Hat die Menschheit noch eine Chance?

Seite 2: Abschied nehmen von gewohnten Vorstellungen

Angesichts der vielfältigen Krisen und Katastrophen halte ich ein grundlegendes Umdenken und die Auseinandersetzung mit anderen Welt- und Menschenbildern für dringend notwendig und gehe davon aus, dass indigene Weltsichten dafür sehr hilfreich sein können.

Nicht um sie unkritisch zu übernehmen, aber um die eigenen eingefahrenen Denk- und Empfindungsmuster, ja auch die eigenen Vorurteile gegen ganz andere Perspektiven auf Mensch und Natur, und auf das Leben selbst, kritisch zu hinterfragen.

Statt technologischer Scheinlösungen und patriarchalem Machbarkeitswahn braucht eine Transformation zu einem guten Leben für alle nach meiner Überzeugung vor allem Gewaltfreiheit und Respekt, ja Demut gegenüber den Geheimnissen des Lebens, und zuzugeben, dass "wir" eben nicht alles wissen und machen können – was keineswegs bedeutet, nichts zu tun!

Allerdings ist es höchste Zeit, sich von der westlich dominierten Vorstellung von "Entwicklung" zu verabschieden. Die Begrenztheiten im Weltverständnis vermeintlich aufgeklärter Naturwissenschaften – insbesondere der Physik und Biologie – hat der Philosoph und Künstler Fabian Scheidler in seinem Buch "Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen" für mich sehr überzeugend dargelegt (Rezension der Autorin in der Graswurzelrevolution Oktober 2021).

Nach Wolfgang Sachs, der seit Jahrzehnten zu Fragen der Nachhaltigkeit forscht, ist Entwicklung "ein Plastikwort, ein leerer Begriff mit positiver Bedeutung". Es gehe dabei um einen Fortschritt, mit dem die Armut weltweit bekämpft werden sollte – was zwar teilweise gelang, jedoch "mit noch größerer Ungleichheit und mit inzwischen irreparablen Umweltschäden erkauft" wurde.

In einleitenden Worten zu dem Buch "Pluriverse – A Post-Development Dictionary" (Pluriversum – Ein Post-Development Lexikon) führt er weiter aus, dass der Mythos der Entwicklung – ein Gedanke, der "von der Diktatur des quantitativen Vergleichs" lebe – 2015 mit der Einführung der Globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) "formlos und noch dazu geräuschlos beerdigt" wurde. Nun sei nicht mehr vom Aufholen die Rede, sondern es wurden universelle Ziele für die ganze Welt formuliert.

Ein Pluriversum

Die Ideen von Entwicklung sind noch lange nicht gänzlich verschwunden, vor allem stellt sich nun jedoch die Frage, was an ihre Stelle treten könnte. Ich misstraue grundsätzlich allen, die meinen, DIE eine Lösung und einzig mögliche Alternative zur kapitalistischen Wachstumswirtschaft gefunden zu haben.

Postwachstum und Postdevelopment, das heißt die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft ohne das auf Wachstum ausgerichtete Fortschritts- und Entwicklungsparadigma, kann ich mir nur als vielfältige Wege vorstellen, die nicht geradlinig und selbstgewiss, quasi-militärisch orchestriert verlaufen, sondern eher in spiralförmigen Suchbewegungen, fragend voran.

Darum hat mich das Pluriversum-Buch begeistert. Darin stellen mehr als 100 Autor:innen vielfältige wirtschaftliche, sozialpolitische, kulturelle und ökologische Konzepte, Weltanschauungen und Praktiken aus aller Welt vor. Post-Development zeigt Alternativen auf, die das Leben auf der Erde schützen und respektieren: Ein Pluriversum vieler möglicher Welten, das eine Vielzahl von Systemkritiken und Lebensweisen umfasst.

Dieses Lexikon möchte die laufende Debatte über die sozial-ökologische Transformation re-politisieren, indem es ihre Vielschichtigkeit herausarbeitet. Das Buch ist all jenen gewidmet, "die sich für das Pluriversum einsetzen, die sich gegen Ungerechtigkeit wehren und Wege für ein Leben in Harmonie mit der Natur suchen".

Die Idee für das Buch wurde auf der großen Degrowth-Konferenz 2014 in Leipzig erstmals von dem Wirtschaftswissenschaftler und ehemaligen ecuadorianischen Bergbauminister Alberto Acosta, dem Sozial- und Umweltwissenschaftler Federico Demaria und dem Gründer der indischen Umweltgruppe Kalpavriksh, Ashish Kothari, diskutiert.

Später schlossen sich die ökofeministische Wissenschaftlerin und Aktivistin Ariel Salleh, und der emeritierte Professor für Anthropologie Arturo Escobar, dem Projekt an. Als Herausgeber:innen verstehen sie das Buch "als Einladung zur Erforschung dessen, was wir als beziehungsorientierte ‚Arten des Seins‘ betrachten". Sie möchten die marxistische Analyse "durch Perspektiven wie Feminismus und Ökologie sowie durch Vorstellungen aus dem globalen Süden, einschließlich Gandhianischer Ideale" ergänzen.

Die englische Erstausgabe erschien 2019 in Indien und wurde bereits auf Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch übersetzt, weitere Sprachen sollen folgen.

Hinweis zur Transparenz: Die Autorin ist mit daran beteiligt, das Pluriversum-Buch auf Deutsch herauszubringen (im AG SPAK-Verlag). Damit das ca. 400-seitige Buch möglichst preiswert abgegeben werden kann, werden bis Ende Februar 2023 Spenden für die Druckkosten gesammelt, mehr dazu: www.netz-bb.de.

Der Beitrag erschien zuerst im Blog Postwachstum.