Hatte Covid-19 einen historischen Vorgänger?

So illustrierte die englische Illustrated Police News 1892 einen Bericht über die Russische Grippe

Auch die Russische Grippe Ende des 19. Jahrhunderts könnte von einem Coronavirus ausgelöst worden sein, das später zu einem Schnupfen mutierte

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Die an der dänischen Roskilde-Universität forschende Epidemologin Lone Simonsen hat in einer Zusammenarbeit mit Bioinformatikern der Technischen Universität Dänemarks die Hypothese gestützt, dass die "Russische Grippe" Ende des 19. Jahrhunderts keine Influenza-, sondern eine Coronavirusepidemie war. An dieser Seuche, die zwischen 1889 und 1895 in drei Wellen grassierte, starb Schätzungen nach etwa eine Million Menschen.

Ausbreitung mit der Eisenbahn

Das massenhafte Auftreten von Fieber, Gliederschmerzen, Geruchsverlust, Geschmacksverlust, Erbrechen und Atembeschwerden wurde damals zuerst in Zentralasien bemerkt - einer Gegend, die das Zarenreich kurz davor an sein Eisenbahnnetz angeschlossen hatte. Dieses Eisenbahnnetz gilt als wichtige Voraussetzung dafür, dass die Krankheit danach sehr schnell russische Städte wie Sankt Petersburg erreichte, von wo aus sie Berlin, Wien und Paris erreichen konnte. Nach London und New York gelangte sie auf Schiffen, mit denen sie schließlich auch in den Städten Indiens und Chinas ankam.

In Russland nannte man die Krankheit trotz dieses Ausbreitungsweges den "Chinesischen Schnupfen". Grundlage dafür war die heute als unzutreffend eingestufte Annahme, dass die Seuche durch chinesischen Leichenfeinstaub nach der gigantischen Überschwemmungskatastrophe am Huang He (bei der bis zu zwei Millionen Menschen starben) mit dem Wind nach Zentralasien transportiert worden sei.

Überforderte Ärzte

Wo die Russische Grippe hinkam, da steckte sie den damaligen Zeitungsberichten nach so große Teile der Bevölkerung an, dass man nicht nur Schulen, sondern teilweise auch Betriebe zeitweise schloss. Der Berliner Arzt Jakob Ruhemann berichtete 1891:

Fast Dreiviertel der über den Krankenbetten angebrachten Schilder trug den Namen Influenza, und die Hospitaldirektoren bemühten sich eifrig um Vermehrung der Krankenbetten. Eine große, nicht zu bestimmende Zahl Ärzte musste sich niederlegen, während der Rest derselben sozusagen nicht aus den Stiefeln kam und übermenschlich arbeiten musste. (Jakob Ruhemann)

Außerdem erkrankten nicht nur Eisenbahner, Postboten, Schüler und Arbeiter, sondern auch Angehörige der höheren Schichten - darunter der russische Zar, der Preußenkaiser und der englische Prinz Albert Victor, der der Russischen Grippe im Alter von nur 28 Jahren im Januar 1890 erlag, weil sie bei ihm zu einer Lungenentzündung führte. Die meisten anderen Toten waren jedoch ältere Menschen.

Das englisch-walisische Local Government Board empfahl Erkrankten damals in einem Merkblatt "im Bett zu bleiben, sich warm zu halten, Brandy zu trinken [und] Chinin und Opium einzuehmen". Wer sich Ärzte leisten konnte, der wurde darüber hinaus auch mit Substanzen wie Quecksilberchlorid, Strychnin, Schwefel, Iodoform, Tanninsäure, Resorcin oder Chinoidin behandelt.

Von der Kuh übergesprungen?

In den 1950er Jahren, als man schon etwas mehr über Krankheiten wusste, mutmaßte man anhand von Antikörpern, die sich nur im Blut älterer Menschen fanden, dass die Russische Grippe von Influanzaviren des Subtyps A/H2N2 ausgelöst wurden. Diese fast ein halbes Jahrhundert lang als Gewissheit gehandelte Vermutung stellte 2005 der belgische Virologe Marc van Ranst infrage. In einem Aufsatz für das Journal of Virology stellte er anhand von genetischen Ähnlichkeiten die Hypothese auf, dass der für jährlich zehn bis 30 Prozent aller Erkältungen verantwortliche Schnupfenauslöser HCoV-OC43 - ein Coronavirus - von einer Kuhseuche abstammt, die etwa 1890 den Sprung zum Menschen schaffte.

Das würde zu einer Rinderlungenseuche passen, wegen der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Tiere geschlachtet werden mussten. Bei Schlachtungen besteht ein besonders hohes Risiko, dass sich ein fremdes Virus im menschlichen Körper einnistet. Simonsen überprüfte nun diese Hypothese, indem sie die Mutationsgeschwindigkeit mit einer ganze Reihe von OC43-Stämmen aus verschiedenen Jahrzehnten empirisch ermittelte. Dabei kam auch sie zum Ergebnis, dass das Virus um das Jahr 1890 von einem Rind auf den Menschen übergesprungen sein musste.

Ein Beweis, dass der Auslöser der Russischen Grippe ein Coronavirus war, ist das allerdings noch nicht. Bislang fand man nämlich (anders als bei der Spanischen Grippe) noch keine gefrorenen Leichen, aus denen sich der Erreger von damals rekonstruieren ließ.

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