Haushaltseinkommen steigt um 500 virtuelle Euro
Über die nach einer Studie von deutschen Wirtschaftswissenschaftlern angeblich gefühlten Folgen der Fußball-Weltmeisterschaft
Im entspannten, weil erfolgsgesättigten Rückblick auf die Fußball-Weltmeisterschaft darf wohl festgestellt werden, dass sich die meisten sportlichen Prognosen nicht bewahrheitet haben. Auch wenn ihre mehr oder weniger wortgewandten Verfechter noch immer der Meinung sind, sie hätten im Prinzip, grundsätzlich und eigentlich doch Recht behalten oder seien - wie so oft - falsch verstanden worden.
Die mentalen Effekte und psychologischen Folgen, denen lange Zeit zugetraut wurde, die gesamte Republik zu verändern, sind dabei etwas aus dem Blick geraten. Sieht man einmal von der Patriotismus-Debatte ab, die selbstverständlich geeignet ist, alle öffentlich-rechtlichen Talker und solche, die es werden wollen, noch jahrelang mit der Frage zu beschäftigen, ob sich aus dreifarbigen Stoffteilchen, lauffreudigen Jungmillionären und jeder Menge Alkohol ein neues Nationalgefühl generieren lässt.
Viele Themen haben sich aber ganz einfach erübrigt, so zum Beispiel die reizvolle Frage nach den bundespolitischen Konsequenzen einer für Deutschland erfolgreich verlaufenden Weltmeisterschaft. Kann Gerhard Schröder noch einmal die Wahlen gewinnen und trotz erheblicher Schlagseite Kanzler bleiben, wenn Deutschland mindestens ins Halbfinale kommt? Reicht vielleicht schon das Überstehen der Vorrunde und ein glorreicher Untergang im Achtelfinale? All das spielt keine Rolle mehr, der Kanzler ging vorzeitig zum Duschen, und der kontrollierten Defensive seiner Nachfolgerin dürften sportliche Unbillen nichts mehr anhaben können.
Auch die spannenden Mutmaßungen, ob "wir" überhaupt Weltmeister werden sollten, da wir doch schon Papst sind, zeitgleich die Tour de France gewinnen und obendrein wieder zu einem Wirtschaftswunderland avancieren, haben sich mittlerweile erledigt, da "uns" - mit Ausnahme des sechzehnten Benedikt - nicht viel geblieben ist.
Optimistische Grundstimmung
Wirtschaftwissenschaftler der Universität Bonn treten dieser defätistischen Einschätzung nun mit Entschiedenheit entgegen. Wer den vergangenen Sommer nur mit Erinnerungen an allerlei Feucht-Fröhliches und einen beispiellosen Anfall von Weltoffenheit verbindet, missdeutet die tiefen Spuren, die das Jahrhundertereignis im kollektiven Bewusstsein und mittelbar auch im Wirtschaftssystem der sympathischen Gastgeber hinterlassen hat.
Das meint jedenfalls Armin Falk, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn und gleichzeitig Forschungsdirektor am Institut für die Zukunft der Arbeit, wo der Vorstandsvorsitzende der Deutsche Post World Net, Klaus Zumwinkel, als Präsident fungiert und Florian Gerster, unvergessener Ex-Chef der Bundesagentur für Arbeit, eine neue Aufgabe als "Direktor Policy Fellows" gefunden hat.
In diesem inspirierenden Umfeld hat Falks Team 3.231 Befragungen ausgewertet, die vom Meinungsforschungsinstitut Infas vor und während der WM durchgeführt wurden. Die Interviewpartner sollten sich dabei zu ihrer eigenen finanziellen Situation, aber auch zur gesamtwirtschaftlichen Lage äußern und in beiden Fällen prognostizieren, wie sich die Bedingungen in einem Jahr darstellen würden.
Die Ergebnisse sind nun in der Studie Seemingly Irrelevant Events Affect Economic Perceptions and Expectations: The FIFA World Cup 2006 as a Natural Experiment nachzulesen und scheinbar geeignet, einen weiteren Beweis für den engen Zusammenhang zwischen Psychologie und Wirtschaft zu liefern. Die Erfolge der Deutschen Nationalmannschaft scheinen nämlich wenigstens eine virtuelle Geldvermehrung bewirkt zu haben. Im Durchschnitt schätzten die Teilnehmer, die während der Weltmeisterschaft befragt wurden, ihre finanzielle Situation so gut ein wie diejenigen, die sich vor der WM äußerten und über ein rund 500 Euro höheres Netto-Haushaltseinkommen verfügten.
Ähnlich positiv beeinflusste der WM-Verlauf die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Situation und die Zukunftserwartungen der Befragten. Für Bundeskanzlerin Angela Merkel und diverse Kabinettsmitglieder scheint sich der Dauer-Support der Klinsmänner trotz ihrer medialen Allgegenwärtigkeit allerdings nicht ausgezahlt zu haben.
Die Zufriedenheit mit der Regierung stieg in dieser Zeit dagegen nicht, und auch an der objektiven Situation hatte sich nichts geändert. Wie sollte die Tatsache, ob der Ballack nun ein Tor schießt oder nicht, daran auch etwas ändern?
