Hat Angela Merkel Deutschland gerettet?

Bundeskanzlerin Merkel bei Regierungsbefragung am 13. Mai. Bild: Deutscher Bundestag/Achim Melde

Ausländische Beobachter halten die deutsche Corona-Strategie für erfolgreich

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Als "lame duck", als eine lahme Ente, gilt in der amerikanischen Politik ein Präsident, der sich in seiner zweiten Amtszeit befindet und zunehmend weniger handlungsfähig ist. Die lahme Ente leidet unter Machtverlust, da sie bald aus dem Amt scheiden wird. Allerdings hat die lahme Ente auch die Möglichkeit unpopuläre Entscheidungen zu treffen, da sie nicht mehr zur Wiederwahl antreten wird.

Angela Merkel ist das deutsche Pendant einer "lame duck". Nach eineinhalb Jahrzehnten steht sie vor dem Abschied aus dem Kanzleramt. Bis vor kurzem verdichtete sich der Eindruck, sie würde ihre Kanzlerschaft nur mehr schlecht als recht über die Runden zittern. Dann kam das Corona-Virus.

Mit der Oberwissenschaftlerin durch die Pandemie

"Sie hat eine massive Wiederbelebung begonnen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Welt", erklärt Andrea Römmele, Professorin für Politische Kommunikation an der "Hertie School of Governance" in Berlin dem Nachrichtenkanal CNN: "Denn zum ersten Mal seit 150 Jahren ist die Welt mit einer globalen Krise konfrontiert und die Menschen suchen nicht nach einer globalen Führung in den USA, sondern nach einer Merkel."

Dieses pauschale Statement mag Fragen nach dem historischen und sonstigen Horizont deutscher Professor*innen aufwerfen und danach wer oder was von Angela Merkel "massiv wiederbelebt" worden sei. Doch tatsächlich lässt sich feststellen, dass die Bundeskanzlerin und mit ihr die deutsche Vorgehensweise in der Corona-Krise international überwiegend Zustimmung erfahren hat.

Sie sei weniger eine Oberbefehlshaberin als eine Oberwissenschaftlerin erklärt die amerikanische Zeitschrift "The Atlantic" voller Bewunderung. Mit ihrer wissenschaftlich geschulten Rationalität, verbunden mit einer für sie eigentlich untypischen Emotionalität, habe Angela Merkel Deutschland relativ erfolgreich durch die Pandemie geführt.

In der Krise, so manche Beobachter, sei die Bundeskanzlerin zur Topform aufgelaufen. Unter ihrer Führung habe sich der deutsche Weg durch wissenschaftliche Fundierung und evidenzbasiertes Denken ausgezeichnet. In der Corona-Krise, schreibt der Guardian, hätten selbst ihre Kritiker "eine Politikerin zu schätzen gelernt, die die Bedeutung von Dezimalstellen besser erklären, als große Zukunftsvisionen entwerfen könne".

Deutschland schlägt England

Wiederholt wird auf die signifikanten Unterschiede zwischen Großbritannien und Deutschland verwiesen. Die wichtigste Diskrepanz, so die Erklärung medizinischer Experten, auf welche die South China Morning Post verweist, sei der Zeitfaktor gewesen. Deutschland hätte Mitte März etwa eine Woche schneller reagiert. Der deutsche Shutdown erfolgte am 16. März, der englische am 23. März.

Das Medienportal Buzzfeed hat in einer detaillierten Chronologie die deutschen und die englischen Maßnahmen bis Anfang April gegenübergestellt. Im Februar scheint es noch keine signifikanten Unterschiede im Vorgehen der beiden Länder gegeben zu haben. Im März jedoch reagierten die Deutschen etwas zügiger als die Engländer. "Entscheidungen, die nur um wenige Tage verzögert waren", so Buzzfeed, "könnten erhebliche Auswirkungen gehabt haben."

