Heilig und explosiv
National-religiöse Aktivisten und Mitglieder aus Netanyahus Regierungskoalition fordern eine Ausdehnung israelischer Kontrolle auf den Tempelberg in Jerusalems Altstadt
Die Ereigniskette in Jerusalem dreht sich schneller und mit ihr verschärft sich die politische Rhetorik. Nach dem Anschlag auf die Kehilat Bnei Torah Synagoge im Westen Jerusalems sprach der israelische Premier Benyamin Netanyahu vom "Kampf um Jerusalem".
Schon der Gaza-Krieg im vergangenen Sommer fand in Jerusalem, vor allem im Osten der Stadt, einen Nebenschauplatz. Seit dem brutalen Mord an dem 16jährigen Mohamed Abu Khdeir durch drei radikale Siedler - von denen zwei ebenfalls minderjährig sind - kam es dort regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen israelischen Sicherheitskräften und palästinensischen Jugendlichen in den östlichen Stadtvierteln. Fast täglich wurde die Straßenbahn in den palästinensischen Vierteln mit Steinen, Flaschen oder Brandsätzen angegriffen.
Anschläge palästinensische Einzeltäter, welche mit Baufahrzeugen oder Autos in an Straßenbahnhaltestellen wartende Menschenmengen rasten, kosteten seit dem Sommer in Jerusalem etlichen Menschen das Leben. Der Bürgermeister der Stadt Nir Barkat kündigte "eine harte, aggressive Reaktion" auf die jüngste Anschlagsserie an - und spielt mit dem Gedanken, israelische Sicherheitskräfte auch in den palästinensischen Vierteln im Osten der Stadt einzusetzen.
Mittlerweile werden die Straßenbahnhaltestellen im Übergangsbereich zwischen dem West- und dem Ostteil der Stadt von israelischem Sicherheitspersonal bewacht. An fast jeder Haltestelle steigt ein Sicherheitsbeamter zu, der die Fahrgäste auf ihn verdächtig erscheinende Personen kontrolliert. Die Sicherheitsmaßnamen erinnern viele Israelis an die Jahre der zweiten Intifada, als die Angst vor einem Terroranschlag zum Alltag gehörte. Schon seit Wochen wird in Medien und sozialen Netzwerken über den Ausbruch einer dritten Intifada spekuliert.
Der Premier übernimmt die Rhetorik der National-Religiösen
Was die Sorge um ein schnelleres Drehen der Eskalationsspirale unter vielen Beobachtern wachsen lässt, ist die verschärfte Rhetorik, die auf beiden Seiten zu beobachten ist. Wenn Israels Premier Netanyahu von einem "Kampf um Jerusalem" spricht, übernimmt er die Rhetorik des national-religiösen Lagers.
Aber auch von PA-Chef Mahmud Abbas waren in den vergangenen Wochen ungewohnt scharfe Töne zu hören. Er forderte die palästinensische Bevölkerung auf "die Al-Aqsa-Moschee mit allen Mitteln zu verteidigen". Mit diesen Worten ist der gemeinhin verbal eher moderate Abbas stark auf einer Linie mit dem Hamas-Politbüro-Chef Khaled Meshal. Der sagte:
Wir fordern die Nation auf, wütend zu sein und eine Nachricht schmerzhafter Wut an die Welt zu senden, dass das palästinensische Volk und die arabische und muslimische Nation nicht schweigen werden angesichts des israelischen Verbrechens.
Anlass dieser jüngsten verbalen Eskalationen auf palästinensischer Seite ist eine Erhöhung am östlichen Rande der Jerusalemer Altstadt - in politisch wie in religiöser Hinsicht der überhöhteste Hügel in der hügelreichen Stadt Jerusalem.
An ihrem Rande befindet sich die Klagemauer, auf der Erhöhung selbst steht der Ende des 7. Jahrhunderts errichtete Felsendom und die Anfang des 8. Jahrhunderts erbaute Al-Aqsa-Moschee. Im Arabischen wird das Areal Haram-as-Sharif ("Das edle Heiligtum") genannt, im Hebräischen Har HaBait ("Der Hügel des Hauses"). Der hebräische Name nimmt Bezug auf den zweiten jüdischen Tempel, der hier bis zu dessen Zerstörung im Jahr 70 gestanden haben soll. Die Klagemauer gilt als das einzig verbliebene Relikt des zerstörten Tempels.