Armin Falk
Ja, wie sollte sie das? Auf Steuererhöhungen und Gesundheitsreformen hat sich das Geschehen auf dem grünen Rasen offensichtlich nicht ausgewirkt, und wenn es um die tatsächlichen ökonomischen Effekte der WM geht, fällt den Dortmunder Wissenschaftlern schließlich auch nur das Adjektiv "minimal" ein. Die Gastronomie hat profitiert, und natürlich sind auch mehr Flachbildschirme als in fußballfreier Zeit über die Ladentheken gewandert. Der Fahnenverkauf wäre noch eine positive Meldung wert, gleiches gilt für die Absatzsteigerungen im Bereich Trikots und Sportkleidung, doch der große Kaufrausch ist ausgeblieben.
Wenn aber Millionen Menschen in Deutschland aufgrund einer optimistischen Grundstimmung konsumfreudigere Entscheidungen treffen und mehr investiert wird, kann man sich durchaus vorstellen, dass daraus tatsächlich ein zusätzlicher Wachstumsschub entsteht.
Armin Falk
Prophezeiungen mit Eigenleben
Der Ökonom hält es für möglich, dass sich der Optimismus "im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung" nachträglich als Wirtschaftswachstum realisiert. An der nicht weit entfernten Ruhr-Universität in Bochum hat Markus Kurscheidt schon lange vor der Weltmeisterschaft eine ganz andere Rechnung aufgemacht. In dem Gutachten Erfassung und Bewertung der wirtschaftlichen Effekte der Fussball-WM 2006 geht der Volkswirt und Sportwissenschaftler davon aus, dass die Wirtschaftsleistung bis 2015 um maximal 3,4 Milliarden Euro gesteigert werden könnte. Wahrscheinlicher sei ein Zuwachs um 1,5 Milliarden, möglich auch ein Verlustgeschäft. Für einen "national hochsignifikanten Wachstumsimpuls" dürfte das Turnier in keinem Falle reichen.
Beide Theorien operieren mit Zukunftsprojektionen, die trotz ihrer mathematischen, pseudoobjektiven Verschlüsselungen letztlich auf nicht messbaren Zusammenhängen und vielerlei Spekulationen beruhen. In Kurscheidts Fall war eine solche Beschränkung zwingend notwendig, weil es sich um eine Kosten-Nutzen-Abschätzung zur Optimierung der Planungssicherheit handelte. Das jüngste Beispiel aus Bonn legt allerdings die Frage nahe, warum Wissenschaftler sich schon für die nicht eben neuwertige Erkenntnis begeistern können, "wie viel Macht scheinbar irrelevante Ereignisse auf kollektive ökonomische Wahrnehmungen und Erfahrungen haben können."
Da die Weltmeisterschaft nun bald zwei Monate Geschichte ist, hätte doch die Möglichkeit bestanden, einmal zu überprüfen, ob Wahrnehmungen und Erfahrungen das reale Verhalten tatsächlich beeinflussen oder doch nur Stimmungswerte darstellen, die bestenfalls eng begrenzte Mehrausgaben der Konsumenten zeitigen. Ein Rückblick auf die von der Deutschen Nationalmannschaft gewonnenen Weltmeisterschaften 1954, 1974 und 1990 rechtfertigt schließlich keineswegs die Annahme, dass sportliche Erfolge einen tatsächlichen Aufschwung initiieren können.
Daran ändert auch das legendäre "Wunder von Bern" nichts, dessen segensreiche Wirkungen von der Volkspsychologie immer wieder beschworen werden. Der überraschende Triumph des Herberger-Teams ist nicht zum nationalen Mythos geworden, weil seinetwegen mehr Volkswagen vom Band gelaufen sind, sondern weil er Wünsche, Träume, Hoffnungen und Phantasien aufgesogen hat, die gerade auch im Nachhinein mit dem außergewöhnlichen Ereignis verbunden wurden.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, und der Fan weiß alles
Die wirtschaftlichen Folgen lassen sich übrigens in vielen Fällen auch erst mit erheblicher Verspätung ermitteln. Um den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft von 1954 volkswirtschaftlich genauer zu taxieren, wären der Vollständigkeit halber die Erlöse aus dem Verkauf von Trikots im Retro-Look, Postern und Büchern oder auch die Tickets der fast 3,7 Millionen Kinobesucher zu berücksichtigen, die vor zwei Jahren Sönke Wortmanns pathetische Heldenbeschwörung auf großer Leinwand sehen wollten. Zwischen dem ereignisreichen Anlass und einem wichtigen Teil seiner ökonomischen Verwertung liegt hier also ein halbes Jahrhundert, wobei mit einigem Recht vermutet werden kann, dass die finanziellen Effekte anderweitig erzielt worden wären, wenn das "Wunder von Bern" nie stattgefunden hätte.
Dass sich die Wissenschaft bemüht, den Zusammenhang zwischen Psychologie und Wirtschaft exakt zu bestimmen, ist sicher ehrenwert, führt aber in der überwiegenden Mehrheit der bekannten Fälle zu einem Leben im Konjunktiv. Dem echten Fan, der weiß, dass die Hoffnung zuletzt stirbt, ein Spiel neunzig Minuten dauert und der Ball rund ist, macht das freilich wenig aus. Zu dieser Erkenntnis kam, im WM-Jahr, auch der Ungar Péter Esterházy während seiner "Deutschlandreise im Strafraum".
Der Fan weiß alles, er ist kein Trottel. In seinem Innern weiß er um die realen Chancen, er sieht lediglich von ihnen ab. Als Fan zu leben bedeutet, ein poetisches Dasein zu führen.
Péter Esterházy