Deutschland sei hart von der Pandemie getroffen worden, habe aber schnell und entschieden reagiert, meint auch die New York Times. Mit Zurückhaltung und wissenschaftlichem Verstand habe die Kanzlerin Deutschland zu einem Vorbild für westliche Nationen auf dem schwierigen Weg der Virus-Bekämpfung und des wirtschaftlichen Neustarts gemacht.

Immer wieder werden strukturelle Faktoren als Vorteile genannt. Die deutsche Biotech-Industrie, so die Washington Post, habe die schnelle Bereitstellung von Tests ermöglicht. Ferner wird auf die dezentrale politische Struktur der Bundesrepublik als Stärke verwiesen; dies habe es Behörden vor Ort ermöglicht, die zügige Durchführung von Tests zu organisieren.

Das Wall Street Journal sieht dies ähnlich: Deutschland habe von seinen dezentralen Strukturen profitiert. Das Virus sei von den Behörden vor Ort bekämpft worden, die sich um die Umsetzung und Überwachung des "social distancing" gekümmert und die Gesundheitsinfrastruktur auf den Angriff durch das Virus vorbereitet hätten.

Die deutsche Virologie - geglückt oder glücklich?

"Deutschland, das die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt hat, hat sich im Kampf gegen die Pandemie als führend unter den europäischen Nationen herausgestellt", meint sogar die in Hongkong ansässige South China Morning Post (SCMP). Der vorsichtige Neustart in Deutschland stehe in starkem Kontrast zu Spanien, Frankreich, Italien und Großbritannien, wo der Lockdown angesichts der wesentlich dramatischeren Situation verlängert werden musste.

Einen Beitrag zum deutschen Erfolg hätten auch die umfangreichen deutschen Finanzhilfen gespielt. "Anders als in anderen Ländern", so die SCMP, "in denen Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheit während des Lockdowns stark angestiegen sind, wurde die deutsche Öffentlichkeit im Großen und Ganzen durch viele Milliarden Euro Unterstützung durch den Sozialstaat für stillliegende Unternehmen, Arbeiter und sogar Freiberufler in allen Lebensbereichen beruhigt."

Ein anderer, womöglich wichtiger Faktor, wird in den Lobeshymnen selten genannt: pures Glück. In Wahrheit, so die europäische Ausgabe der Zeitung Politico, sei Merkel genauso unvorbereitet gewesen wie die meisten anderen Regierungslenker. Als die Pandemie in Norditalien bereits voll um sich gegriffen hatte, hatten Länder wie Österreich und Spanien bereits reagiert, Deutschland jedoch noch nicht.

Deutschland habe durch Zufall einen Zeitvorteil gehabt. Die dramatischen Berichte aus Italien hätten dazu beigetragen, die Deutschen von der Schwere der Situation zu überzeugen. Sicherlich spielten das deutsche Gesundheitssystem und die deutsche Effizienz, so Politico, eine Rolle. Doch den entscheidenden Unterschied habe die Tatsache gemacht, dass Deutschland vorgewarnt war und diese Warnung ernst genommen habe.

Womöglich sagen solche Versuche internationaler Beobachter, im Corona-Chaos Muster zu erkennen, analog zu einem Rohrschachtest, mehr über die Beobachter als die Sache selbst. Hinter den Klecksmustern einer im Nebel der Pandemie erzwungenen Vorgehensweise mag man einen strategischen Ansatz sehen. Doch vielleicht steckt hinter manch vermutetem Chaosmanagement nur ein chaotisches Management, dem der Zufall zu Hilfe kam.

Dr. habil. Thomas Schuster, ehem. Berater bei Roland Berger und ehem. Autor der Frankfurter Allgemeine ist Hochschullehrer für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Seine Bücher “Staat und Medien. Über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit” und “Die Geldfalle. Wie Medien und Banken die Anleger zu Verlierern machen” sind bei S. Fischer und im Rowohlt Verlag erschienen.

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