Rechte Aktivisten fordern eine "Rückkehr Israels auf den Tempelberg"
Die Ausübung der Kontrolle über das Areal gilt aufgrund der heiligen Stätten als eines der sensibelsten und explosivsten Felder im israelisch-palästinensischen Konflikt. In den vergangenen Monaten haben israelische Aktivisten aus dem national-religiösen Spektrum den Tempelberg zunehmend in das Zentrum der gesellschaftlichen Debatte und des Konfliktes mit den Palästinensern gerückt.
Ende Oktober wurde der Rabbi Yehuda Glick von einem palästinensischen Attentäter niedergeschossen und schwer verletzt. Als Glick von den Kugeln getroffen wurde, verließ er gerade eine von ihm selbst initierte Veranstaltung mit dem Titel "Israel kehrt auf den Tempelberg zurück". Der in den USA geborene Yehuda Glick ist einer prominentesten Aktivisten, die für eine israelische Kontrolle des Tempelberges eintreten.
Das Areal steht seit Ende des 12.Jahrhunderts unter der Verwaltung der Jerusalemer Waqf - einer muslimischen Verwaltungsorganisation heiliger Stätten. Laut der islamischen Jurisprudenz ist der Eigentümer solcher Stätten Gott selbst. Die formelle Kontrolle des Areals wurde nach dem arabisch-israelischen Krieg von 1948/1949 außerdem vom jordanischen Königshaus in Anspruch genommen.
Im Anschluß an die israelische Eroberung der Jerusalemer Altstadt von jordanischen Soldaten während des 6-Tage-Krieges 1967, annektierte Israel zwar Ostjerusalem, doch die Verwaltung über die heiligen Stätten auf dem Tempelberg beließ die damalige israelische Regierung in den Händen der Waqf. Auch die formelle Oberhoheit des jordanischen Königshauses über die Stätten stellte die damalige israelische Regierung unter Premier Levi Eshkol nicht in Frage.
Zu sensibel erschien ihnen die Übernahme des Areals, welches als drittheiligste Stätte im sunnitischen Islam angesehen wird. Auch ideologisch spielte für die damalige Generation säkularer Zionisten, die Israel regierten, eine jüdische Kontrolle des Tempelberges keine herausragende Rolle.
Kurz nach der Eroberung Ostjerusalems verabschiedete die Regierung Eshkol das Gesetz zum Schutz heiliger Orte, welches den Zugang aller Religionszugehörigkeiten zu dem Areal garantieren soll.
Die Absurditäten des Status Quo um die Heiligen Stätten
Doch trotz dieses gesetzlich festgeschriebenen Zugangs für Menschen aller Religionszugehörigkeiten beschloss die israelische Regierung kurz darauf aus Sicherheitsgründen ein Verbot nicht-muslimischer Gebete auf dem Areal. Das israelische Hauptrabbinat übernahm die sicherheitsorientierte Linie der Regierung und ließ Schilder aufhängen, welche ein Betreten des Tempelberges für Juden "wegen der Heiligkeit des Ortes" verbieten.
An diesem von der israelischen Regierung und dem Hauptrabbinat vorgegeben Status Quo, der jüdische Gebete auf dem Tempelberg verbietet, reiben sich nationalreligiöse Aktivisten wie Yehuda Glick auf. Die Ausdehung der israelischen Kontrolle auf den Tempelberg wird vom harten Kern des national-religiösen Lagers schon lange gefordert.
Ganz am rechten Rand wird gar von der Wiedererrichtung des vor fast zwei Jahrtausenden zerstörten Tempels geträumt. Eine ultraradikale jüdische Untergrundgruppe wollte im Jahr 1984 schon einmal die Vorarbeit dazu leisten und die Al-Aqsa-Moschee und den Felsendom in die Luft sprengen. Der Sprengstoff dafür war schon besorgt, doch die israelische Polizei konnte den Plan noch rechtzeitig durchkreuzen.
Yehuda Glick grenzt sich heute deutlich von den gewaltbereiten Hardlinern von damals ab und agiert dabei taktisch nicht unklug: Er präsentiert das jüdische Beten auf dem Tempelberg als ein in der israelischen Gesetzgebung verankertes Menschenrecht. In seiner Argumentation hebt er die Absurditäten des gegenwärtigen Status Quo hervor: Zwar ist es für Juden trotz des rabbinischen Verbotes nach israelischem Gesetz möglich den Tempelberg zu betreten, doch nur zu jenen Zeitpunkten, an denen das Areal für Touristen geöffnet ist. Wer jedoch ein Gebet murmelt, kann von den anwesenden Sicherheitskräften vorübergehend verhaftet oder zum Verlassen des Geländes aufgefordert werden.
