicht, darf niemanden etwas angehen.
Vor drei Jahren begann ein von Nicola Salmoria geleitetes Open-Source-Projekt zur Bewahrung alter Arcadespiele namens MAME (Multiple Arcade Machine Emulator). Für die Emulation alter Arcadespiele sind neben dem Programm zusätzlich die auf der alten Hardware eingeschriebenen ROM-Codes der Spiele notwendig. Das Anbieten dieser Codes wird aber von Firmen wie Nintendo nicht erlaubt. Um das MAME-Projekt zu schützen, dürfen deshalb Emulator und ROM-Images nicht auf derselben Webseite angeboten werden. Beim Herunterladen des Emulators muss der Benutzer durch Mausklick erklären, bereits über die ROM-Images zu verfügen. Dabei trifft das von der Medienindustrie bei Copyrightverletzungen vorgebrachte ökonomische Argument gerade im Fall der Emulation von Arcadespielen nicht zu: Spieler laden sich nicht "Donkey Kong", ein Nintendo-Spiel von 1981, herunter, um dafür vom Kauf eines neuen zu lassen. Wer sich ein altes Spiel holt, sucht ein Erlebnis, das ihm der Markt nicht bieten kann. Wäre dem nicht so, so müssten keine neuen Spiele entwickelt und alte aufgegeben werden. Die Softwareindustrie kann hier also nicht einmal mit entgangenem Gewinn argumentieren. Lediglich ein archaischer Urheberrechtsschutz ermöglicht ihr das feudale Beharren auf Rechten an von ihr nicht mehr genutzten Kulturgütern, die in ihrer Hand nur der Gefahr des Verfalls ausgesetzt sind.