Mitglieder von Netanyahus Regierung stehen hinter den Tempelberg-Aktivisten
Yehuda Glick ist in seinem Bestreben nicht ohne einflussreiche Unterstützer. Im Februar diesen Jahres brachte der Likud-Politiker Moshe Feiglin das Thema vor die Knesset. Feiglin zählt zum rechten, national-religiösen Flügel des Likud und wurde selbst einige Male von der Polizei beim Besuchen des Tempelberges aufgegriffen. Der Titel der von Feiglin einberufenen Knesset-Sitzung lautete: "Der Verlust israelischer Souveränität über den Tempelberg."
Die Parlamentsmitglieder der arabischen Parteien boykottierten die Sitzung geschlossen. Politiker aus dem linken und zentristischen Lager betonten, dass eine Änderung des Status Quo einem Spiel mit dem Feuer gleichkomme, falls sie nicht mit der palästinensischen Führung in Ramallah und der Regierung Jordaniens koordiniert werde. Moshe Feiglin argumentierte während der Debatte folgendermaßen:
Es sind Fahnen der PLO, der Hamas und der islamistischen Bewegungen zu sehen, die ohne Angst gehisst werden, doch was ist mit israelischen Fahne? Für Juden kann das Rezitieren eines Psalmes auf dem Tempelberg ein Grund zur Verhaftung sein. Selbst vom Tragen einer Kippa rät die Polizei ab.
Im national-religiösen Flügel der Likud-Partei kann sich Moshe Feiglin der Unterstützung für seine Initiative sicher sein. "Unsere nationale Souveränität bleibt unvollständig ohne den Tempelberg", erklärte der 1990 aus der Ukraine eingewanderte Likud-Politiker Ze'ev Elkin.
Die an Netanyahus Regierungskoalition beteiligte national-religiöse Partei HaBayit HaYahudi unter Wirtschaftsminister Naftali Bennet steht fast geschlossen hinter den Tempelberg-Aktivisten. Wohnungsbauminister Uri Ariel - der in seiner Funktion auch den Bau neuer Wohneinheiten in den Siedlungen maßgeblich vorantreibt - sprach davon, dass sich "der Status des Tempelberges bald ändern wird".
Wütende Reaktion Jordaniens
Die regelmäßigen Besuche der Rechtsaußen-Minister auf dem Tempelberg und deren Ankündigungen den Status Quo zu kippen, blieb nicht ohne Reaktionen aus Jordanien. Das haschemitische Königshaus, welches sich für die heiligen Stätten verantwortlich fühlt, zog seinen Botschafter aus Israel ab und drohte damit, den Friedensvertrag mit Israel aufzkündigen, falls "die israelischen Verletzungen des Status Quo andauern sollten."
Bei einem Treffen mit dem amerikanischen Außenminister und dem jordanischen König Abdallah John Kerry in Amman vergangene Woche betonte Israels Premier Benyamin Netanyahu, das Israel keine Absicht habe, den Status Quo auf dem Tempelberg zu ändern. Der jordanische Regierungssprecher hatte Netanyahus Regierung zuvor vorgeworfen, nur vorzugeben den Status Quo halten zu wollen, ihn jedoch eigentlich unterminieren zu wollen.
Warnungen gegen eine Änderung des Status Quo kommen auch aus israelischen Sicherheitskreisen
Warnungen gegen eine Änderung des Status Quo kamen auch von profilierten Persönlichkeiten in Israels Sicherheitsapparat. Der Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Beth-Chef Yoram Cohen wies darauf hin, dass die Besuche rechter Knesset-Mitglieder auf demTempelberg dazu beigetragen haben, die Spannungen in Jerusalem zu schüren:
Die religiöse Dimension dieses Konfliktes ist sehr gefährlich, denn sie hat breite Auswirkungen auf die palästinensische Gesellschaft und auf Muslime überall in der Welt. Wir müssen alles tun, um die Ruhe wieder herzustellen.
Der Publizist und Haaretz-Autor Akiva Eldar sieht in den regelmäßigen Besuchen rechter Knesset-Mitglieder auf dem Tempelberg ein Symptom für den wachsenden Einfluss national-religiösen Gedankenguts innerhalb Netanyahus Regierungspartei Likud. Er schreibt: "Die Prostitution von Religion im Dienste nationalistischer Interessen erreicht ihren Gipfel auf dem Tempelberg."